Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 441 / 31.8.2000

Die neue Staatsdoktrin

Karl Heinz Roth analysiert den Siegeszug der Totalitarismustheorie

Der Geschichtsrevisionist Ernst Nolte, unlängst mit dem Konrad-Adenauer-Preis der Deutschland-Stiftung ausgezeichnet (vgl. ak 440), ist ein belesener Mann. In seinem Aufsatz "Was ist ,historischer Revisionismus`?", abgedruckt in der Festschrift zur Preisverleihung, zeigt Nolte, dass er auch die Polemiken seiner schärfsten Kritiker zur Kenntnis nimmt. Hinter der Empörung, mit der Nolte Karl Heinz Roths Formulierung vom "Altfaschisten Nolte" zitiert, wird dabei auch Genugtuung sichtbar. Denn Nolte sieht neben den "Schimpfreden" auch "Wendungen..., die gewiss aus einer Art Zweckpessimismus hervorgehen, aber gleichwohl als übermäßig ehrenvoll gelten könnten: Noltes geschichtsphilosophischer Rahmen, das Konzept des ,europäischen Bürgerkrieges`, bilde inzwischen ,die Grundlage des Diskurses`, und man müsse befürchten, dass der Initiator den ,Historikerstreit` am Ende doch gewonnen habe."

So weit gibt Nolte korrekt wieder, was Karl Heinz Roth in seinem Buch "Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt der Totalitarismustheorie" als Zwischenbilanz der geschichtspolitischen Debatten in Deutschland (und zum Teil darüber hinaus) formuliert. Zwar warnt Roth auch vor Panikmache, sein Fazit bleibt aber pessimistisch: "Mit der Totalitarismustheorie als argumentativem Kern hat sich der historische Revisionismus inzwischen zweifellos eine kulturell hegemoniale Stellung erobert."

Die in dem Buch zusammengefassten Aufsätze, geschrieben zwischen 1992 und 1998, zeichnen den Siegeszug der Totalitarismustheorie überzeugend nach - einer inhaltlich ärmlichen und in sich widersprüchlichen "Theorie", die aber für ihre Anhänger mehrere Vorteile miteinander verbindet: Sie ist extrem simpel ("Rot gleich Braun") und damit auch für politische Analphabeten verständlich; sie setzt den Begriff "Freiheit" mit den Bürgerrechten der parlamentarischen Demokratie gleich und verknüpft ihn zugleich mit dem Privateigentum; sie kriminalisiert damit jeglichen Versuch, dem Kapitalismus eine Alternative entgegenzusetzen; sie legitimiert die flächendeckende Abwicklung der DDR-Gesellschaftswissenschaften als Kampf gegen den "Totalitarismus" - und nicht zuletzt untermauert sie die Ansprüche ihrer Verfechter auf gut dotierte Posten und Forschungsaufträge.

Der mit Abstand längste von Roths Aufsätzen behandelt den "Einfluss der Totalitarismustheorie auf die Bundestags-Enquete ,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland` und ihre Auswirkungen auf die politische Kultur der Bundesrepublik". Roth weist nach, dass der wissenschaftliche Erkenntniswert dieser Theorie gleich Null ist, und skizziert ihre Konjunkturen seit den 1920er Jahren. Nach ihrer Blütezeit im Kalten Krieg und dem Einbruch in den 1960er Jahren kam der entscheidende Durchbruch der "Neo-Totalitarismustheorie" nach dem Untergang der DDR.

Antitotalitärer Konsens statt Antifaschismus

An ihrem Siegezug waren Scharen von Historikern, Politikern und Publizisten beteiligt, unter ihnen lautstarke "Fundis" und taktisch geschickte "Realpolitiker". Roth schildert anschaulich, wie letztere das Totalitarismusverdikt durch die Hintertür in die entscheidende Bundestagsresolution einbrachten. Die Enquete, beschloss der Bundestag mit überwältigender Mehrheit, sei "vor allem den Deutschen in den neuen Bundesländern (verpflichtet), die über nahezu sechs Jahrzehnte hinweg diktatorischen Regierungsformen unterworfen waren". Damit war das fast drei Jahre dauernde "Tribunaltheater" eröffnet, bei dem auch Renegaten wie der ehemalige DKP-Poet Peter Schütt mitmachen durften. Auch Jürgen Habermas, im Historikerstreit von 1986 einer der entschiedensten Kritiker Noltes, bekannte sich zum "antitotalitären Konsens". Dieser Konsens, schreibt Roth, "ist nun parlamentarisch kanonisiert und beansprucht Verbindlichkeit nicht nur für die Politik, sondern für das gesamte Spektrum der Gesellschaftswissenschaften."

In kürzeren Artikeln behandelt Karl Heinz Roth die "Wiederbelebung der Totalitarismustheorie" durch das Hamburger Institut für Sozialforschung ("Reemtsma-Institut") und die Versuche der Geschichtsrevisionisten um Rainer Zitelmann, Hitler zum "Revolutionär" und "Modernisierer" umzudeuten. Am Ende des Buches steht Roths "Zwischenbilanz" über den "historischen Revisionismus in Deutschland", die mit den Worten endet: "Die entscheidende Auseinandersetzung steht erst noch bevor." Das wurde allerdings schon 1994 geschrieben - gern würde man wissen, wie der Autor fünf Jahre später den Fortgang der Auseinandersetzung bewertet.

Aber das ist ein Schönheitsfehler, der das positive Gesamtbild nicht stört. Zu diesem positiven Bild tragen auch Roths wiederholte und keineswegs floskelhafte Aufforderungen an die Linke bei, aus der eigenen Geschichte zu lernen. So manchem Anhänger des Realsozialismus wird bei einigen Formulierungen der Unterkiefer herunterklappen. Und auch die "Antideutschen" werden gar nicht zufrieden sein, wenn sie Roths Darstellung des Endes der DDR lesen. Die große Mehrheit der DDR-Bürger nämlich, die zur BRD überlief, schreibt Roth, "war davon überzeugt, auf diese Weise ihre gesellschaftliche Autonomie auf der Basis eines wesentlich verbesserten Lebensstandards weiter ausgestalten zu können." Treffend formuliert, aber aus "antideutscher" Sicht sicherlich schönfärberisch - wo bleibt die angeblich allgegenwärtige "Sehnsucht nach der Volksgemeinschaft"?

Übertrieben scheint mir allerdings der Stellenwert, den Karl Heinz Roth der Totalitarismusdoktrin an der Demoralisierung der ostdeutschen Bevölkerung beimisst. Er schreibt: "Durch das antitotalitäre Verdikt wurden die Ostdeutschen zugleich aller Grundlagen beraubt, die eine Widerstandsperspektive hätten legitimieren können." Wichtiger ist wohl, dass nach dem Anschluss den meisten DDR-BürgerInnen individuelles Durchwursteln Erfolg versprechender erschien als kollektiver Widerstand - und dass, abgesehen von der PDS, eine organisierende Kraft fehlt. Aber das ist eine Diskussion, die vom zentralen Gegenstand dieses lesenswerten Buches weg führt.

Js.

Karl Heinz Roth: Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt der Totalitarismustheorie; Hamburg (konkret texte 19) 1999, 152 Seiten, 19,80 DM