Wir holen uns, was uns zusteht
Soziale Aneignungsbewegung in Hamburg
Kein Schwarzfahrer-Kongress ohne Verweis auf subversive Aneignungstraditionen. Von den Rote-Punkt-Aktionen Anfang der 70er Jahre bis zu den Nulltarif-Kampagnen der Schwarze-Katze-Gruppen in den 80ern: Schwarzfahren war immer auch ein Synonym für direkte offene und politische Widerstands- und Aneignungskonzepte. Der "Kongress der Schwarzfahrer" auf Kampnagel hat diese Traditionen mit berücksichtigt. Wir dokumentieren hier einen Redebeitrag, der an die Politik der Hamburger Jobber- und Erwerbsloseninitiativen in den 80er Jahren erinnert.
Ende der 80er war ich politisch im Rahmen der Hamburger Jobber- und Erwerbsloseninitiativen aktiv, im Zusammenhang der sog. "Schwarze Katze"-Gruppen, benannt nach dem Symbol der schwarzen Katze auf rot-schwarzem Grund. Im Rahmen der heutigen Veranstaltung will ich ein bisschen von dem politischen Ansatz und der Praxis dieser Gruppen erzählen. Und zwar nicht nur, weil es so schön ist, sich an frühere bewegungsreichere Zeiten zu erinnern, sondern weil ich denke, dass manches von dem, was damals gemacht worden ist, auch heute brennend aktuell ist. Der Titel meiner kleinen Erzählung lautet "Wir holen uns, was uns zusteht. Soziale Aneignungsbewegung in Hamburg"
Die Jobber- und Erwerbsloseninitiativen waren ein politischer Selbstorganisationsansatz, der die verschlechterten Lebensbedingungen seit den 80er Jahren zum Ausgangspunkt hatte. Während hier und in anderen Städten Leute Häuser besetzten, machten die Jobber die Bedingungen zum Thema, unter denen hier das alltägliche Einkommen und Leben organisiert werden musste. Die Schwarze Katze-Gruppen haben auf allen möglichen Ebenen für ein besseres Leben für alle gekämpft, für ein unteilbares Existenzrecht unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Altern oder Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben uns dagegen gewehrt, dass gesunde Nahrung, Wohnen, Gesundheit, Kultur, Freizeit, Sport usw. in dieser Gesellschaft nur als Waren gekauft werden können. Wir haben uns dagegen gewehrt, dass die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse eine Frage des Geldbeutels sein soll. Wir haben uns dagegen gewehrt, dass Menschen mit geringem Einkommen mangels Kaufkraft nur als Menschen zweiter Klasse gelten sollen.
Wer kein Geld hat, erwerbslos ist, in Billig-Lohn-Klitschen schuften muss, wer alt und pflegebedürftig oder UmschülerIn ist, der und die wird von wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen: Für sie und ihn gibt es nur die kleinsten, dunkelsten und feuchtesten Wohnungen, die wenigsten Grünflächen, das ungesündeste Essen und die schlechteste Arbeit. Teure Preise in den öffentlichen Verkehrsmitteln verurteilen Einkommenslose und GeringverdienerInnen zu Immobilität und Isolation. FreundInnen zu besuchen, kann zum unerschwinglichen Luxus werden. Kino, Theater, Oper sind Kulturgüter, die allein auf Grund der hohen Eintrittspreise für viele unerreichbar sind. Schwimmbäder und Sauna, Bücherhallen, Zoo-Besuche, alles Dinge, die für Erwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen und ihre Familien nur möglich sind, "wenn Oma zahlt". "Tatsache ist, dass schon ein stinknormaler Alltag für uns teuer wird", hieß es 1985 in einem Flugblatt der Koordination Hamburger Jobber- und Erwerbsloseninitiativen.
Schwarze Katze gegen grauen Alltag
Das, was die Jobber- und Erwerbsloseninitiativen in Hamburg und überregional bekannt gemacht hat, waren direkte Aneignungsaktionen, mit denen das Recht auf eine menschenwürdige Existenz hier und heute umgesetzt werden sollte: Nicht bitten und betteln, sondern Widerstand leisten, hieß die Strategie, "Wir nehmen uns, was wir brauchen", war die Parole.
"Nulltarif in allen öffentlichen Einrichtungen, bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, in Schwimmbädern, Kantinen, in Theatern und Kinos, in Bücherhallen und Pop-Konzerten. Für eine abgesicherte Existenz mit garantiertem Einkommen, gegen die Bedürftigkeits- und Zumutbarkeitsregelungen des Sozial- und Arbeitsamtes." Das waren die Forderungen der Hamburger Jobber- und Erwerbsloseninitiativen am ersten Nulltarif-Aktionstag im November 1984. Doch entscheidend war nicht so sehr, dass diese Forderungen aufgestellt wurden. Viel wichtiger war, dass sie - zumindest punktuell und demonstrativ - auch durchgesetzt wurden.
