Soziale Grundrechte sind Menschenrechte
Zur Diskussion um eine emanzipatorische Sozialstaatskritik
"Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich" hieß ein Thesenpapier der dem damaligen Sozialistischen Büro nahe stehenden Widersprüche-Redaktion aus dem Jahre 1984. Damals ging es darum, was emanzipatorische Sozialpolitik vor dem Hintergrund der Kohl'schen Wende heißen könnte und damit auch darum, welche Position undogmatische Linke und SozialistInnen zum Sozialstaat entwickeln sollten. Heute, angesichts eines rot-grünen autoritären Neoliberalismus, ist diese Frage aktueller denn je.
Für den linken, staatsorientierten Mainstream, wie er sich sowohl aus der sozialdemokratischen wie auch aus der parteikommunistischen Strömung der (deutschen) ArbeiterInnenbewegung ins Hier und Jetzt hineingerettet hat, ist "der Sozialstaat" nach wie vor in erster Linie eine "Errungenschaft der ArbeiterInnenbewegung". Der "Kampf gegen den Sozialabbau" konzentriert sich daher auf die drastischen finanziellen Einschnitte und die "Verteilungsungerechtigkeit". Sozialpolitik wird so auf eine reine Verteilungsfrage verkürzt, das institutionelle wie ideologische Rahmenwerk des Sozialstaats bleibt unhinterfragt. Insofern beinhaltet das alte SB-Motto auch eine heilsame Provokation: Die These nämlich, dass der bisherige Sozialstaat keineswegs etwas per se "Gutes" ist, was unbedingt verteidigt werden müsse. Gerade die Fokussierung linker Abwehrkämpfe auf die finanzielle Austrocknung der sozialen Sicherungssysteme vernachlässigt nämlich, dass der traditionelle Sozialstaat auch ein System bürokratischer Strukturen, ein System von Demütigung und Ausgrenzung und nicht zuletzt auch ein System der mehr oder weniger offenen Repression gewesen ist.
Die Verteidigung sozialer Sicherungsansprüche, die Verteidigung von Einkommensansprüchen und kollektiver, gesamtgesellschaftlich organisierter Sicherungssysteme muss verbunden werden mit einer gleichzeitigen Sozialstaatskritik. Eine solche Kritik meint dabei nicht nur die materialistische Analyse von Staats- und Sozialstaatsfunktionen für das Kapitalverhältnis und den Antagonismus von Kapital und Arbeit. Mit Sozialstaatskritik ist hier vor allem die Konstruktion einer Art "moralischer Ökonomie" gemeint, der Entwurf von Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen, die als moralischer Maßstab sowohl für die Kritik der vorhandenen gesellschaftlichen Zustände als auch für Befreiungsperspektiven dienen können. Der Schlüssel und Orientierungspunkt dafür ist die umfassende, unbedingte und unteilbare menschenwürdige Teilhabe am und Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens. Das schließt die Sicherung der materiellen Voraussetzungen - etwa Einkommen - genauso ein wie die Wahrung von individueller Autonomie, Selbstbestimmung, persönlicher Integrität und Integration.
Vom Recht
zur Pflicht
Der Sozialstaat ist Ausdruck eines Klassenkompromisses, der zumindest in Deutschland durchaus teuer erkauft worden ist. Von Anfang an zerfällt hier Sozialstaatlichkeit in eine "Arbeiterpolitik" zur engeren Reproduktion der Ware Arbeitskraft mit den bekannten Sozialversicherungssystemen als Kernelementen und in "Armenpolitik", die fürsorgliche Belagerung der "Unproduktiven".
Nicht nur, dass diese Konstruktion auch mit einer Zwangsverstaatlichung ehemals autonomer Selbsthilfekassen der organisierten ArbeiterInnenbewegung verbunden war; als konstitutiver Kern unterliegt dem Sozialstaatsprinzip seit Bismarck die Verknüpfung von Leistungs- und Pflichtgedanken. Es war ein Teil des Kompromisshaften, dass daneben in der Sozialstaatsidee auch Gleichheitsvorstellungen und Gedanken einer kollektiven, gesamtgesellschaftschaftlich-solidarischen Verantwortung für die soziale Sicherung aller existierten. Bei aller Kritik hat etwa die Sozialhilfe lange Zeit die Rolle eines unantastbaren Existenzminimums gespielt, das niemandem vorenthalten werden durfte.
