Die Gewalt überleben
Eine Konferenz von medico international zu psychosozialer Arbeit nach Krieg und Diktatur
Auf Einladung von medico international kamen vom 17. bis zum 21. Juni in Mainz VertreterInnen von über 20 Organisationen aus Afrika, Lateinamerika und Europa zusammen, um über die psychosoziale Arbeitsweise nach (Bürger-)Krieg und Diktatur in ihren konkreten Projekten zu berichten und zu diskutieren. Für medico folgt die Zusammenarbeit mit solchen NGOs aus der langjährigen Unterstützung der Befreiungskämpfe der südlichen Länder. Zu den prominentesten Gästen gehörte deshalb auch Leticia Cufré vom ehemaligen Equipo Internationalista Marie Langer, das sich nach der Revolution von 1979 um den Aufbau einer psychosozialen Gemeinwesenarbeit in Nicaragua bemüht hatte. Salud mental communitaria oder community-based mental health-work war der thematische Schwerpunkt der Konferenz, die primär dem internen Erfahrungsaustausch und der Süd-Süd-Vernetzung diente und nur am letzten Tag öffentlich war.
Die Niederlage der antikolonialen Befreiungskämpfe der letzten dreißig Jahre war in der Vergangenheit immer wieder Gegenstand von linker Debatte. Vielfach analysiert sind auch deren Folgen - der Durchmarsch neoliberaler Globalisierung, aber auch die tastenden Versuche einer Rekonstruktion emanzipativer Politik. Wenig beachtet blieben dagegen die Spuren, welche die politische Geschichte in den Lebens- und Leidensgeschichten derjenigen hinterlassen hat, die bewusst an ihr teilgenommen haben oder von ihr überrollt wurden. Wie existieren die Überlebenden der Kriege in Lateinamerika, Asien, Afrika heute, Menschen, die verletzt und verstümmelt wurden, die Angehörige, Freunde verloren, deren Dörfer und Felder verbrannt, deren Städte zerschossen wurden? Wie überleben die, die von der Repression der Diktatur heimgesucht, in den Knästen gefoltert wurden, die für lange, dunkle Jahre "verschwanden" oder deren GenossInnen "verschwanden"? Und: wie kommen die zurecht, die die Kraft eines ganzen Lebens für eine Partei, eine Befreiungsfront eingesetzt haben, und dann nicht bloß deren Niederlage, sondern deren Anpassung oder deren Verwandlung in einen Apparat repressiver Herrschaft erfahren mussten, die von den "eigenen" Leuten nicht nur verraten, sondern auch physisch und psychisch gequält wurden? Wie leben die, die als Angehörige der regulären Truppen oder des Paramilitärs auf ihre Brüder und Schwestern schießen, die eigene Gemeinde "zerschlagen" mussten? Zuletzt: wie ergeht es denen, die nach Jahren des Kampfes nicht mehr "zurück" finden, weil es für sie kein "Zuhause" mehr gibt?
Auskunft darüber können wenn nicht die Betroffenen selbst dann vor allem die geben, die an ihrem Überleben teilhaben, indem sie sich um ihre Genesung, ihre "Rehabilitation" bemühen. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei nicht um Angestellte staatlicher Einrichtungen oder um Eigentümer wohlorganisierter psychologischer Praxen, sondern um MitarbeiterInnen von gemeinwesenorientierten Nicht-Regierungs-Organisationen oder Menschenrechtsverbänden, von Selbsthilfegruppen oder um Kampagnen von Ex-Militanten oder Ex-Gefangenen.
Der therapeutische Ansatz psychosozialer Arbeit liegt darin, das gesellschaftlich bedingte, aber stets individuell erlittene Leiden zu entprivatisieren: die traumatische Erfahrung wird aus ihrer gesellschaftlichen Verursachung im intersubjektiven Zusammenhang verstanden, die Therapie verbindet die Rehabilitation der einzelnen mit dem Versuch der Rehabilitation ihrer sozialen Welt - der Gemeinde im engeren Sinn, dem zerrissenen Netz der alltäglichen Beziehungen, aber auch der weiteren politischen und ökonomischen Verhältnisse. Dies setzt die Durcharbeitung des einzigartigen individuellen Schicksals im historischen Zusammenhang voraus, der selbst erst verständlich wird, wenn die Einzelnen die Gelegenheit erhalten, ihren Schmerz, ihre Verzweiflung, aber auch ihre Wut und den legitimen Anspruch auf Vergeltung des erlittenen Unrechts zu artikulieren.
