Deutschlands Weg zur militärischen Sonne
Eine Buchrezension
Ein Autor aus dem tendenziell antideutschen Spektrum schreibt über Deutschland, die Nato und das Kosovo und den jüngsten Waffengang Deutschlands; das weckt Erwartungen, je nach Standpunkt eher freudige oder ärgerliche. Matthias Küntzel bedient diese Erwartungen nicht; vielmehr legt er eine detaillierte und materialreiche Analyse vor und vermeidet Parteinahme für einen der am Krieg beteiligten Akteure. Man mag über einzelne Bewertungen streiten, seine Argumentationslinien sind nachvollziehbar und man wird sich mit ihnen auseinander setzen müssen.
Küntzel zeichnet den Verlauf der Vorkriegsentwicklung nach, beschreibt die jeweiligen Interessen und Strategien. Dass in deren Bewertung Deutschland etwas schlechter wegkommt als Andere, ist der Tatsache zuzuschreiben, dass es nach wie vor eine der vornehmsten Aufgaben friedliebender Menschen ist, die KriegstreiberInnen des "eigenen" Landes zu kritisieren.
Zwei Ereignis- und ihnen folgend Analysestränge bestimmen die Gliederung des Buches: die Entwicklung in der Region, speziell im Kosovo, und diejenige in und zwischen den NATO-Ländern, mit Schwerpunkt Deutschland. Als Ausgangspunkt zur Betrachtung der innerjugoslawischen Ereignisse wählt Küntzel den kosovo-albanischen Aufstand von 1981, der bürgerkriegsähnliche Ausmaße hatte. Die Parteizeitung der jugoslawischen KommunistInnen sprach von einem "traumatischen Schock" und auch bürgerliche Kommentatoren tun sich bis heute mit einer Beschreibung der Ursachen schwer. Küntzel sieht den "rätselhaften Aufstand von 1981" als den "Ausgangspunkt, der die spätere Entwicklung hin zum Kosovo-Krieg erst erklärbar macht. Er hat nicht nur den serbischen Nationalismus aus seinem Dämmerschlaf geweckt, sondern auch die Gründungskader der späteren ,Befreiungsarmee von Kosovo`, kurz: UCK, maßgeblich geprägt." (S.16)
Die Verantwortung dieser beiden Hauptakteure für die weitere Entwicklung zeigt er im Folgenden entlang einer chronologischen Darstellung: Der albanische Nationalismus zielte von Anfang an auf Eigenständigkeit des Kosovo und späteren Anschluss an Albanien, auch wenn diese Option in Albanien selbst von vielen nicht geteilt wurde und wird. Ideen von "ethnischer Reinheit" gab es ebenso schon sehr früh, wie die Vorstellung, alle AlbanerInnen der Region in einem Staat vereinen zu wollen: Montenegro, (Rest-) Serbien, Bosnien, Mazedonien, Griechenland und Italien wären betroffen.
Der serbische Nationalismus (von einer starken emotionalen Verachtung für alles "Albanische" geprägt) stellte dem den Anspruch auf unbedingten Macht- und Souveränitätserhalt entgegen. Dabei entwickelte Belgrad weder vor noch nach Beginn des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawien ein Interesse an den Lebensverhältnissen im Kosovo. Solange nur die Machtverhältnisse klar waren und die AlbanerInnen sich in die subalterne Rolle begaben, die der serbische Chauvinismus ihnen zuwies, wurden sogar die doppelstaatlichen Strukturen der Rugova-Republik ignoriert, also geduldet.
