Atomstromboykott-Kampagne: Chancen und linke Kritik
Auf der Anti-AKW-Konferenz Ende März wurde erstmals über eine Kampagne zum Atomstromboykott diskutiert (vgl. ak 437). Inzwischen wird in Hamburg an der öffentlichen Umsetzung einer solchen Kampagne gearbeitet. Über die Ziele und Chancen der Kampagne und auch über die vermeintlich "linke" Kritik geht es im folgenden.
In der öffentlichen Auseinandersetzung um den Ausstieg aus der Atomenergie ist von der Anti-AKW-Bewegung fast nichts zu sehen. Den wahrnehmbaren linken Rand der Debatte um Konsens und Restlaufzeiten markieren derzeit immer noch die Grünen. Seit dem Stopp der Castor-Transporte (Mai 1998) hat die Bewegung den öffentlichem Raum weitgehend verloren. Fast überall waren die Gruppen und Initiativen über Jahre hinweg mit der Vorbereitung von Aktionen gegen diese Transporte voll ausgelastet und die Mobilisierungserfolge in Gorleben und Ahaus gaben ihr bei der Schwerpunktsetzung auch weitgehend recht. Spätestens seit dem Antritt der rot-grünen Bundesregierung dämmert es aber immer mehr, dass Atomausstiegspolitik nicht lediglich in der Aktionsmobilisierung bestehen kann. Die letzte Anti-AKW-Konferenz in Mülheim an der Ruhr Ende März hat gezeigt, dass viele den Ernst der Lage erkannt haben. Die in Mülheim selbst gestellte Aufgabe lautet: "Die Anti-Atom-Bewegung muss eine radikale Kritik am Konsensnonsens organisieren, öffentlich zuspitzen und gegenüber den Grünen konfrontativ auftreten, um die Definitionsmacht über das was Atomausstieg wirklich bedeutet, zurückzugewinnen: Stilllegung aller Atomanlagen, sofort, weltweit."
Öffentliche Stromversorgung ohne Atom
Das ist nicht gerade wenig und Vorschläge, wie dies machbar ist, liegen kaum auf dem Tisch. Doch genau in diese Kerbe will die aus Hamburg initiierte Kampagne für einen Atomstromboykott schlagen.
Unmittelbares Ziel einer Atomstromboykott-Kampagne ist es, die öffentliche Stromversorgung in Städten und Gemeinden künftig atomstromfrei zu bekommen. Fast überall in der Republik sind die örtlichen Rathäuser dafür zuständig, die Stromverträge für die öffentlichen Einrichtungen angefangen von den Verwaltungen über die Schulen bis hin zu Kindergärten oder Krankenhäuser abzuschließen. Auf Grund der Liberalisierung der Strommärkte ist heute jede Kommune in der Lage, den Stromlieferanten frei zu wählen. Damit haben diese ein einfaches ökonomisches Instrument in der Hand, um über die Nutzung oder eben Nicht-Nutzung von Atomstrom zu entscheiden.
Der Ausstieg aus der Atomstromversorgung bedeutet zwar nicht, dass AKWs direkt abgeschaltet werden. Dafür ist der Anteil der Städte und Gemeinden am gesamten Stromverbrauch viel zu gering. Aber eine politische Auseinandersetzung über eine atomstromfreie Versorgung der öffentlichen Einrichtungen kann einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Gefahren der Atomenergie darstellen und ermöglicht eine intensive öffentliche Auseinandersetzung mit der katastrophalen Konsens-Politik der rot-grünen Bundesregierung.
Grüne sichern Versorgung mit Atomstrom
Dabei bietet eine solche Kampagne vielfältige Ansatzpunkte. Denn es geht nicht nur um eine Auseinandersetzung mit den lokalen Parteien. Auf Schulversammlungen, Lehrerkonferenzen, Mitarbeiterversammlungen können entsprechende Anträge eingebracht werden, die die jeweiligen Leitungen auffordern, die bestehenden Atomstromverträge zu kündigen und durch andere zu ersetzen. Kann die jeweilige Einrichtung dies nicht in eigener Regie, dann muss sie sich gegenüber den jeweiligen Dienststellen der Stadt für eine Kündigung der Verträge einsetzen. Vor dieser Kulisse dürfte es also jede Menge Anlässe und Möglichkeiten geben, über den Atomausstieg intensiv zu debattieren. Denn zu erwarten ist, dass derartige Anträge zum Atomstromausstieg keine Selbstgänger sein werden. Ohne Frage wird es angesichts leerer Haushaltskassen um die Kosten für einen Atomstromboykott gehen oder werden etliche Hinweise auf die Berliner Ausstiegspolitik erfolgen, um die bestehenden Atomverträge weiter laufen lassen zu können. Für hitzige und anregende Debatten dürfte also gesorgt sein.
Manche mögen sich an die Kampagne für "Atomwaffenfreie Zonen" Anfang der 80er Jahre erinnert fühlen. Das ist im wesentlichen richtig. Allerdings bietet der Atomstromboykott einen gewichtigen Schritt zusätzlich. Die Kommunen können sich nicht nur erklären, sondern können in diesem Fall eben auch echt entscheiden und den Atomstromunternehmen ökonomisch weh tun.
