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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 440 / 6.7.2000

Das rot-grüne Atomprogramm für das 21. Jahrhundert

Zwei Jahre hat es gedauert, bis sich die Atomwirtschaft aus einer ihrer größten Krisen - dem Atomtransporte-Skandal - befreit hat. Jetzt sieht sie einer strahlenden Zukunft entgegen. Zwei Jahre versprach die rot-grüne Bundesregierung, den Ausstieg aus der Atomkraft umfassend und unumkehrbar zu regeln. Am frühen Morgen des 15. Juni 2000 war
es schließlich so weit. Kanzler Schröder - flankiert von den Chefs von RWE und VEBA - trat vor die Presse und verkündete den historischen Kompromiss: Eine 13-seitige Vereinbarung mit fünf Anhängen regelt die Zukunft der Atomkraft in der Bundesrepublik.

Schon in der Einleitung wird Tacheles geredet: So soll zukünftig von Regierungsseite "der ungestörte Betrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgung gewährleistet werden." Allein dieser Satz macht schon vieles deutlich. Es geht nicht um den Atomausstieg, sondern um eine Absicherung des Weiterbetriebs der AKWs, ohne rot-grüne "Nadelstiche", ohne den noch vor Jahren in einigen Bundesländern praktizierten "ausstiegsorientierten Vollzug des Atomgesetzes". Die im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen konstatierte fehlende Entsorgung des Atommülls wird mit einem Federstrich ad acta gelegt. Die Regierung gewährleistet die Entsorgung qua Definition und schwups, schon ist alles paletti. War da was?

Als Erfolg bezeichnen die Konsensbefürworter, dass die AKW-Betreiber in der Vereinbarung den Primat der Politik anerkennen. Schließlich "respektieren die EVU die Entscheidung der Bundesregierung, die Stromerzeugung aus Kernenergie beenden zu wollen" und verzichten auf eine Entschädigung, wenn die Vereinbarung wie geplant umgesetzt wird. Die Frankfurter Allgemeine kommentiert: "Die Energiewirtschaft verzichtet auf die Errichtung neuer Kernkraftwerke, was sie in absehbarer Zeit ohnehin nicht vor hatte und sie gesteht zu, dass die Laufzeit ihrer Anlagen nicht unbegrenzt ist, was sie ohnehin nie war."

Reststrom- Mengenlehre

Der entscheidende Schritt zum Konsens führte über die Entwicklung eines geeigneten Rechensystems für die AKW-Laufzeiten. Entwickelt wurde es im Bundesumweltministerium unter der Federführung von Trittins Staatssekretär Rainer Baake. Es zeichnet sich durch drei Elemente aus:

1. Die Laufzeiten werden flexibilisiert. Es ist möglich, einen unrentablen Reaktor früher abzuschalten und dafür einen anderen länger als vereinbart zu betreiben. Das verbessert die ökonomischen Rahmenbedingungen und verhindert gleichzeitig die Festlegung auf ein verbindliches Enddatum der Atomkraftnutzung. "Kein Versorger hat etwas dagegen, veraltete Meiler abzuschalten" schreibt die Financial Times zu Recht.

2. Die Berechnung der Laufzeiten erfolgt nicht in Jahren, sondern in Strommengen. So wird einerseits der Manipulation Tür und Tor geöffnet (siehe 3.), andererseits entsteht den Betreibern durch zeitweilige Abschaltungen der Reaktoren (Störfälle etc.) kein Nachteil. In einem Brief an ihre Beschäftigten sind die EVU-Chefs ganz stolz: "Gegen Beeinträchtigung des laufenden Betriebs wirkt zudem der vereinbarte Strommengen-Mechanismus: Jeder politisch motivierte Anlagenstillstand würde eine Verlängerung der Laufzeit bewirken."

3. Bei der Umrechnung von Restlaufzeit in Reststrommengen wird so tief in die Trickkiste gegriffen, dass am Ende für die AKWs noch einige zusätzliche Jährchen rausspringen:

In der Vereinbarung ist von 32 Kalenderjahren die Rede. Doch dies ist nur die sogenannte "Regellaufzeit", die wenig mit der tatsächlichen Laufzeit zu tun hat. So wird der Beginn dieser Regellaufzeit an die jeweiligen Aufnahme des "kommerziellen Leistungsbetriebs" gelegt. Manche Meiler waren aber schon etliche Monate vorher "kritisch", mussten jedoch auf Grund von Pannen einen längeren Probebetrieb durchlaufen. Dieser wird nun einfach nicht mitgezählt.

Danach wird ausgerechnet, wie viele Jahre "Regellaufzeit" für jedes AKW ab dem 1.1.2000 noch übrig bleiben: die Restlaufzeit. Weil im Falle Obrigheim nichts mehr übrig wäre, bekommt der Reaktor einfach drei Bonusjahre zusätzlich. So ist es rechnerisch möglich, alle 19 derzeit betriebenen Atomkraftwerke über diese Legislaturperiode hinaus zu betreiben.