Im Buch wird klar, dass in den innerjugoslawischen Abläufen ein Schlüssel für die Gesamtentwicklung liegt: "Die UCK ist keine Kreation westlicher Geheimdienste, sondern das Produkt einer speziellen Konstellation, die von den Besonderheiten des albanischen Nationalismus und der Belgrader Machtpolitik im Kosovo sowie von der operativen Starthilfe deutscher Nachrichtendienste und der Freisetzung enormer Waffenbestände in Albanien geprägt worden ist." (S.59f)
Ein neues Epizentrum
Der speziellen Rolle Deutschlands geht Matthias Küntzel im Weiteren nach. Er folgt dabei einer Metapher, die Strobe Talbott, stellvertretender Außenminister der USA und wichtiger Clinton-Berater, am 4. Februar 1999 benutzt hatte. Das war unmittelbar vor Rambouillet, und Talbott erläuterte die US-Position vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Wenn das Wohlergehen der USA auch weiterhin von der Entwicklung in Europa abhänge und sie sich bewusst sei, dass Europa sich gegenwärtig neu definiere und ordne, dann "erkennen wir die Rolle der Bundesrepublik als Epizentrum dieser Prozesse - Erweiterung und Expansion, Ausdehnung und Vertiefung - an und begrüßen sie". (S.77, Talbott direkt zitierend)
Der erdbebenkundliche Fachbegriff des "Epizentrums" ist dem Autor entscheidend: "Erdbeben sind ,großräumige Erschütterungen des Erdbodens, bei denen akkumulierte Spannungen in der Erdkruste meist plötzlich ausgeglichen werden` heißt es im Brockhaus - Naturwissenschaften und Technik. Die neue Weltordnung wird großräumig erschüttert durch Spannungen in ihrem Gefüge, die auf Grund der Konkurrenz zwischen den Großmächten und der Verschiebung von Kräfteverhältnissen ausgelöst und akkumuliert werden und die mit der Unvermeidlichkeit und der Elementargewalt eines Naturereignisses danach streben, ,meist plötzlich` ausgeglichen zu werden." (S.77) "Epizentrum" bezeichnet ebenfalls den genau über dem Erdbebenherd liegenden Ort an der Oberfläche (hier also die BRD) und deutet somit auf eine im Inneren verborgene Ursache - in Küntzels Interpretation "die unsichtbaren und unerkannten Wirkungskräfte einer Vergangenheit..., die in Auschwitz kulminierte." (S.78)
Mit vielen Fakten und Zitaten weist der Autor nach, dass deutsche Außenpolitik spätestens seit 1989/90 in der Region nicht nur kein Interesse an stabilen Grenzen zeigte, sondern im Gegenteil ethnisch-nationalistische Separation ermutigte und dabei eine deutlich antiserbische Linie verfolgte. Paradigmatisch wird der ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz zitiert: "Von allergrößter Gefährlichkeit erscheint die Reklamierung der (bedrohten) ,Stabilität` in Europa. Denn wenn einzelne Nationen in ungewollten, widernatürlichen oder aufgezwungenen staatlichen Organisationen festgehalten werden, so schafft dies alles Andere als wirkliche (friedensfähige) Stabilität." (S.93) Schon 1995 wurde in einer deutsch-albanischen Grundsatzerklärung das staatliche Selbstbestimmungsrecht der Kosovo-AlbanerInnen anerkannt, wohl wissend, dass das ohne Krieg nicht zu haben sein würde. (S.104)
Der Regierungswechsel in Deutschland im Herbst 1998 bedeutete keinerlei Bruch in der deutschen Kosovo-Politik: Am 9. Oktober 1998 bekräftigten Schröder und Fischer in Washington, niemand solle hoffen, "dass wir einen weniger entschiedenen Kurs als die bisherige Regierung fahren" werden; (S.132) am 12.10. wird der NATO-Generalsekretär autorisiert, Truppen für den Kosovo-Einsatz dem NATO-Oberbefehlshaber General Clark zu unterstellen, was am 13. Oktober geschieht. Eine Entscheidung, die drei Tage später im Bundestag bei 62 Gegenstimmen und 18 Enthaltungen nachträglich gebilligt wird. In der Folgezeit taten sich bekanntermaßen Scharping und Fischer mehr noch als Schäuble und Konsorten als Kriegshetzer hervor. Küntzel zeigt auf, dass auch in den Fachministerien auf Beamtenebene die Kontinuität gewahrt blieb.
Folgte die deutsche Kosovo-Politik also "einem klaren, in sich stimmigen Konzept: Frontstellung gegen Belgrad, Parteinahme für die Kosovo-Albaner, die eine Loslösung von Jugoslawien forderten, Orientierung auf ein gegen Serbien durchzukämpfendes NATO-Protektorat, das die Abtrennung des Kosovo vorwegnimmt," (S.139) so kann für die anderen westlichen Großmächte davon nicht die Rede sein.
Kontinuität deutscher Politik wird gewahrt
Die US-Administration war über ihr Verhältnis zum Kosovo gespalten, ihre Politik lange schwankend. Die Widersprüche wurden gelegentlich am Agieren ihrer beiden wichtigsten RepräsentantInnen nach außen, Madeleine Albright und Richard Holbrook, deutlich. Zielte das Auftreten der Außenministerin häufig auf Verschärfung und Konflikteskalation, erzielte umgekehrt Clintons Sondergesandter noch am 12. Oktober 1998 eine Einigung mit Milosevic, die die serbisch-jugoslawische Führung auch weitestgehend umsetzte. Entgegen der üblichen veröffentlichten Darstellung, die USA seien schon damals zum Krieg entschlossen gewesen, belegt Küntzel, dass im Oktober 1998 die Meinungsbildung darüber in der US-Administration noch keineswegs abgeschlossen war. Das geschah erst im November/Dezember und obwohl sich im Kosovo die Situation merklich entspannt hatte, lief nunmehr die gesamte Entwicklung auf den NATO-Krieg hin.
