Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 439 / 8.6.2000

Wie steht's mit Widerstand?

Interview mit VertreterInnen der mexikanischen Streikbewegung

Julia Escalante und Ricardo Martinez waren während des zehnmonatigen Streiks in der Nationalen Universität von Mexiko-Stadt (UNAM) für die juristische und sozialwissenschaftliche Fakultät im zentralen Streikrat (CGH) aktiv. Auslöser des Streiks waren die Ankündigung einer massiven Erhöhung der Studiengebühren sowie striktere Zulassungsbeschränkungen für staatliche Hochschulen (vgl. ak 435, 437). Nach der polizeilichen Räumung der größten Universität Lateinamerikas am 6. Februar, bei der mehrere hundert Streikende inhaftiert wurden, beteiligten sich Julia Escalante und Ricardo Martinez an der Durchführung eines internationalen Studierendenkongresses, der Anfang April in Mexiko-Stadt mit VertreterInnen aus 16 Ländern stattfand.

Dabei wurde deutlich, dass die bis heute von offizieller Seite nicht erfüllten zentralen Forderungen der mexikanischen Studierenden nach kostenloser Bildung, die Rücknahme der zulassungsbeschränkenden Maßnahmen sowie die Demokratisierung der Entscheidungsstrukturen in den Universitäten die Probleme aller TeilnehmerInnen aus dem Ausland spiegeln. Derzeit reisen die beiden VertreterInnen der mexikanischen Studierendenbewegung durch Europa, um über die Situation an ihren Hochschulen zu informieren und sich mit europäischen Studierenden auszutauschen. Das folgende Interview führte SJ am 30. Mai in Hamburg.

ak: Nach zehn Monaten Streik ist die UNAM von staatlichen Sicherheitskräften, angeführt von der neugegründeten Präventivpolizei (PFP), geräumt worden. Wo steht die Streikbewegung heute, vier Monate später, und wie soll es weitergehen?

Julia: Die Räumung hat der Streikbewegung einen harten Schlag versetzt. Wir waren zunächst völlig handlungsunfähig. Viele GenossInnen kamen ja auch in Haft, und die Bewegung bröckelte stark ab. Dazu hat aber vor allem auch die Strategie der Normalisierung seitens der Unileitung beigetragen. Schon zwei Tage nach der Räumung begannen in den meisten Fachbereichen der Universität und in den Schulen, die sich am Streik beteiligt hatten, wieder die Seminare und der Unterricht. Wer sich nicht einschrieb, blieb ein weiteres Semester außen vor. Viele Studierende ließen sich deshalb nicht mehr mobilisieren, sondern wendeten sich wieder ihren Studien zu.

Derzeit versuchen wir deshalb unsere Basis und die verschiedenen Kommissionen des zentralen Streikrates (CGH) wieder zu beleben. Bis vor kurzem wurde auch der runde Tisch, an dem wir, die Universitätsleitung sowie Vertreter der Hauptstadtregierung teilnahmen, um unsere Forderungen zu diskutieren, noch fortgesetzt. Ende Mai sind diese Verhandlungsrunden jedoch von offizieller Seite abgebrochen worden. Das liegt auch daran, dass wir als Bewegung zur Zeit zu schwach sind und nicht genügend Druck auf die Autoritäten ausüben können, damit die runden Tische fortgesetzt werden. Auf dem Studierendenkongress Anfang April haben wir auch einen internationalen Aktionstag beschlossen, der im Oktober in allen Ländern stattfinden soll, die an dem Kongress teilgenommen haben. Der wichtigste Teil unserer Aktivitäten besteht allerdings darin, für die Freilassung der letzten acht wegen des Streiks Inhaftierten zu kämpfen sowie die etwa 130 Leute zu begleiten, denen nun ein Prozess bevorsteht.

Ricardo: Wir müssen vorrangig eine breite öffentliche Debatte über unsere Forderungen erreichen, v.a. auch in Institutionen wie dem Kongress. Damit zusammenhängend sollte die Studierendenbewegung dringend ihren politischen Horizont erweitern und versuchen, ihren Kampf zur Verteidigung der öffentlichen und kostenlosen Bildung mit den sozialen Forderungen anderer gesellschaftlicher Sektoren zu verbinden. Denn nicht nur das Bildungssystem soll ja privatisiert werden, sondern auch Teile des sogenannten Patriomonio Nacional - Erdöl, Elektrizität, Wasser etc. Dagegen leistet vor allem die Elektrizitätsgewerkschaft Widerstand, und einige unserer GenossInnen versuchen daran anzuknüpfen und auch die Studierendenbewegung zu diesem Thema zu mobilisieren. Ein anderes Beispiel ist der Kampf der indianischen Bevölkerung gegen den Auslöschungskrieg, den die Bundesarmee gegen sie führt, vor allem in Chiapas, aber auch in anderen Teilen des Landes. Intern wollen wir in Zukunft in direkteren Kontakt mit den Lehrkörpern, Akademikern allgemein und den Angestellten der Uni kommen.