Die Restlaufzeit wird jetzt mit einer "Referenzmenge" an Strom multipliziert. Diese berechnet sich allerdings nicht auf Grund der bisher in den AKWs im Jahresdurchschnitt erzielten Ergebnisse. Viel mehr werden die fünf höchsten Jahresergebnisse aus den 90er Jahren gemittelt und noch mal 5,5 Prozent draufgelegt. Es geht zu, wie bei Tante Emma: Darf's ein bisschen mehr sein?

Zuletzt werden noch 107 Terrawattstunden (Milliarden kWh) nie erzeugten Atomstroms aus dem bereits stillgelegten AKW Mülheim-Kärlich als frei handelbare Menge den anderen Kraftwerken zugeschlagen.

Unterm Strich entsteht eine Strommenge, die nicht 32 Kalenderjahren, sondern 32 Volllastjahren - ohne Stillstände - entspricht, obwohl die Reaktoren in der Vergangenheit durchschnittlich nur 78 Prozent Leistung erzielen konnten. Wer mit der tatsächlich produzierten Strommenge nachrechnet, kommt auf 35 Jahre Laufzeit. Zufällig genau die Forderung, mit der die Konzerne in die Verhandlungen gegangen sind.

Insgesamt dürfen in den AKWs noch 2.623,3 Terrawattstunden Strom produziert werden. Dies entspricht fast der Menge, die bisher in diesen Reaktoren hergestellt wurde. Die Atomenergienutzung befindet sich also auf ihrem Zenit.

Der Vertrag regelt die Rahmendaten für den weiteren Betrieb der Reaktoren. Vorbei das Gerede von Schrottreaktoren: Jetzt stimmt Rot-Grün mit den EVUs überein, "dass Kernkraftwerke auf einem international gesehen hohen Sicherheitsniveau betrieben werden." Deshalb wird die Bundesregierung "keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem zu Grunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern."

Da aber selbst die modernsten Atommeiler schon heute ca. 20 Jahre hinter der aktuellen Sicherheitstechnologie herhinken, wird sich das Risiko von Störfällen künftig weiter erhöhen.

Sicherheitsüberprüfungen - im Koalitionsvertrag noch jährlich vorgesehen - wird es jetzt nur alle zehn Jahre geben. Die Rahmenbedingungen für diese Checks werden praktischerweise gemeinsam mit den Betreibern festgelegt.

Um "die Nutzung der Kernenergie nicht durch einseitige Maßnahmen zu diskriminieren" wird die Bundesregierung keine steuerrechtlichen Verschärfungen beschließen.

Die Erhöhung der Haftpflicht-Deckungsvorsorge für schwere Störfälle von 500 Millionen auf 5 Milliarden DM (siehe ak 439) bedeutet faktisch nur, dass statt 0,01 Prozent nun 0,1 Prozent der bei einem GAU zu erwartenden Schäden abgedeckt werden. Weil die Betreiber sich künftig zu einem großen Versicherungspool zusammenschließen und für einander haften, bleiben die Prämien für die einzelnen Reaktoren allerdings unverändert.

In Sachen Atommüll und Konsens helfen nur noch Ironie und Sarkasmus: Schröder und Trittin ist es gelungen, den Gordischen Knoten Atommüll mit nur einem Schwerthieb zu durchtrennen. War laut Koalitionsvertrag das bisherige Entsorgungskonzept schlicht gescheitert, so wird nun ein überzeugendes Neues aus der Taufe gehoben.

Todsichere
AKWs nicht diskriminieren

In der Vergangenheit wurden abgebrannte Brennelemente zur Wiederaufarbeitung ins Ausland gebracht. Zukünftig werden sie ins Ausland zur Wiederaufarbeitung gebracht. Jedenfalls noch mindestens fünf Jahre. Das reicht, um noch 15 Jahre Atommüll aus deutschen Landen in den WAAs zu verarbeiten. Mit einem Ende der WAA in fünf Jahren hat der Konsens gar nichts zu tun. Nur die Transporte werden 2005 eingestellt. Im Kleingedruckten steht: "Angelieferte Mengen dürfen verwertet werden." Und: "Sollte der Prozess der Abwicklung der Wiederaufarbeitung aus von den EVU nicht zu vertretenden Gründen nicht zeitgerecht durchgeführt werden können, werden beide Seiten rechtzeitig nach geeigneten Lösungen suchen." Beispielsweise weiter wiederaufarbeiten?

