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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 443 / 26.10.2000

Zapatisten in der Sackgasse

Demokratisierung Mexikos schwächt EZLN

Es ist schon erstaunlich: Am ersten Dezember steht der Amtsantritt des Konservativen Vicente Fox zum neuen Präsidenten Mexikos bevor und die als linke Kommunikationsweltmeister geltenden Zapatisten schweigen seit Monaten. Da musste die seit sieben Jahrzehnten übermächtige "Partei der Institutionalisierten Revolution" (PRI) bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen (Juli) sowie der Regionalwahl in Chiapas (August) schwere Niederlagen hinnehmen und der glänzende Rhetoriker Marcos gibt zur Wandlung des staatsautoritären Systems hin zum Parlamentarismus westlichen Zuschnitts öffentlich keine Einschätzung ab. Kein Wunder, dass Gerüchte über eine Spaltung der EZLN, ja sogar über eine Verhaftung von Marcos seitens der eigenen Leute ins Kraut schießen können. Warum hüllt sich die EZLN zu den wichtigsten politischen Umwälzungen, die Mexiko seit der Herausbildung der PRI als Staatspartei erlebt, in Schweigen?

Das Ausbleiben von Stellungnahmen ist umso gravierender, da die neuen Entwicklungen nicht nur die Staatspartei PRI aus den Entscheidungszentren drängen, sondern auch das Gewicht der zapatistischen Befreiungsbewegung erheblich reduzieren. Vom zeitweise gefährlichsten PRI-Gegner und maßgeblichem Katalysator der Demokratisierungsbewegung sinkt die EZLN, die sich 1994 aus dem Nichts direkt ins politische Zentrum katapultierte, wieder zu einer regional isolierten Kraft ab, welche die Anliegen radikalisierter indianischer Gemeinden vertritt. Wie ist das ausgeprägte auf und ab der Zapatisten zu erklären?

Zapatismus und Demokratisierung

Das politische Koordinatensystem Mexikos hat sich seit den Wahlen von Juli und August qualitativ verändert. Mit dem dreifachen und unerwartet deutlichen Sieg der konservativen PAN (Präsidentschaft: 42,5%; Parlament: 38,2%; Chiapas: 52%) wurde der Bruch mit dem Staatsparteiensystem vollzogen. Die Siege der Opposition, zu denen neben der Hauptgewinnerin PAN auch andere Parteien beigetragen haben, gehen mit dem dramatischen Bedeutungsverlust der seit Jahrzehnten unangefochten regierenden PRI einher. Damit sind einige wesentliche Bedingungen erfüllt, welche die Zapatisten jahrelang als notwendig für den "Übergang zur Demokratie in Mexiko" forderten.

Allerdings erfolgt die Demokratisierung der politischen Institutionen auf ganz andere Art und Weise als sich die Zapatisten vorgestellt haben: das autoritäre System reformierte sich nämlich von innen heraus und änderte seine Spielregeln so, dass die Wahlen des Jahres 2000 im Wesentlichen als frei, geheim und demokratisch qualifiziert werden können. Die Zapatisten dagegen sahen eine Reform des Staatsparteiensystems als unmöglich an. Deshalb wollten sie mit Wahlen, die sie in ihrem direkten Einflussbereich meist boykottierten, auch nichts zu tun haben. Ein Zitat von Marcos soll dies verdeutlichen: "Innerhalb der Spielregeln des Systems ist es nicht einmal möglich, ein Parteiensystem zu errichten, geschweige denn ein neues, gerechtes Modell der sozialen Organisation". Und einige Zeilen weiter: "In einem Wirtschaftssystem, das immer stärker von Monopolen bestimmt wird, kann das freie politische Spiel der Parteien nicht in einem System verwirklicht werden, das auf dem Monopol der Politik aufbaut: dem System der Staatspartei." (1)

Vom Vorteil
zur Falle

Die Zapatisten begründeten ihre tiefe Skepsis mit der Übermacht der PRI, der Schwäche der Opposition und der Abwesenheit der Bevölkerung als eigenständige Akteurin. "Dabei", so Marcos, "steht die gesamte Macht des Regierungs- und Unterdrückungsapparates, die Massenmedien, das Großkapital und der reaktionäre Klerus auf Seiten der PRI und auf der anderen Seite eine zersplitterte und vor allem untereinander zerstrittene Opposition." Eben weil die EZLN eine Reform des Staatsparteiensystems als nicht umsetzbar ansah, postulierte sie die historische Notwendigkeit einer demokratischen Revolution, die einen "demokratischen Raum" öffnen soll. Das Besondere sei nicht der Kampf um die Machtübernahme, sondern für eine "Revolution, die eine Revolution ermöglicht." (2) Die fehlende Demokratie Mexikos hatte also grundlegende Bedeutung für Konzeption und Strategiebildung der Zapatisten. Das entschiedene Eintreten der EZLN für die Demokratie verlieh ihrer seit jeher nur regionalen praktischen Präsenz landesweite Ausstrahlung und Relevanz. Denn um die Grundpfeiler friedliche Lösung des Konfliktes in Chiapas, Ablehnung der militärischen Repression und des Paramilitarismus sowie für die Demokratisierung Mexikos ließen sich seit 1994 immer wieder handlungsfähige Aktionseinheiten herstellen. Der gemeinsame Hauptgegner war die Staatspartei PRI, die als Verkörperung eines durch Autoritarismus, Repression und Korruption deformierten Staates galt.