Welche Fehler hat die Streikbewegung und der CGH eurer Meinung nach gemacht?

Julia: Wir haben uns gleich zu Anfang in einem falschen Triumphalismus gesonnt und dabei vergessen, unsere Kräfte für eine lange Zeit des Protestes einzuteilen. Wir haben auch nicht genügend Gewicht auf die Forderung nach einem Dialog mit der offiziellen Seite gelegt und zu viel Zeit verstreichen lassen, bevor wir diesen Dialog wirklich eingefordert haben.

Eine andere Sache ist, dass die demokratischen, horizontalen, rotativen Prinzipien des CGH, die immer sehr wichtig für sein Funktionieren waren, zu bröckeln begannen. Der CGH begann ausschließend zu werden und Ideen autoritär durchzusetzen.

Ricardo: Es war unser größter Fehler, der Unileitung nicht von Anfang an eine klare Botschaft mit unseren Forderungen vermittelt zu haben. Wir hätten eher unsere Kräfte darauf konzentrieren sollen, möglichst schnell eine Lösung für die Probleme, weswegen wir in den Streik traten, einzufordern. Der Präsident der UNAM, Francisco Barnes, war auf einen langen Streik eingestellt so ließ er sich Zeit, auf unsere Forderungen zu reagieren. Seine Strategie bestand einfach darin abzuwarten, dass sich die Bewegung selbst erschöpft.

Außerdem haben wir es nicht geschafft, eine Streikbewegung von SchülerInnen und StudentInnen auf nationaler Ebene zu mobilisieren. Die Proteste blieben weitgehend auf das UNAM-Umfeld beschränkt, obwohl alle Universitäten und Schulen von neoliberalen Reformen betroffen sind. Eine Mobilisierung auf nationaler Ebene wäre die Garantie dafür gewesen, unsere Forderungen erfolgreich durchzusetzen. Warum? Weil es Forderungen im Bildungsbereich sind und Bildungspolitik ist ein Herzstück neoliberaler Umstrukturierungspolitik.

Wie hat sich die traditionelle Linke, beispielsweise die Intellektuellen und die linken Parteien, zur Streikbewegung verhalten?

Julia: Jeder blieb auf "seiner Seite" (lacht).

Ricardo: Klar ist zunächst, dass die traditionelle Linke mit ihrem Dogma in der Krise ist. Eine neue Linke, ich nenne die Studierendenbewegung "neue Linke", schlägt über ihre Artikulations- und Organisierungsformen eine Alternative vor - ohne eine klare ideologische Position einzunehmen. Bewegungen wie unsere setzen eher an realen Lebenswelten an, jenseits von einem Politikverständnis, das Marx zur Grundlage haben muss und sich auf die staatlichen Institutionen konzentriert.

Deshalb verstehen uns die meisten der mexikanischen linken Intellektuellen nicht und begegnen uns mit großem Misstrauen, wie auch die linken Parteien etc. Sie verstehen vielleicht unsere Forderungen, nicht aber unser Grundverständnis und unsere Form der Organisierung.

Unser Verhältnis zu den staatlichen Institutionen ist im Gegensatz zur dem der traditionellen Linken mehr als distanziert. Mit der Räumung der UNAM hat der Staat sein wahres, sein repressives Gesicht gezeigt. Der Effekt bei uns ist tiefes Misstrauen nicht nur gegenüber der Regierung, sondern gegenüber allen staatlichen Institutionen und dem gesamten Parteiensystem. Der politische Unwille des Staates gegenüber den Forderungen der sozialen Bewegungen in Mexiko hat System. Statt mit ihnen in den Dialog zu treten und über Lösungsmöglichkeiten für die sozialen Probleme zu diskutieren, werden unsere Forderungen mit Repression beantwortet. Um sich zu legitimieren, müssen auch linke politische Parteien, wie die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die in Mexiko-Stadt regiert, die Strategie der Repression statt des Dialoges übernehmen. Aus diesem Grund verorten sich die neu entstehenden sozialen Bewegungen in Mexiko mehr denn je außerhalb der Institutionen. Meiner Meinung nach muss die PRD, wenn sie überleben will, ihren politischen Diskurs wieder den Forderungen und Bedürfnissen der sozialen Bewegungen annähern. Andernfalls hat sie als Teil der institutionellen Linken keine Chance mehr.

