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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 443 / 26.10.2000

Wie die Staats-Antifa Tote zählt ...

und damit ihr Nicht-Handeln legitimiert

Für die Bundesregierung und besonders für das Bundesministerium des Innern (BMI) platzte am 14. September eine Bombe. Die Frankfurter Rundschau und der Tagesspiegel dokumentierten gemeinsam über mehrere Seiten und in Extra-Ausgaben, dass seit der Wiedervereinigung bis zum Sommer 2000 in der BRD mindestens 93 Menschen von Neofaschisten getötet wurden. Gleichzeitig enthüllten die beiden Zeitungen mit dieser Dokumentation aber auch, dass die rot-grüne Bundesregierung - ähnlich wie die alte Kohl-Regierung - nicht einmal ein Drittel dieser Fälle in ihrer offiziellen Statistik erfasst hat.

Unter dem öffentlichen Druck musste Bundesinnenminister Otto Schily anschließend "Erfassungsdefizite" einräumen. Schily teilte mit, das eine "Projektgruppe" gebildet worden sei, "in der das Bundeskriminalamt (BKA) und die Landeskriminalämter (LKÄ) Vorschläge zur Verbesserung der Erfassungskriterien und Bewertungspraxis einarbeiten". (Tagesspiegel, 14.9.)

Für das BMI wurden die so genannten Defizite bei der Erfassung und der Bewertung von rechtsextremen Gewalttaten in den nächsten Tagen der Rettungsanker schlechthin. Dabei handelt es sich bei diesen "Defiziten" keineswegs um irgendwelche irrtümlichen Versäumnisse der Bundesregierung. Die bisher gültigen Erfassungskriterien hat sowohl die alte, als auch die neue Bundesregierung in scharfer Auseinandersetzung mit der parlamentarischen Opposition vorgenommen. Insbesondere durch die Kleinen Anfragen der PDS-Bundestagsfraktion war die jeweils zuständige Bundesregierung immer wieder dazu gezwungen worden, zu neofaschistisch oder rassistisch motivierten Tötungsdelikten und Gewalttaten Stellung zu beziehen.

1996 hatte dies die alte Bundesregierung dazu veranlasst, ihre bis dahin gültigen Erfassungskriterien zu verändern. Damals sah sich Bundesinnenminister Kanther mit dem Problem konfrontiert, dass die Zahlen des BKA und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) weit auseinander gingen. Kanther verfügte, dass ab dem 1.1.1996 das BfV die Zahlen des BKA zu übernehmen habe. In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der PDS-Fraktion heißt es hierzu: "Bis Ende 1995 wurden rechtsextreme Gewalttaten sowohl beim BKA als auch beim BfV registriert. Dabei kam es auf Grund unterschiedlicher Informationsquellen zu teilweise unterschiedlichen Bewertungen und infolgedessen auch zu unterschiedlichen Fallzahlen." (1) Als Begründung für den Erlass wurde folgende Antwort gegeben: "Zur Gewährleistung einer Vergleichbarkeit der Fallzahlen im Jahresrückblick hat das Bundesamt für Verfassungsschutz daraufhin rückwirkend bis 1990 seine Statistiken entsprechend korrigiert." (2)

Vertuschen, verheimlichen, fälschen ...

Konkret bedeutet dies: Während das BfV sich auch auf die Auswertung von Zeitungen und anderer Informationsquellen gestützt hatte, bekam und bekommt das BKA seine Zahlen über die Sondermeldedienste der LKÄ und verwertet auch nur diese gemeldeten Zahlen.

In der Folge ließ die Bundesregierung zehn rechtsextrem motivierte Tötungsdelikte aus der Statistik verschwinden. Führte die Bundesregierung bis 1996 für den Zeitraum von 1990 bis einschließlich 1993 insgesamt 21 Tötungsdelikte mit 23 getöteten Menschen auf, so wusste man nach diesem Erlass nur noch von 13 Toten und kam für den gesamten Zeitraum von 1990 bis 2000 auf nur 26 Menschen, die von Neofaschisten getötet worden sind.

Ergebnis des gleichen Erlasses war, dass auf diesem Wege 4.000 rechtsextreme Gewalttaten aus dem Zahlenwerk des BfV spurlos verschwanden. Der Pressesprecher des BfV erklärte zu diesem Vorgang: "Seit 1997 werden Sachbeschädigungen mit Gewaltanwendungen nicht mehr den Gewalttaten zugerechnet, die Vorjahreszahlen wurden entsprechend bereinigt." (taz, 21.9.2000) "Bereinigt" ist ein gute und treffende Beschreibung.

Die Bundesregierung ist offensichtlich bestrebt, das Problem der neofaschistischen Gewalt auf ein Problem der Statistik zu reduzieren. Dabei hat die Bundesregierung genau durch "Verbesserung" der Erfassungskriterien in der Vergangenheit die Gewalttaten der Neofaschisten und Rassisten in diesem Land geleugnet und ihre eigene Tatenlosigkeit auf diese Bereinigung gestützt.

Wie das vonstatten geht, kann man am Umgang der Bundesregierung mit den durch Neofaschisten getöteten Obdachlosen in seiner ganzen Tragweite nachzeichnen. Konfrontiert mit der Tatsache, dass in der Dokumentation der FR und des Tagesspiegel seit Anfang 1999 bis zum Juli 2000 allein sieben Tötungsdelikte angeführt wurden, offiziell aber nur von zwei Fällen dieser Art die Rede ist, antwortete die Bundesregierung: "Über Hetze gegen Obdachlose in rechtsextremistischen Parteien und rechtsextremistischen Publikationsorganen liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor. In der Neonazi- und Skinheadszene wird nach den vorliegenden Erkenntnissen die Einstellung gegenüber Obdachlosen kaum thematisiert". Und auf die präzise Frage "welche konkreten Maßnahmen die Bundesregierung ... ergriffen hat, um Obdachlose zu warnen und zu schützen", äußert die Bundesregierung verschwommen und vage: "Die Sicherheitsbehörden des Bundes leiten Informationen über eine mögliche Gefährdung von Obdachlosen, wie auch sonst in Fällen einer möglichen Gefährdung von Personen oder Einrichtungen, an die örtlich zuständigen Behörden weiter." (3) Da man aber keine Informationen hat, konnte man - so muss man schließen - auch nichts weiterleiten. Die Regierung sieht keinen Handlungsbedarf, die potenziellen Opfer bleiben weiter ungeschützt. So wirken sich die "Erfassungsdefizite" praktisch aus ...

Helmut Schröder

Anmerkungen:

1) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage "Erhebungen des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz über rechtsextreme Straftaten" vom 18.10.2000.

2) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage "Erfassungsmerkmale für Tötungsdelikte aus rechtsextremer und ausländerfeindlicher Motivation" vom 5.10.2000.

3) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage "Tatsächlich oder vermutlich rechtsextrem motivierte Tötungsdelikte gegen Obdachlose" vom 6.10.2000.