Mit den Ergebnissen der Urnengänge in diesem Jahr ist den Zapatisten der zentrale politische Feind innerhalb Mexikos abhanden gekommen. Gegen die Gewinnerin der Wahlen, die "Partei der nationalen Aktion" (PAN), eine von ihren Wurzeln her klerikal-konservative Unternehmer- und Mittelstandspartei, lässt sich die von den Zapatisten bislang vorgetragene Demokratiekritik nicht in Anschlag bringen. Denn die PAN ist die älteste Oppositionspartei, die in der Vergangenheit selbst oft genug um Wahlsiege betrogen worden war. Dass die PAN in vielen Punkten - insbesondere in der Wirtschaftspolitik - mit der PRI übereinstimmt und sich phasenweise auch als Bündnispartnerin andiente, relativiert ihre Geschichte als Oppositionspartei kaum. Auch von der Wählerschaft wird die PAN nicht als Systempartei alten Stils gesehen. Selbst wenn sie es wollte, könnte sie nicht einfach die Staatsparteienfunktionen der PRI übernehmen.

Ohne Zweifel meinen Zapatisten und PAN etwas völlig Verschiedenes, wenn sie den Begriff Demokratie bemühen. Während die konservativen Neoliberalen auf die Sphäre politischer Institutionen und Mechanismen wie saubere Wahlen und funktionierenden Parlamentarismus abheben, der den Boden für die weitere Privatisierung und Weltmarktöffnung Mexikos bereiten soll, haben die Zapatisten die Demokratisierung der Gesellschaft im Auge: In einem Prozess von Mobilisierung und Selbstorganisierung soll ein neues Wirtschafts- und Sozialsystem jenseits marktradikaler Zumutungen aufgebaut werden. Genauere Vorstellungen existieren weder im Hinblick auf das wirtschafts- und sozialpolitische Modell noch über Art und Rolle der Institutionen, die den Demokratisierungsprozess steuern sollen.

Fehlende öffentliche Debatte

War es für die EZLN unter den Bedingungen eines autoritären und repressiven PRI-Staates bündnispolitisch von Vorteil, auf eine grundsätzliche Kritik der Produktionsverhältnisse zu verzichten und Demokratie sowie den Kampf um politische Artikulationsräume zur Leitlinie der eigenen Strategie zu erheben - ohne jedoch den eigenen Demokratiebegriff inhaltlich zu schärfen - so ist genau dies unter den geänderten Konditionen zur Falle geworden. Denn spätestens seit den Wahlen eignet sich die bislang praktizierte pauschale Form der Demokratiekritik nicht mehr als kleinster gemeinsamer Nenner für die Opposition. Da in näherer Zukunft eher mit der Stärkung formaldemokratischer Verfahrenselemente zu rechnen ist, kommt die EZLN an diesem für sie so wichtigen Punkt ins Schlingern. Da helfen auch Verweise auf Unregelmäßigkeiten, die da und dort vorkommen mögen, nicht weiter. Ebenso wenig kann eine radikale Interpretation von Demokratisierung, die ja in ausgeführter Form von den Zapatisten bislang noch gar nicht existiert, der EZLN kurzfristig aus der bündnispolitischen Zwickmühle helfen. Denn ein Demokratieverständnis, das auf eine umfassende gesellschaftliche Umgestaltung hinausläuft, ist in der Bevölkerung kaum verankert.

Angesichts der stark veränderten politischen Rahmenbedingungen scheint es weder zufällig noch besonders schwer erklärbar, warum zur militärischen Defensive, in der sich die Zapatisten seit einigen Jahren befinden, auch eine politische Defensive kommt. Die "tendenziell nachlassende gesellschaftliche Resonanz" (3) im Allgemeinen und das monatelange Schweigen der Zapatisten im Besonderen sind Ergebnis des Scheiterns ihrer bisherigen politischen Konzeption. Ihr Ansatz ist unter den neuen Bedingungen für eine Kraft mit landesweitem revolutionären Anspruch nicht länger tragfähig. Dass die EZLN als regionale Kraft und Interessensvertretung radikalisierter Indígena-Gemeinschaften mit der alten Orientierung weitermachen kann, ist sicher richtig. Dies wäre allerdings von der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung her mit dem Zapatismus der Jahre 1994 - 1996 nicht mehr vergleichbar.

Dass es in der EZLN unterschiedliche Ansichten darüber gibt, wie mit der neuen Lage zu verfahren ist, scheint logisch. Die Tatsache, dass sich die EZLN in einer historischen Umbruchsituation monatelang zu gar keiner Erklärung durchringen kann, liegt offenbar an internen Meinungsverschiedenheiten, die eine einheitliche Stellungnahme unmöglich machen. Bedenklich ist, dass es über den gesamten Sachverhalt keine öffentliche Debatte unter Zapatisten und ihren Bündnispartnern gibt. An diesem Punkt verhält sich die EZLN nicht anders, als viele der von ihr oft und gerne kritisierten ML-Sekten. Denn ob der Dissens unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Zentralkomitee oder einer Dorfversammlung "stillgelegt" wird, macht für die aus der Debatte Verdrängten keinen großen Unterschied. Dass dieser Umgang mit politischen Problemen nicht gerade demokratisch ist, muss wohl nicht extra betont werden.

Albert Sterr

Anmerkungen:

1) Subcomandante Insurgente Marcos: Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald. Hamburg 1996. S. 225.

2) Subcomandante Insurgente Marcos: a.a.O. S. 224 - 228.

3) Jens Winter: Entwicklung und Bedeutung des EZLN in Mexiko. In: Peripherie Nr. 76. Jahrgang 1999. Frankfurt/M. 12/1999, S. 23.