In den letzten beiden Jahren gab es keine hochradioaktiven Atommüll-Transporte. Jetzt können die Castoren nach Gorleben, Ahaus und ins Ausland wieder rollen. Mit der Genehmigung der WAA-Transporte wird noch im Sommer gerechnet. Trittin nennt dies die "drastische Reduzierung der Transporte".

In der Vergangenheit gab es nur zwei zentrale Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente: Gorleben und Ahaus. Bald soll es an jedem Reaktor eine entsprechende Leichtbauhalle geben. Werden diese nicht rechtzeitig fertig, "wird gemeinsam nach Lösungen gesucht, vorläufige Lagermöglichkeiten an den Standorten vor Inbetriebnahme der Zwischenlager zu schaffen." Einfacher ausgedrückt: Die Castoren werden auf dem Hof abgestellt, und dieser bislang verbotene Akt wird durch eine Atomgesetzänderung legalisiert.

In der Vergangenheit wurde der Salzstock Gorleben auf seine Eignung als Endlager untersucht. SPD und Grüne hielten ihn geologisch für ungeeignet. Zukünftig gilt der Salzstock als geeignet. Ein kurzes Moratorium von mindestens drei, höchstens zehn Jahren soll lediglich dazu dienen, die grundsätzlichen Eignungskriterien für Endlager der internationalen Diskussion anzupassen. Eindeutig erklärt die Regierung im Anhang: "Das Moratorium bedeutet keine Aufgabe von Gorleben als Standort für ein Endlager." Von der Suche neuer Endlagerstandorte ist nicht die Rede.

In der Vergangenheit hat Angela Merkel das Atomgesetz geändert, um die Enteignung von Graf Bernstorff zu ermöglichen. Durch seine Salzrechte verhindert der Graf die Erkundung eines Teils des Gorlebener Salzstocks. Auch die mit dem Graf zusammenarbeitende Salinas GmbH, die in Konkurrenz zum Endlagerbergwerk Salz fördern möchte, wurde durch die Merkelsche Atomnovelle eingeschränkt. SPD und Grüne versprachen im Wahlkampf und im Koalitionsvertrag, dieses Gesetz zurückzunehmen. Jetzt heißt es: "Der Bund ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um während des Moratoriums den Standort Gorleben zu sichern. Dazu gehören die notwendigen rechtlichen Schritte, um die Position des Bundes als Antragsteller zu sichern und das Vorhaben gegen Eingriffe Dritter zu schützen." Kurz: Das "Lex Salinas" wird bleiben und auch angewandt.

Das Atommüll- Problem wird elegant gelöst

In der Vergangenheit hat die niedersächsische Landesregierung die Genehmigungen für die Pilotkonditionierungsanlage (PKA) Gorleben und das Endlager für schwach- und mittelaktiven Müll im Schacht Konrad hinausgezögert. Im Koalitionsvertrag heißt es, dass es künftig nur ein Endlager für alle Arten von Atommüll geben soll und dass dies nicht Konrad sein kann. Jetzt sollen PKA und Schacht Konrad genehmigt werden.

In der Vergangenheit mussten die Betreiber für den Entsorgungsvorsorgenachweis nicht nur Lagerkapazitäten in Gorleben, Ahaus oder dem Ausland, sondern auch Fortschritte bei der Endlagersuche nachweisen. Zukünftig gilt das Abstellen der Behälter auf dem Reaktorgelände als "geordnete Beseitigung".

Wird dieses Entsorgungsprogramm umgesetzt, sind die AKW-Betreiber bald alle Probleme mit dem Atommüll los. Ganz im Gegensatz zu den kommenden Generationen. Deren Sorgen wachsen weiter. Wird die Vereinbarung vollständig umgesetzt, dann wird der Atommüllberg noch auf mehr als die doppelte Menge anwachsen.

Zum Schluss noch ein Schmankerl für VerfassungstheoretikerInnen. Wer macht eigentlich die Gesetze? Zum Beispiel das jetzt zu ändernde Atomgesetz? Schauen wir mal in das Konsens-Papier selbst: "Über die Umsetzung der Atomgesetz-Novelle wird auf der Grundlage des Regierungsentwurfs vor der Kabinettbefassung zwischen den Verhandlungspartnern beraten."

Und wer kontrolliert die Einhaltung der Gesetze? "Um die Umsetzung der gemeinsamen Vereinbarungen zu begleiten, wird eine hochrangige Arbeitsgruppe berufen, die sich aus drei Vertretern der beteiligten Unternehmen und drei Vertretern der Bundesregierung zusammensetzt. Diese Arbeitsgruppe bewertet gemeinsam die Umsetzung der in dieser Vereinbarung enthaltenen Verabredungen."

Wie meinte doch Reinhard Bütikofer, Bundesgeschäftsführer der Grünen? "Der Atomkonsens ist eine historische Zäsur." Wo er Recht hat, da hat er einfach Recht.

Jochen Stay

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