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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 441 / 31.8.2000

EU mauert sich weiter ein

Nach Dover: Abschottungspolitik intensiviert

Der Tod hätte für die 58 chinesischen MigrantInnen grausamer kaum sein können. Nach einer monatelangen Odyssee erstickten sie in einem niederländischen Tomaten-LKW, gerade als sie endlich ihr Ziel, nämlich britischen Boden, erreicht hatten. PolitikerInnen in der Europäischen Union vergossen über dieses Massensterben in Dover zwar einige Krokodilstränen. Kurz darauf ging man in Brüssel, London, Paris und Berlin aber wieder zur Tagesordnung über - und die sieht die perfektionierte Abschottung Europas vor.

In Berliner Regierungskreisen gab man sich angesichts der Toten von Dover abgeklärt: Wie schon in den letzten Jahren, so sei auch in Zukunft damit zu rechnen, dass hier zu Lande tote Flüchtlinge und MigrantInnen gefunden werden. Tatsächlich - dies ergibt sich aus Übersichten der Berliner Antirassistischen Initiative (ARI) - starben in den Jahren 1993-1999 nicht weniger als 113 Menschen an den deutschen Grenzen bzw. auf ihrem Weg dorthin. (1) Europaweit liegt diese Zahl bei über 2.000. (UNITED-Pressemitteilung, 14.6.2000)

Im selben Zeitraum erlitten darüber hinaus - so die ARI - 267 Personen körperliche Schäden beim Grenzübertritt in die Bundesrepublik. Heimliche GrenzgängerInnen leiden - speziell im Rahmen einer kommerziell durchgeführten Fluchthilfeaktion - immer wieder an Unternährung, Wasser- und Luftmangel, bis hin zu Unterkühlung und Erfrierungen.

In dem einen Tag nach Dover von Bundesinnenminister Otto Schily vorgelegten Jahresbericht des Bundesgrenzschutzes (BGS) ergibt sich aus polizeilicher Sicht folgendes Bild: Die Zahl der "unerlaubten Einreiseversuche" ist nach dem Ende des Kosovo-Krieges um rund 2.500 auf 37.789 leicht gesunken. Gleiches gilt für die "nachweislich geschleusten Personen". Deren Zahl sank um rund 10% auf 11.101, gleichzeitig hat der BGS 3.410 Personen als angebliche Schleuser festgenommen - mehr als je zuvor.

Diese Diskrepanz (weniger heimliche GrenzgängerInnen, jedoch mehr festgenommene Schleuser) erschließt sich aus der BGS-Übersicht "Grenzpolizeiliche Feststellungen" vom Februar diesen Jahres. Darin wird hervorgehoben, dass die Arbeit des BGS national wie grenzüberschreitend auf mehrere Säulen verteilt worden ist: So wurden Verbindungsbeamte des BGS in die Nachbarstaaten sowie in potenzielle Herkunftsländer von Flüchtlingen und MigrantInnen entsandt. Deren Transitwege sollen bereits dort zerschlagen werden. Zugleich wurde die bilaterale Zusammenarbeit mit den polnischen und tschechischen KollegInnen erheblich ausgeweitet. Im Inland bemüht sich der BGS um eine Verzahnung seiner Arbeit mit der der Landespolizeien: durch die Einrichtung gemeinsamer Sonderkommissionen und Ermittlungsgruppen, die sich der Schleuserbekämpfung verschrieben haben. (2)

Nach Dover - business as usual

Unmittelbar nachdem in Dover die toten MigrantInnen gefunden worden waren, trafen sich im portugiesischen Feira die Europäischen Staats- und Regierungschefs. Man versprach, nunmehr verstärkt die Europäische Polizeibehörde EUROPOL mit der Bekämpfung der Schleuserkriminalität zu beauftragen.