Heute, wo überall das Subsidiaritätsprinzip beschworen wird, wird der Pflichtgedanke gegenüber den Gleichheitsmomenten in unerträglicher Weise aktiviert. Gestärkt wird die Produktivitäts- und Leistungsorientierung, die Legitimität von "arbeitsfreien" Einkommen wie Krankengeld, Rente, Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe wird untergraben. Der heutige "aktivierende Sozialstaat" perfektioniert diesen Gedanken, europaweit. Er schafft damit soziale Ansprüche als Grundrechte ab. Menschenwürdige soziale Sicherung ist kein Recht mehr, sondern muss sich verdient werden. Keine Leistung ohne Gegenleistung, staatliche Transfereinkommen wie Arbeitslosen- und Sozialhilfe gelten plötzlich als "Lohn" für zu erbringende Arbeitsleistungen.
Klaus Dörner, der ehemalige Leiter des Landeskrankenhauses Gütersloh und Wegbereiter der Psychatrie-Reform in Deutschland, hat sehr eindrucksvoll gezeigt, dass die "soziale Frage" in der bürgerlichen Gesellschaft immer die Frage danach gewesen ist , wie mit denjenigen zu verfahren sei, die unter den Prämissen und Normen der Kapitalverwertung "nicht zu gebrauchen" sind. Und bürgerliche Wohlfahrt, einschließlich aller Sozialstaatlichkeit, ist immer die Antwort auf diese Frage gewesen. Ihr Klientel sind diejenigen, die den Normen von Arbeit, Produktivität und Leistung nicht oder nicht mehr genügen können oder wollen: Alte, Behinderte, Kranke, Erwerbslose, DrogenkonsumentInnen, BettlerInnen usw. Sie werden als "gefährliche Klassen" oder "Problemgruppen" definiert, vom gesellschaftlichen Kern abgespalten und einer ganzen Bandbreite gesonderter Maßnahmen unterzogen. Dort werden sie entweder "produktiv" oder aber unsichtbar gemacht. Zwischen Wegsperren, polizeilicher Vertreibung und anderen Formen des polizeilich-repressiven Kontroll- und Ausgrenzungsarsenals einerseits und sozialpolitischen Maßnahmen zur Befriedung und Unsichtbarmachung von Armut und "Auffälligkeit" andererseits gibt es dabei durchaus fließende Übergänge.
Soziale und gesellschaftliche Alternativen springen also zu kurz, wenn sie nur den Sozialabbau kritisieren. Nicht nur, dass damit heute leicht das verteidigt wird, was gestern noch kritisiert worden ist. Viel entscheidender ist, dass die grundsätzlichen Strukturen von sozialer Kontrolle und Ausgrenzung völlig ausgeblendet werden. Auch reformerische Politik muss heute sehr viel antiautoritärer, staatskritischer und in diesem Sinne auch radikaler als bisher sein. Es wird in der Tat auch darum gehen müssen, bisherige sozialstaatliche Strukturen, die ein Einfallstor für Pflichtgedanken, Ausgrenzungen und bürokratische Bevormundungen gewesen sind, zu knacken. Das heißt auch, dass die großen und kleinen sozialstaatlichen Institutionen, die Ämter, aber auch Krankenhäuser, Pflegeheime, Beschäftigungsgesellschaften, "Sozialunternehmen" etc. dahin gehend überprüft werden müssen, in wie weit hier mit viel Geld auch Menschenwürde, PatientInnenrechte, Selbstbestimmung etc. zu Gunsten einer repressiven oder fürsorglichen Belagerung täglich verletzt werden bzw. wo sogar direkt polizeiliche Ordnungs- und Räumfunktionen übernommen werden (etwa im Drogenhilfebereich oder in der Kinder- und Jugendhilfe).
Eine solche radikal-reformistische Institutionenkritik stellt auch und gerade an traditionell-linke Strömungen in Gewerkschaften und ArbeiterInnenbewegung neue Aufgaben. Ein Bündnis von Beschäftigten, PatientInnen, KlientInnen etc. ist nämlich nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass die sozialstaatlichen Institutionen auch Arbeitsplätze und oft genug die Hochburgen verbliebener gewerkschaftlicher Organisierung sind. Ein Beispiel: Die Abschaffung der Lagerunterbringung für Flüchtlinge, ihre Integration in ganz normalen Wohnraum, stellt sofort die großen Einrichtungen des Hamburger Landesbetriebs Pflegen und Wohnen in Frage und damit natürlich auch die dortigen Arbeitsplätze, zumindest in ihrer bisherigen Form. Ein Bündnis von Betroffenen und Beschäftigten setzt also auf der Ebene der Gewerkschaften und der betrieblichen Interessenvertretungen mehr als bisher eine Debatte darüber voraus, auf was für Arbeitsplätzen da eigentlich oft gesessen wird, was da eigentlich an Sozialleistung produziert wird. Nicht nur in der Rüstungsindustrie ist eine Konversionsdiskussion überfällig. Und bestimmte radikale Weisheiten haben nichts von ihrer Richtigkeit verloren, etwa dass die besten SozialarbeiterInnen die sind, die sich überflüssig machen.