Obwohl auch die UCK mit einer Strategie der Spannung versuchte, das Ihre dazu beizutragen, waren dafür im Wesentlichen außerhalb des Kosovo liegende Interessen verantwortlich. Aus Sicht der USA spielt die NATO die entscheidende Rolle, um ihre Präsenz in allen für sie relevanten Bereichen der europäischen Politik zu sichern. Auch die Demonstration der eigenen militärischen Überlegenheit über die Partner, die ja auch Konkurrenten sind, ist bedeutsam. Schließlich gab es schon spätestens seit dem 2. Golfkrieg ein Interesse an einer selbstdefinierten und (auch und gerade vom UN-Sicherheitsrat) unkontrollierten Verfügungsmacht über dieses wichtige Instrument US-amerikanischer Außenpolitik. Dieses ließ sich in der speziellen Situation des Kosovo leicht als gemeinsames NATO-Anliegen inszenieren.
Die formal gemeinsam getroffenen NATO-Ratsentscheidungen vom 12./13. Oktober 1998 hatten gezeigt, dass die USA in der Lage und bereit waren, militärische Aktionen auch außerhalb des alten NATO-Gebietes zu unternehmen und dass sie dazu den UN-Sicherheitsrat nicht brauchten. Ein Interesse, das sich durchaus mit dem der BRD deckte, aber in Widerspruch zu Frankreich und Großbritannien stand.
Kampf der Giganten
Darauf hatten diese beiden am 4. Dezember 1998 öffentlich reagiert: In der Erklärung von St. Malo forderten sie eigene, von der NATO unabhängige militärische Kapazitäten der EU. Als Atommächte wäre innerhalb einer EU-Militärmacht ihr bisheriger Vorsprung vor der BRD wieder hergestellt gewesen. Aber es wurde auch "die mit der Einführung des Euro sich zuspitzende ökonomische Rivalität (zwischen EU und USA - Anm. WR) hierdurch auf die Ebene militärischer Machtbeziehungen ausgedehnt." (S.149) Schon in dieser Erklärung wird der Einsatz "irgendwo im ehemaligen Jugoslawien" als möglicher Ort für eine eigene militärische Einheit der EU genannt.
In den Tagen von Rambouillet schien es zeitweilig, als hätten Briten und Franzosen erkannt, dass ein Krieg in Jugoslawien US-amerikanischen und deutschen Interessen eher nützen könnte als ihren eigenen. Aber wie sagte Rudolf Scharping am 25. Februar 1999 vor dem Bundestag wohl auch in ihre Richtung gewandt: "Wer eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik fordert, darf sich nicht abseits stellen, wenn im europäischen Namen und europäischen Idealen entsprechend gehandelt wird." (S.153)
So waren die Interessen der vier wichtigsten Länder der NATO aus je eigenen Gründen und in einem komplizierten Geflecht von Widersprüchen und Übereinstimmungen gleichermaßen auf den Krieg im Kosovo gerichtet. Dass der spezifische deutsche Bündnispartner in der Region, der albanische Nationalismus, dieses Ziel teilte, war ein Vorteil für die BRD. Ihr alleiniges oder hauptsächliches Produkt war der Krieg nicht, aber er entsprach ihrem Interesse, nicht zuletzt, weil er es ihr ermöglichte, auf die militärisch-politische Großmachtebene zurückzukehren, ohne sich zu isolieren. "Der Krieg gegen Jugoslawien (hat) Deutschland einen Platz an der Sonne verschafft", resümiert Matthias Küntzel, "und damit zugleich den Schattenumriss ausgeweitet, den das völkische Element der deutschen Außenpolitik auf die künftigen Entwicklungen Osteuropas wirft." (S.205)
War der Krieg also ein "Übergangskrieg..., der sich in dieser Konstellation kaum je wiederholen wird" (S.201) und hat er auch einen Beitrag zur "Neuordnung" der Beziehungen unter den Großmächten geleistet, (S.202) so sind seine Konsequenzen und Folgen doch in vielem noch nicht absehbar. Sicher ist, dass er nicht nur keinen Beitrag zur Zivilisierung der internationalen Beziehungen leistete, wie es uns gerade in Deutschland verkauft wurde, sondern man wird Matthias Küntzels pessimistischer Prognose zustimmen müssen, dass er ein schlechtes Beispiel war, dem andere folgen werden.
Werner Rätz, Bonn
Matthias Küntzel
Der Weg in den Krieg
Deutschland, die Nato und das Kosovo
Elefanten Press, Berlin 2000
256 Seiten, 34,90 DM