Dies liegt EUROPOL im Hinblick auf die Erweiterung seiner Handlungsmöglichkeiten besonders am Herzen. So hatte der EU-Rat von Tampere erst im Oktober letzten Jahres bekräftigt, die EU sei fest entschlossen, "die illegale Einwanderung an ihrer Wurzel zu bekämpfen, insbesondere durch Maßnahmen gegen diejenigen, die Zuwanderer einschleusen oder wirtschaftlich ausbeuten." (3) Sowohl der EU-Rat wie auch die EU-Kommission betonen, es sei von "aller größter Wichtigkeit", dass über EUROPOL nicht nur Informationen über sogenannte Schleuserbanden ausgetauscht werden. Es soll auch operativ zusammengearbeitet werden. So wird angeregt, hierfür spezielle polizeiliche Task Forces zu gründen. (4) EUROPOL soll bei der Einrichtung und Führung dieser Task Forces eine Schlüsselrolle einnehmen.

Somit wird EUROPOL sein gesamtes Arsenal geheimpolizeilicher Praktiken einsetzen können. Hierzu gehören auch sogenannte polizeilich kontrollierte Lieferungen, also Schmuggelaktivitäten, die von der Polizei entweder von außen technisch überwacht und observiert und/oder von innen durch V-Personen oder "verdeckte Ermittler" initiiert, gesteuert bzw. begleitet werden. Eine makabre Vorstellung, dass tödlich verlaufene Fälle der Fluchthilfe zukünftig auch unter der (wenn auch nur indirekten) Mitwirkung von EUROCOPS stattfinden könnten. (5)

Im Juli übernahm Frankreich die EU-Präsidentschaft. Schon seit längerem ist klar, dass Paris sich - in enger Kooperation mit Berlin - auf dem Gebiet der europäischen Asyl- und Migrationspolitik viel vorgenommen hatte. Dass hiervon aber wenig Gutes zu erwarten ist, wurde schnell deutlich.

Schon am Tag vor Beginn der französischen Präsidentschaft wurden dort zwei entsprechende Vorschläge präsentiert (6): Einer soll die gegenseitige Anerkennung von Abschiebungsanordnungen regeln. Damit könnte ein EU-Land solche Entscheidungen eines anderen Mitgliedstaates vollziehen. Eine Abschiebung soll demnach auch dann möglich sein, wenn die abzuschiebende Person entweder eine "Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung" bzw. die "nationale Sicherheit" darstellt oder wenn sie zu einer Freiheitsstrafe von gerade einmal einem Jahr ohne Bewährung verurteilt worden ist. Wenn "der begründete Verdacht" besteht, dass dieser Drittstaatsangehörige eine "schwere Straftat begangen" hat, oder zumindest "konkrete Hinweise bestehen, dass sie solche Taten plant", soll ebenfalls abgeschoben werden können. Selbst auf Grund einer bloße Vermutung soll dem Pariser Vorschlag zufolge also eine Abschiebung möglich sein - auch dann, wenn die betreffende Person im Besitz eines gültigen Aufenthaltstitel ist.

Berlin und Paris - eine Abschottungsfront

Zweitens schlägt der französische Vorsitz vor, die Strafvorschriften im Bereich der professionellen Fluchthilfe europaweit anzugleichen. Bis auf Verwandte (!) geschleuster Flüchtlinge und MigrantInnen soll demnach jede Person zu einer "wirksamen und abschreckenden Strafe" verurteilt werden, die mittelbar oder unmittelbar die "illegale Einreise oder den unerlaubten Aufenthalt" von Drittstaatsangehörigen in der EU in irgendeiner Art "erleichtert".