Aktualität der Menschenrechte
Worum es gehen muss, ist die Verteidigung sozialer Ansprüche, Ansprüche an ein gutes Leben für Alle, als soziale Grundrechte, d.h. als bedingungsloses und unteilbares Recht für jeden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe oder Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Solche Grundrechte haben wenig mit kodifiziertem staatlichem Recht zu tun. Sie sind auch deutlich mehr als demokratische BürgerInnenrechte. Als vor- und überstaatliche Rechte sind sie Menschenrechte, die als Leitbilder und unveräußerliche Eckpunkte für eine menschliche Gesellschaft auch und gerade dann gelten, wenn sie nicht in irgendwelchen Chartas festgehalten werden. Und als Menschenrechte sind sie auch nicht gebunden an einen (Staats-)BürgerInnenstatus. Soziale Grundrechte als Menschenrechte stehen jedem Menschen qua Existenz zu.
Der Begriff der Menschenrechte verweist auf die Tradition der französischen Revolution und damit auf den bürgerlich-demokratischen Kontext der Aufklärung. Ihn trifft daher durchaus berechtigte Kritik: eurozentristische wie patriarchale Perspektive, Herrschaftsideologie der Bourgeoisie, Instrumentalisierung für unzählige Verbrechen und imperialistische Kriege. Dass die materielle Basis der kapitalistischen Gesellschaft die Glücks- und Freiheitsversprechen der bürgerlichen Revolutionen nicht einlösen kann, ist seit Marx bekannt und ist immer wieder Gegenstand notwendiger Ideologiekritik. Das heißt aber nicht unbedingt, dass die Bilder vom "Recht auf individuelles Glück", vom Recht auf "Freiheit", auf "Gleichheit" (im Sinne eines Egalitätsprinzips in Bezug auf gesellschaftliche Wertschätzung, Rechte, Glücksansprüche; nicht im Sinne einer Nivellierung von individuellen Differenzen) oder auf "Menschenwürde" als Maßstäbe und Befreiungsversprechen für Linke obsolet wären (Das gilt selbst für die "Brüderlichkeit", wenn man sie im Sinne von "Solidarität" versteht).
Individuelle und gesellschaftliche Emanzipation, Befreiung, Kommunismus wird ohne universalistische moralische Wertvorstellungen nicht auskommen. Die (bürgerlichen) Menschenrechte sind dabei eine Messlatte, die zwar nicht 1 zu 1 übernommen werden kann, die aber auch nicht untersprungen werden darf. Wolf-Dieter Narr etwa formuliert politische, soziale und ökonomische Grundrechte als Menschenrechte. Selbst in der radikalen Linken gängigere Begriffe wie "Existenzrecht", "Selbstbestimmtes Leben", "Autonomie" stellen weniger einen Bruch, denn eine Weiterentwicklung des Menschenrechtsgedankens dar.
Soziale Grundrechte als Menschenrechte dürfen dabei auf keinen Fall nur als Armen- oder Marginalisiertenrechte missverstanden werden. Soziale Ansprüche als Grundrechte betreffen nicht zuletzt die Frage, wie in diesem Land gearbeitet wird, wer unter welchen Bedingungen eigentlich was produzieren soll. Ansprüche und Rechte machen weder vor den Fabriktoren, noch vor den Büros, oder den Küchen und Wickelkommoden der privaten Haushalte halt. Heute für soziale Grundrechte zu streiten, bedeutet auch, Ansprüche und Rechte gegen die Zumutungen und die Gewalt einer umfassenden Flexibilisierung und ihrer "Normalität" zu verteidigen.
Der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering meint, es sei heute normal und zumutbar, für einen Job von Mecklenburg-Vorpommern nach Bayern zu ziehen und dabei vertraute soziale Bezüge aufzugeben. Für viele Menschen mag das tatsächlich der Fall sein und vielleicht sogar mit einer Aufbruchstimmung aus provinzieller Enge verbunden sein. Okay. Aber die sozialen Ansprüche an Einkommen, Jobs und Lebensqualität von denen, die aus welchen Gründen auch immer nicht so flexibel sein wollen, sind deswegen um kein Gramm weniger berechtigt. Für das Recht, unflexibel und immobil zu sein und dennoch gut zu leben, auch das ist ein Kampf um soziale Grundrechte.
Dirk Hauer