Schwarzfahren heißt hochoffiziell "Leistungserschleichung". Unser Konzept war das krasse Gegenteil von "Leistungserschleichung". Das Konzept der Jobber hieß offensive und kollektive Aneignung. (Natürlich ist nebenher und quasi privat auch konventionell schwarzgefahren und eingeklaut worden, genauso wie Stromklau oder Versicherungsbetrug zum Alltag der subversiven JobberInnen gehört hat.) Wenn die Jobber im Rahmen von Nulltarif-Aktionen "schwarzgefahren sind", so hieß das, das 20, 30, 50 und mehr Leute mit Kind und Kegel, mit Transparenten und Flugblättern ohne zu bezahlen mit U- und S-Bahn gefahren sind. Es hieß, dass wir mit gezielten Regelverletzungen offen demonstriert haben, dass teure Fahrscheine eine Zumutung darstellen, die wir uns nicht gefallen lassen. "Fahrgeld ist Bargeld" hieß es damals. Das hieß auch, dass Flugblätter mit Tipps im Umgang mit Kontrolleuren verteilt wurden: Wie erkennt man sie, wie warne ich Mitreisende, wie entziehe ich mich einer Kontrolle, und wenn ich einen Fahrschein habe, wie sorge ich dafür, dass andere SchwarzfahrerInnen entkommen können. Für uns war also selbst ordinäres Schwarzfahren mehr als ein bloß individuelles Verhalten, sondern ein kollektiver Prozess: "Kommunikation ist Sabotage."
Aber der Slogan "Wir nehmen uns, was wir brauchen" galt nicht nur für die öffentlichen Verkehrsmittel. In der Nulltarif-Aktionswoche vom 7.-12. Oktober 1985 gab es spektakuläre kostenlose Besuche in Kinos, im Schauspielhaus, bei einem Udo Lindenberg-Konzert, in Schwimmbädern und bei Hagenbecks Tierpark. Immer hieß es "Vorwärts und nicht bezahlen!" Immer waren es viele Menschen, die mit Transparenten und Flugis ihr Anliegen offen erklärt und propagiert haben. Immer ist im Vorfeld zu diesen Aktionen mobilisiert worden. Und immer ist das Vorgehen offen diskutiert und geplant worden, inklusive der eventuelle Umgang mit der Polizei.
"Wir, Erwerbslose, Zivildienstleistende, Auszubildende, Schüler und Rentner gehen heute umsonst ins Theater. Auch wir wollen am kulturellen Leben teilhaben, können es uns aber wegen der Höhe der Eintrittskarten nicht leisten. Das nehmen wir nicht hin!" lautete die Erklärung für den kostenlosen Besuch beim Hamburger Schauspielhaus. Peter Zadek hatte mit der "Herzogin von Malfi" Premiere. Im Vorfeld ist nicht nur darüber geredet worden, dass auch wir uns das Recht nehmen, uns eine solche Aufführung anzusehen. Es wurde auch sehr heftig darüber gestritten, welche Art von Kultur wir eigentlich wollen, welche Art von Kulturbetrieb hier eigentlich öffentlich subventioniert wird: "Wir wollen uns nicht vorschreiben lassen, wie oft wir ins Theater gehen können, sondern es selbst bestimmen. Gerade der bürgerliche Kulturbetrieb (Oper, Schauspielhäuser) bekommt Millionen von Subventionen vom Hamburger Senat. Wir fordern subventionierte Eintrittskarten, d.h. kostenlose Eintrittskarten für sämtliche Kulturbetriebe, d.h. vom Abaton (Hamburger Programmkino, ak) über Kampnagel bis zur Oper. Wir fordern eine stärkere Subventionierung der Kultur, die uns angeht, z.B. der Stadtteilkultur."
Bis zum Ende der Jobber- und Erwerbsloseninitiativen in Hamburg Anfang der 90er Jahre hat es immer wieder solche offenen und direkten Aneignungsaktionen gegeben. Und heute wären sie wichtiger und notwendiger denn je. Just zu Beginn der Freibad-Saison sind in Hamburg wieder mal die Preise in den Schwimmbädern erhöht worden, die nächste HVV-Preiserhöhung ist bereits angekündigt. Bücherhallen und öffentliche Bäder werden geschlossen.
Nicht bitten und nicht betteln
Nun, offenbar ist die Jobber-Tradition nicht völlig verschwunden. Anlässlich der HVV-Preiserhöhungen im letzten Jahr hat die Sozialpolitische Opposition (ein Zusammenschluss von über 100 sozialpolitischen Initiativen und Einrichtungen in Hamburg, ak) eine Nulltarifaktion in der S-Bahn durchgeführt. Und während der Erwerbslosenprotesttage des Jahres 1998 gingen die Erwerbslosen der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg "französisch einkaufen". "Mundraub in der City" lautete die entsetzte Überschrift des lokalen Hunte-Reports. In einer großen Plus-Filiale wurden mehrere Einkaufswagen voll geladen und durch die Kassen geschoben, mit einem fröhlichen "bezahlt wird nicht" auf den Lippen. Nach Rücksprache mit der Konzernleitung akzeptierte die Oldenburger Filiale den kostenlosen Einkauf, "Hauptsache, ihr macht das jetzt nicht ständig". Das anschließende Straßenfest mit 300 Leuten soll orgienhafte Ausmaße angenommen haben, aber vielleicht haben die Oldenburger Freunde da auch übertrieben. Wie dem auch sei, das Bedürfnis nach Straßenfesten gibt es immer noch, auch in Hamburg. Und Plus-Märkte gibt's hier mehr als in Oldenburg.