Was dies im Einzelfall heißt - und das Allgemeine ist hier stets Einzelfall! - wurde in beeindruckenden, bisweilen auch ergreifenden Berichten fassbar. In Berichten aus Guatemala etwa, in denen José Felipe Sarti die Arbeit des Equipo de Estudios Comunitarios y Accíon Psicosocial in der Gegend von Rabinal beschrieb, wo dem Staatsterror mehr als 5000 Menschen zum Opfer fielen, ein Viertel der BewohnerInnen. Oder in Berichten aus Nicaragua und Honduras (siehe das Interview mit Josefina Ulloa in dieser Ausgabe), deren Menschen 1998 vom Hurrican Mitch heimgesucht, dabei aber zum Opfer von Verwüstungen wurden, die letztlich nicht durch die Natur-, sondern durch die soziale Katastrophe neoliberaler Politik verursacht waren. Zandile Nhlengetwu und Berenice Meintjes (siehe nebenstehenden Bericht) aus Südafrika erläuterten ihre mental health-work in den communities der Provinz KwaZulu-Natal. Hier hatte bis Mitte der 90er Jahre der vom Apartheid-Regime geschürte interne Krieg zwischen ANC und Inkhata getobt, dessen besondere Grausamkeit darin lag, zwischen Nachbarn und Verwandten geführt zu werden. Von südafrikanischen Verhältnissen sprach auch Ntombi Mosikare, die Koordinatorin der Khulumani Support Groups. Das Zulu-Wort Khulumani bedeutet: "Sprich dich aus! Rede! Ergreife das Wort!"; es ist die Losung von Überlebenden der Apartheid-Gewalt, die sich jetzt dagegen wehren, vom "demokratischen" Südafrika zum Schweigen gebracht zu werden, trotz der Arbeit der Wahrheitskommission, schlimmer noch: durch deren Arbeit. Die meisten Khulumani-AktivistInnen sind Frauen, die anstelle ihrer ermordeten Männer, Väter oder Söhne das alltägliche - und das politische Überleben ihrer Familien organisieren. Eine ähnliche Arbeit leistet das Breaking the Wall of Silence-Movement in Namibia. Mit dem Unterschied allerdings, dass die in Mainz von Pauline Dempers und Danie Botha vertretenen Ex-Gefangenen der SWAPO noch während des Befreiungskampfs zum Opfer der "eigenen" Führung um den heutigen Präsidenten Nujoma wurden. Der Zusammenhang individueller Therapie und politischer Aktion brachte sich akzentuiert auch in den Beiträgen von Paz Rojass und David Becker zur Geltung, die von ihren Erfahrungen aus Chile berichteten und von der Bedeutung, die die späte Verhaftung des Foltergenerals Pinochet für ihre Arbeit hat.
Zu hören waren noch einige andere, ähnliche und doch ganz unterschiedliche Geschichten: aus Palästina, von wo Majedah Abu Gosh über die Schwierigkeiten der Selbstorganisation von Frauen in patriarchalen Gemeinden berichtete. Aber auch aus Angola, Mosambik und Uganda, Ländern, die durch jahrzehntelange interne Kriege, durch extreme Armut und durch eine verwüstete Natur so zerstört sind, das psychosoziale Arbeit hier auf die Wiederherstellung primärer Gesellschaftlichkeit zielt. Zu wenig repräsentiert waren die Gesellschaften des Nahen und Fernen Ostens, kurdische, indonesische, philippinische Stimmen fehlten, ein Nachteil, in dem sich die trotz allem beschränkten Kontakte und Ressourcen von medico international ausdrücken. Die Konferenz selbst wurde mit Unterstützung des Konsortiums Ziviler Friedensdienst durchgeführt.
Trotz des unermesslichen Leids, das in Mainz zur Sprache kam, war die Tagung nicht von resignativer Stimmung beherrscht, im Gegenteil. Hier sprachen Menschen, die sich der alltäglichen Notwendigkeit, der sozialen Bedeutung und der Würde ihres Engagements sicher sein konnten und sich dies nicht nur in der Debatte, sondern auch in vielen Gesprächen am Rande der Tagesordnung mitzuteilen wussten, auch in einem ausgelassenen Fest, mit dem die Konferenz zu Ende ging, am Morgen des Tages danach.
Deutlich wurde diese Würde auch im öffentlichen Teil, wo vor einem vollen Saal von Gästen und gegenüber einem Forum von "Gebern" - Regierungs- und StiftungsvertreterInnen - die Grenzen der bisherigen Förderpolitik psychosozialer Arbeit kritisiert und Forderungen nach einer angemessenen, auf lange Zeit angelegten Unterstützung vorgetragen wurden. Forderungen, die man künftig gemeinsam artikulieren wird, im fortgesetzten Erfahrungsaustausch.
Thomas Seibert
(medico international)
Das südafrikanische Centre for the Study of Violence and Reconciliation (CSVR) wird für alle Organisationen eine gemeinsame Homepage einrichten. medico international wird sämtliche Beiträge der Tagung sowie ausführliches Hintergrundmaterial auf einer CD dokumentieren, ausgewählte Beiträge werden in einem medico-Report publiziert. Vorbestellungen an: medico international, Obermainanlage 7, 60314 Frankfurt. Tel. 069/94438-0, Email: info@medico.de, Internet: http://www.medico.de. Spendenkonto 1800, Frankfurter Sparkasse (BLZ 500 502 01), Stichwort "salud mental".