Aktivitäten für einen solchen Atomstromboykott sind vor allem lokaler Natur und unabhängig von Anlässen wie Castortransporten. Jede und jeder kann sich in eine solche Auseinandersetzung einmischen.
Eine solche Kampagne wird heute durch die Liberalisierung der Strommärkte möglich, da diese die bislang bestehenden Monopolgebiete für die Stromversorger aufgelöst hat. Eben dieser Kontext sorgt aber vor allem aus autonomen Kreisen auch für Kritik an der Kampagne. In der Mülheimer Abschlusserklärung heißt es: "Eine Atomstrom-Boykott-Kampagne bleibt widersprüchlich, weil sie sich positiv auf die Ideologie des Neoliberalismus bezieht. Sie ist naiv, weil sie den Spielraum von z.B. Kommunen angesichts leerer Kassen und angesichts des Konzentrations- u. Zerstörungspotenzials eines entfesselten Energiemarktes überschätzt."
Richtig ist, dass eine solche Kampagne ohne die Liberalisierung des Strommarktes nicht denkbar wäre. Ob dass allerdings ausreicht, einen "positiven Bezug" herzuleiten, bleibt mehr als fraglich. In dem Aufrufflugblatt für die Hamburger Kampagne heißt es: "Die Einführung des Wettbewerbs (im Strommarkt) führt zu erheblichen ökologischen und vor allem auch sozialen Problemen. Die Folgen von Billigstrom und Kostendruck sind eben auch Arbeitsplatzabbau, Erhöhung der Arbeitsbelastung für die verbleibenden MitarbeiterInnen.
Ökologische Folgen: Der enorme Kostendruck in Folge der Liberalisierung bedroht auch die Umweltstandards. Notwendige Nachrüstungen werden verschoben, Wartungsarbeiten und Qualitätskontrollen unter erheblichen Zeitdruck erledigt. Dieser ökonomische Druck kann zur Folge haben, dass Anlagen immer länger laufen, ihre Technik und Sicherheit aber immer älter wird. Schwere Unfälle werden dadurch immer wahrscheinlicher.
Soziale Folgen: Daraus erwachsen auch Belastungen für die öffentliche Haushalte, denn in der Folge von Stellenabbau steigt auch die Arbeitslosigkeit und dann auch die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen. Die zu Billigstrom (und privaten Kostenentlastungen) führende Privatisierung und Einführung des Wettbewerbs wird so zu höheren Lasten für die Haushalte führen. Nur eine Hand voll von Unternehmen wird von dieser Entwicklung dauerhaft einen Vorteil haben."
Politikfähigkeit in Castorlosen Zeiten
Ausdrücklich soll im Rahmen einer Atomstromboykott-Kampagne also auch über die negativen Folgen der Liberalisierung der Strommärkte debattiert werden. Insofern ist sich die Atomstromboykott-Kampagne durchaus der Problematik bewusst. Doch davon ungeachtet ist der Vorwurf eines "positiven Bezugs" eher ein Totschlagargument. Denn es ist im Kern gar nicht erkennbar, was diese Kritik eigentlich will. Soll diese Kritik eine politische Warnung sein, in Gottes Namen nicht der Ideologie des Neoliberalismus zu verfallen und den Stromanbieter zu wechseln. Soll man also lieber bei den alten Atomstromern bleiben? Wohl kaum. Denn immerhin ist diese Liberalisierung nun einmal Wirklichkeit und wird sogar von vielen Menschen privat und praktisch umgesetzt. Und ich kann auch nichts schlechtes daran entdecken, wenn möglichst viele Menschen sich von den Atomstromkonzernen verabschieden und ihre Steckdosen auf sauberen Strom schalten. Das kann man gut finden und dennoch die sozialen und ideologischen Folgen der Liberalisierung kritisieren.
Gefährlich wird es, wenn in der Abschlusserklärung die Atomstromboykott-Kampagne als "naiv" bemängelt wird, weil "sie den Spielraum von z.B. Kommunen angesichts leerer Kassen und angesichts des Konzentrations- u. Zerstörungspotenzials eines entfesselten Energiemarktes überschätzt." Überträgt man dieses Argumentationsmuster mal auf andere Konfliktfelder, z.B. auf die Debatte um Sozialhilfe und deren Anhebung oder die Aufnahme von Flüchtlingen in den Kommunen, dann wird schnell klar, wie absurd dieser Vorwurf ist. Mit dem Hinweis auf die leeren Kassen dürfte dann künftig kein Autonomer oder auch keine Flüchtlingsinitiative die armen Kommunen mit Forderungen belasten, zumal die nicht nur kein Geld haben, sondern darüber hinaus auch die Fluchtursachen in Form eines entfesselten Kapitalismus nicht wirklich beseitigen können. Ein solcher Einwand hat mit linker Politik nicht sonderlich viel zu tun. Das klingt eher wie eine Argumentation von Grünen, Sozialdemokraten oder gar der CDU, frei nach dem Motto: "Wir können ja nicht alle Probleme der Welt hier vor Ort lösen."
DSe