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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 439 / 8.6.2000

Alles verändert sich

Mein Name ist Mensch, als brasilianischer Samba live aufbereitet und mit so viel Schwung dargeboten, dass man nicht nur gleich loshüpfen wollte, sondern auch noch völlig überrascht zuhört. Das war irgendwie nicht zu erwarten. Auf der brandneuen CD Neues Glas gibt es eine schöne Auswahl neuer Fassungen der Songs von Ton Steine Scherben und Rio Reiser. Die Erwartung war klar: Das kann nicht gut gehen. Ton Steine Scherben kann man nicht nachmachen, - und schon gar nicht Rio Reiser. Aber genau das macht Neues Glas aus alten Scherben auch nicht. Die Band ist derart eigenwillig bei der Sache, dass man nach wenigen Sekunden neu zuhört, nur noch hin und wieder mal kurz nachsinnt, wie das denn auf dem Original klang. Stattdessen drängt sich immer mehr das Gefühl auf, wie verdammt lebendig und aktuell das ganze ist. Und vor allem: an Glaubwürdigkeit hat das ganze nicht die Bohne verloren. Das liegt sicher nicht nur daran, das Neues Glas mit einigen alten Scherben daher kommt. Die Musik ist kompakter und rockiger. Die wohl schwierigste Aufgabe, die Stimme, das Herz, die Seele und die Botschaft von Ton Steine Scherben - also Rio Reiser - zu ersetzen, an ihm vorbei zu singen, ihn "vergessen" zu machen, löst Michael Kiessling. Das macht er auf seine eigene Art und ohne den Versuch, Rio Reiser zu kopieren. Eigenwillig und mit tiefem Bass bringt er Stücke wie Wenn die Nacht am tiefsten, Wann, oder Land in Sicht rüber. Spätestens wenn die Band Der Traum ist aus unverzagt und mit einer unglaublichen Power abliefert, kommt man nicht umhin, den Namen der Band auch programmatisch zu verstehen.

Neues Glas aus alten Scherben hat kaum etwas, eigentlich gar nichts mit sentimentalen Erinnerungen an längst vergangene Tage, Nächte und Kämpfe zu tun (weiß du noch ...). Die Stücke sind heute und hier neu gemacht und sie haben was mit den heutigen Befindlichkeiten und der Suche nach einem Standort und einer Perspektive zu tun. Nicht anders kann es sein, wenn Mischka im März 2000 über die 99er Konzerte und deren Ablauf berichtet: "Sie boten uns Abend für Abend die Chance, ein Publikum zu erreichen, wie man es sich bunter kaum vorstellen kann - vom Alter her wie auch von den Wünschen und der Art, diese lautstark oder verhalten zu artikulieren. Oft genug waren die Konzerte Auslöser für lange Gespräche und so war nach den letzten Zugaben selten wirklich Schluss ..." Das genau macht es doch interessant.

Kiessling hat es scheinbar sowieso ein wenig mit dem Existenziellen. In einer Bar-Revue mit Texten von Charles Bukowski und Songs von Tom Waits ist er seit einiger Zeit ebenfalls unterwegs (gibt es auch auf CD, Infos: http://www.bukowski-waits.de). Und die taz weiß zu berichten: "Sänger Michael Kiessling flüstert, würgt, röhrt die Song- Texte aus einem schmalen Körper, wie es Tom Waits nicht besser könnte. Da ist zusammengewachsen, was längst zusammen gehört." Es lohnt sich wirklich, einen Abend der CD zu lauschen und zu erleben, wie aus alten Scherben neues Glas entsteht.

Keine Macht
für Niemand

Wer noch mal tief in die Geschichte und Welt von Ton Steine Scherben eintauchen möchte, der kann dies nun mit einem Buch vor der Nase anfangen. Bassist Kai Sichtermann hat sich mit etwas Unterstützung daran gemacht, sämtliche Etappen der Geschichte der Band detailliert aufzuzeichnen und das unter dem Titel Keine Macht für Niemand. Dabei hat er mit vielen der damals im Umfeld der Scherben Aktiven Interviews und Gespräche geführt, die teilweise auch in dem 320 Seiten-Wälzer veröffentlicht werden. Neben vielen kleinen amüsanten Geschichtchen und Episoden in den Scherben-Jahren zwischen 1970 und 1985, den Stationen und Veränderungen von Berlin bis Fresenhagen blättert Sichtermann ein elementares Stück linker Geschichte auf. Nicht so sehr im politischen Kontext, sondern vielmehr als persönlich Beteiligter, der mit Georg von Rauch, mit Anne Reiche oder Thomas Weißbecker zu tun hatte, der am Rande der RAF und der Bewegung 2. Juni seine Musik machte und mit den Scherben mitten drin in der Hausbesetzerszene, der Lehrlingsbewegung stand.

Immer wieder geht es auch um das liebe Geld, das immer fehlte und das am Ende das Ende der Scherben besiegelte. Aus heutiger Sicht ist es irgendwie nur noch schwer nachvollziehbar, dass es innerhalb der Linken als unanständig galt, wenn eine Band von ihrer Musik leben und also Geld verdienen wollte. Die Beschaffung einer neuen Anlage, die die Band heimlich still und leise quasi als Kommandoaktion durchführen musste, um linke Kritik nicht aufkommen zu lassen, ist schon irgendwie beklemmend. Aber, und das sollte man sicher nicht übersehen, ohne diese Linke, ohne diese Aufbruchstimmung, ohne diese Gefühl von solidarischer Verbundenheit (auf der einen Seite) wären die Scherben sicher nicht die Scherben geworden und vermutlich hätten sie sich nie kennen gelernt.

Schade nur, dass Kai Sichtermann Bassist ist. Der ist als ruhender Pol - keine Frage - unverzichtbar und ein Bassist der das nicht ist, wäre keiner. Aber als Autor ist das etwas anderes. Immer wieder klingt das doch ein wenig zu sehr drüber stehend, ein wenig zu distanziert. Mag sein, dass das auch daran liegt, dass die Geschichte der Scherben von einem direkt Beteiligten häufig in der dritten Person erzählt wird. Dadurch verliert sie etwas und es wäre sicher besser gewesen, hätte Sichtermann auf Mitautor Jens Johler gehört, der ihm die Ich-Form vorgeschlagen hatte, aber an Kais Widerstand scheiterte. Das Buch macht anschaulich, dass die Scherben mehr als nur eine "Familie" waren (und sind) und mehr als nur die Summe der jeweils beteiligten Personen. Doch die etwas steife Erzählweise wirkt manchmal, als wäre Kai Sichtermann nicht wirklich mittendrin, sondern nur dabei gewesen. Aber das spricht keine Sekunde dagegen, sich den Schmöker für den bevorstehenden Urlaub zu beschaffen und sich mit einem schönen Glas Rotwein oder einem Joint auf eine Reise zu begeben.

DSe

Die CD Neues Glas aus alten Scherben Live kann man entweder über das Rio Reiser Archiv oder über BuschFunk-Vertriebs GmbH, Rodenbergstr. 8, 10439 Berlin (tel: 030-446511000) zum Preis von 27 DM plus Versandkosten bestellen. Das Buch Keine Macht für Niemand von Kai Sichtermann, Jens Johler und Christian Stahl ist erschienen beim Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag und kostet 29,80 DM. Infos zu Rio Reiser, Ton Steine Scherben und Neues Glas aus alten Scherben gibt es im Internet: www.neues-glas.com/,
www.rioreiser.de/index_1.html, www.tonsteinescherben.de