Kriegslüsterne Revanche
Jolo: Die philippinische Armee nimmt die Zivilbevölkerung als Geisel
Ziel der "Operation Sultan" sei die Befreiung der 19 Geiseln - zwei Franzosen, ein Amerikaner, 13 Filipinos und drei Malaysier. Kurz darauf wurde die Insel Jolo von der Außenwelt abgeriegelt. Über 3.000 Soldaten, darunter aus dem Norden des Archipels abkommandierte Eliteeinheiten, rückten mit Unterstützung von Kampfjets und Helikoptern gegen vermeintliche Stellungen der Abu Sayyaf außerhalb von Jolo City vor. Allein während dieser ersten Angriffswelle sollen etwa 120 Menschen getötet worden sein - hauptsächlich Zivilisten.
Mittlerweile sind sämtliche Verbindungen mit der Außenwelt gekappt: Telefonleitungen sind ebenso unterbrochen wie der Schiffs- und Flugverkehr von und nach Jolo. Im Landesinneren soll es nach Aussagen von Bürgermeistern, denen noch rechtzeitig die Flucht in die Hafenstadt Zamboanga geglückt war, zur panikartigen Flucht von Tausenden von Menschen gekommen sein. Vielen dieser Menschen bleibt nur die tödliche Wahl, entweder in ihren Ortschaften unter Artilleriebeschuss zu geraten oder auf der Flucht Opfer von Luftangriffen zu werden. Diese Art Kriegführung lässt nur einen Schluss zu: Sie soll möglichst fernab der Öffentlichkeit und total geführt werden. Es ist dies die Ausdehnung des erklärtermaßen "totalen Krieges" von Zentralmindanao auf Jolo.
Mitte März begann Manila mit seiner ersten militärischen Großoffensive in Zentralmindanao, um dort der mittlerweile bedeutsamsten und stärksten Organisation des Moro-Widerstandes, der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF), das Rückgrat zu brechen. Hauptziel war die Einnahme von deren Hauptquartier Camp Abubakar, eines von insgesamt 46 über ganz Mindanao verstreuten Camps. Das gelang am 9. Juli. Doch der Sieg erwies sich als Pyrrhussieg; heute steht Estrada in Mindanao vor einem Scherbenhaufen. Auf Dauer wird sich diese Region als instabil und entwicklungsresistent erweisen. Dabei hatte es seit 1994 hochtrabende Pläne gegeben, diese an Rohstoffen überaus reiche Region mit Teilen der Anrainerstaaten Indonesien, Malaysia und Brunei in ein Wachstumsdreieck zu verwandeln. Heute bleiben dort Investitionen aus und bereits in Aussicht gestellte Entwicklungshilfe, so beispielsweise aus Japan, ist vorerst auf Eis gelegt. Selbst militärisch sind die MILF-Verbände weit davon entfernt, von den Regierungstruppen in die Knie gezwungen zu werden. Stattdessen kehrten sie zur Strategie des Guerillakampfes zurück und ihr Vorsitzender Hashim Salamat rief zum jihad auf.
Zwei Kalküle verfolgte Manila mit der Eskalation des "totalen Krieges" im Süden des Archipels: Vermeidung des "Osttimor-Syndroms" und ein Ablenken von schweren innenpolitischen Krisenerscheinungen. Wiederholt schwadronierte Estrada über die "Pulverisierung" der "Moro-Sezessionisten" und glaubte sich damit gegenüber dem Rest des Inselstaates als starker Präsident zu profilieren, der trotz zahlreicher Kabalen und Korruptionsaffären wieder entschlossen das Heft des Handelns in die eigenen Hände nehme. Damit stellte der Präsident unter Beweis, dass seine Art von Krisenmanagement sich nicht wesentlich von der seines früheren politischen Mentors, des Diktators Ferdinand E. Marcos, unterscheidet.
Plötzlich zeigt man sich in Berlin "beunruhigt" über Manilas Handeln und Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac ist "absolut nicht einverstanden" mit der Dragonerpolitik seines philippinischen Amtskollegen, dem zuvor durchweg Friedfertigkeit bei der Lösung des Geiseldramas auf Jolo attestiert worden war. Befänden sich dort nicht noch zwei französische Geiseln, Mitarbeiter des staatlichen Fernsehens, in "Sicherheitsgewahrsam" der trüben Abu-Sayyaf-Truppe, kein Hahn krähte im Westen danach, was momentan auf Jolo geschieht.
Totaler Krieg unter Ausschluss der Öffentlichkeit
Erreicht Estrada wenigstens das Ziel, die Abu Sayyaf auszuschalten? Da sind Zweifel angebracht. Zunächst einmal gibt es nicht die Abu Sayyaf, sondern verschiedene Fraktionen, benannt nach den Orten ihres jeweiligen Operationsgebietes: die Patikul-, Talipao- und Basilan-Gruppe. Alle drei wiederum genießen in unterschiedlicher Weise Rückendeckung durch Lokal- und Regionalpolitiker und stehen zumindest in Kontakt mit philippinischen Geheimdienstkreisen, die in der Vergangenheit die Basilan-Fraktion unterwandert beziehungsweise zur Desavouierung des Moro-Widerstandes instrumentalisiert hatten. Die "akquirierten" Lösegelder von nahezu einer Milliarde Pesos, mehr als die im Staatshaushalt für diese von Massenarmut geprägte und vernachlässigte Region vorgesehene Summe, sind eine Beute, die es nunmehr in einem aufreibenden Prozess der "Vergütung" aller an diesem logistisch aufwendigen Kidnapping-Unternehmen Beteiligten zu verteilen gilt. Teile der Abu Sayyaf haben sich bereits nach Basilan abgesetzt. Und der Rest verfügt über Schnellboote, um die sie die philippinische Marine und Küstenwache beneidet.
US-Militärs sind mit von der Partie
Während Estrada den Marschbefehl für die "Operation Sultan" erteilte, weilte US-Verteidigungsminister William Cohen in Manila, um anschließend nach Jakarta weiter zu reisen. Cohen versprach seinem philippinischen Amtskollegen Orlando Mercado verstärkte Hilfe bei der "Terrorismusbekämpfung" und segnete Manilas Vorgehen in Jolo ab. Darüber hinaus befinden sich etwa 200 US-Amerikaner, Militärberater und Green-Berets-Elitesoldaten, in und um Zamboanga, das gleichzeitig Sitz des für die Region zuständigen Südkommandos der philippinischen Streitkräfte (SOUTHCOM) ist.
Die US-Präsenz wird mit dem im Sommer 1999 zwischen Washington und Manila getroffenen Visiting Forces Agreement (VFA) als "Routinebesuch" heruntergespielt. Das VFA sieht unter anderem vor, dass US-Truppen landesweit und auf unbestimmte Zeit Hafenstädte anlaufen und Flugplätze auf dem Archipel nutzen können. Gleichzeitig ist Jolo - nach der endgültigen Rückgabe der Panama-Kanalzone an Panama - als Dschungel-Trainingszentrum zur regionalen Aufstandsbekämpfung im Gespräch. Mit dem Verweis auf nationale Sicherheitsbelange, Stabilität und die Wahrung von innerer Ordnung ist in der Vergangenheit bekanntlich schon häufig Schindluder getrieben worden. Vielleicht ebnet Estrada mit seinem Vorgehen auf Jolo da "notwendige" Wege. Das jedenfalls wäre plausibler als seine vorgeschobenen Kriegsgründe.
Rainer Werning
(16./17. September 2000)