Schließlich präsentierte Paris am 4. Juli seinen "Aktionsplan zur besseren Kontrolle über die Einwanderung". Dieser besteht aus zwei Teilen: Zum einen in der Verbessung der in den letzten Jahren bereits begonnenen, internationalen Früherkennung von Flucht und Migrationsbewegungen. Zum anderen soll die Entsendung von polizeilichen Verbindungsbeamten in Herkunfts- und Transitländer von Flüchtlingen und MigrantInnen "rationalisiert" werden. Schnellstmöglich soll eine Übereinkunft geschlossen werden, damit der Verbindungsoffizier eines Landes die Abschottungsinteressen anderer EU-Länder in seinem Einsatzort vertreten und "Aktionen von gemeinsamen Interesse" dort durchführen kann. (7)

Zu Zeiten des Kalten Krieges galt die meist kommerziell betriebene Hilfe zur Flucht aus einem der "Ostblockstaaten" nach Auffassung des Bundesgerichtshof noch als rechtmäßiges Geschäft. Was früher den guten Sitten entsprach, wird heute als menschenverachtende Mafia-Tätigkeit dargestellt. Dass Schleusungen - wie die von Dover - tatsächlich unter zunehmend unmenschlichen Bedingungen stattfindet, ist weder zu leugnen noch zu verharmlosen. Aber diese Umstände der Fluchthilfe sind nicht gottgegeben.

Teil des Problems, nicht der Lösung

Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) kommt in einer im Juli diesen Jahres veröffentlichten, 100 Seiten umfassenden Studie zu deutlichen Schlussfolgerungen: Demnach wären Asylsuchende auf Grund der Abschottungsmaßnahmen der EU "gezwungen, illegale Methoden zu benutzen, um überhaupt nach Europa zu gelangen." Der Anstieg der Zahl geschleuster Personen stehe im direkten Zusammenhang zu der Verschärfung der polizeilichen Sicherung der EU-Außengrenzen. Es zeige sich, dass es sich bei aufgegriffenen geschleusten Personen in der Mehrheit ausgerechnet um Angehörige solcher Staaten handele, die in den EU-Staaten in aller Regel auch als Asylberechtigte anerkannt werden. Die Reaktionen der EU im Hinblick auf die "Schlepperkriminalität" sind also selbst aus Sicht des UNHCR Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Denn die Maßnahmen der EU sind "weniger dazu geeignet, das Problem des Menschenschmuggels zu lösen". Vielmehr drohe, dass die EU-Staaten hierüber das Recht auf Asyl endgültig abschaffen würden. (8)

Als Konsequenz aus den Todesfällen von Dover forderte z. B. der aus Portugal stammende, sozialdemokratische EU-Kommissar für Inneres und Justiz, Antonio Vitorino, "möglichst rasch eine einheitliche EU-Einwanderungs- und Asylpolitik zu entwickeln". Denn, so die Abgeordnete im Ausschuss für Bürgerfreiheiten des Europaparlaments, Sabina Mazzi, die bestehenden unterschiedlichen Kriterien und Vorschriften für die Aufnahme von Flüchtlingen in der EU würden systematisch von Schleuserorganisationen ausgenutzt. (FR, 21.6.2000)

Diese Ansätze sind für sich genommen so allgemein wie unstrittig. Tatsächlich wird derzeit in Umsetzung der Vorgaben des Amsterdamer Vertrages an einer Harmonisierung sowohl des materiellen als auch des verfahrensrechtlichen Asylrechts in Europa gearbeitet. Völlig daneben ist in diesem Zusammenhang die Überlegung des britischen Innenministers Straw, in Folge von Dover die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (GFK) zu überarbeiten. Denn erst im Oktober letzten Jahres hatten die Staats- und Regierungschefs der EU im finnischen Tampere beschlossen, dem zukünftigen, gemeinsamen Asylsystem der EU die GFK "uneingeschränkt und allumfassend" zu Grunde zu legen. Daran darf nicht gerüttelt werden.

Ein Schleifen der Festung Europa - die Wiederherstellung eines Rechts auf Asyl, das seinen Namen verdient, und die Eröffnung legaler Einwanderungsmöglichkeiten - sind die aussichtsreichsten Maßnahmen, um "Schleppern" und Schleusern" ihr unmenschliches Betätigungsfeld zu nehmen und das Sterben von Menschen auf der Flucht zu beenden.

Mark Holzberger