Bezüglich der Organisationsform entsteht aus den Erfahrungen der zapatistischen Bewegung und denen der Studierendenbewegung gerade ein neues Grundverständnis des Politisch-Seins, das auf der Idee des sogenannten mandar obedeciendo - des befehlenden Gehorchens basiert. Das bedeutet, dass jede Person, die auf Grund eines Konses der Basis in eine politische Machtposition gelangt, wiederum ausführen muss, was die "organisierte Basis" beschließt. Diese organisierte Basis ist sozusagen die politische Rückbindung mit den Ausführenden. Auch die Strukturen des CGH sollten dieser entstehenden politischen Identität gerecht werden. Das haben wir auch erreicht, zumindest in der ersten Etappe des Streiks.

Die Präventivpolizei (PFP) ist kürzlich auch in Chiapas einmarschiert. Unter dem Vorwand zunehmend häufiger Waldbrände in der Gegend, wo viele zapatistische Gemeinden leben, soll die Bevölkerung evakuiert werden, was jedoch nichts weiter als eine weitere Militarisierung und neue Repressionsmaßnahme darstellt. Seht ihr Parallelen zwischen der Repressionsstrategie gegenüber den Zapatisten und euch?

Julia: Nach dem Polizeischlag gegen uns ist sofort die Militärpräsenz in Chiapas stärker geworden. Insgesamt nimmt die Militarisierung im ganzen Land kontinuierlich zu, und die Repression gegen die indianische Bewegung wird immer offener.

Ricardo: Der Beginn des Streiks in der UNAM fiel auch auf den Beginn der Vorwahlphase in Mexiko - im Juli dieses Jahres wird ja ein neuer Präsident gewählt. Unsere Bewegung störte den Vorwahlkampf der Regierung, genauso wie die zapatistische Bewegung sie stört. Labatista, der Kandidat der Regierungspartei PRI, hat schon angekündigt, "das Problem in Chiapas" zügig zu lösen, was bedeutet, die Bewegung militärisch zerschlagen zu wollen.

Auch hier wird eine Bildungs- bzw. Hochschulreform eingeläutet. Welche Übereinstimmungen und Unterschiede seht ihr diesbezüglich zwischen Mexiko und Deutschland?

Julia: Mich hat überrascht, dass die Vorschläge und Maßnahmen für eine Bildungsreform hier so stark denen in unserem Land ähneln. Die Universitäten hier durchlaufen gerade den gleichen Prozess wie in Mexiko: Erhöhung der Studiengebühren, Beschränkung der Regelstudienzeit etc. Das zeigt uns auch, dass die Hochschulreformen, sei es hier oder in Lateinamerika, Teil des gleichen neoliberalen Projektes sind.

Die Studierenden hier scheinen sich allerdings wenig gegen die Umstrukturierung des Hochschulsystems aufzulehnen. Es mangelt ihnen an Organisierung und vor allem an kollektivem Bewusstsein. Ich glaube, dass die Ursache dafür vor allem der starke Individualismus ist, ein Phänomen der Erste-Welt-Länder. Vielleicht ist hier auch selbst bei einer massiven Erhöhung der Studiengebühren das Wohlstandspolster immer noch dick genug.

Was könnte denn eine Strategie sein, Studierendenbewegungen in verschiedenen Ländern zu mobilisieren und zusammen zu bringen?

Julia: Unser Ziel ist es, die Studierendenbewegung und ihre Forderungen zu globalisieren. Ein Anfang für eine international orientierte Debatte war auf jeden Fall der Studierendenkongress in Mexiko, Stadt, dessen gemeinsamer analytischer Ausgangspunkt die Funktion von Bildung im globalisierten Kapitalismus ist. Aber bis zum nächsten Treffen in Quebec müssen wir einfach viel mehr werden.

Auch in Brasilien und Chile beginnen sich Studierendenbewegungen zu formieren. Anfang Mai traten beispielsweise die DozentInnen und StudentInnen der Universidade de Sao Paulo (USP) in den Streik und konnten bei ihrer ersten großen Demonstration über 50.000 Menschen mobilisieren. Die Forderungen der brasilianischen Studierenden gleichen denen der Streik-Bewegung in Mexiko. Mehr dazu in der nächsten Ausgabe.