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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 443 / 26.10.2000

Die Grenzen des Selbstverständlichen

oder warum man Derrida gelesen haben wird

Es passiert immer mal wieder, dass besorgte Mitmenschen sich mir gegenüber warnend äußern, weil ja "Dekonstruktivismus und so" gewissermaßen gesundheitsgefährdend ist. Die Gefahr für Seele und Hirn sei nämlich offensichtlich. Denn dass alles, was unter dem Label "Poststrukturalismus" gehandelt wird, irgendwie angesagt ist, nährt den Verdacht mancher ZeitgenossInnen, hier würde es sich um eine neue Kapitalstrategie betreffs ideologischer Irreführung handeln. Obacht ist also angesagt. Auch schriftliche Beiträge von rechts, Mitte oder links, feministisch oder malestream, wollen bisweilen als Arzt oder Apothekerin zu Risiken und Nebenwirkungen in Sachen "post-" zu Rate gezogen werden. Nicht wenige dieser Enthüllungsreportagen zeichnen sich allerdings in erster Linie durch betrübliche Unkenntnis ihres Gegenstandes aus. Und auch philosophisch Interessierte assoziieren mit Vokabeln wie "Dekonstruktion" oder "différance" oft vor allem eins: Nebel.

Um kühne Erwartungen gleich zu dämpfen: Dieser Nebel wird auch hier nicht gelichtet werden. Einmal, weil die Anzahl der zulässigen Zeichen auf einer ak-Seite limitiert ist. Vor allem aber, weil das mit dem Licht bereits so eine Sache ist. Aber dazu später. Lediglich eine vorsichtige Orientierungshilfe im Dickicht um die Begriffe Dekonstruktion, Derrida und différance soll hier angeboten werden. Grundsätzliche Klärung: Derrida ist der Name des Entdeckers, wenn man so will, die Dekonstruktion ist ein Verfahren, wenn man so will, die différance... ist ein Problem, denn die différance ist nicht, und das ist das einzige, was man ganz sicher über sie weiß.

"... die différance ist nicht. Sie ist kein gegenwärtig Seiendes, so hervorragend, einmalig, grundsätzlich oder transzendent man es wünschen mag. Sie beherrscht nichts, waltet über nichts, übt nirgends eine Autorität aus."

So weit le maître himself. Folgendes lässt sich noch am ehesten über diese Derridasche Wortschöpfung sagen: Es handelt sich um ein ziemlich groß angelegtes Unternehmen, denn die différance soll gewissermaßen die metaphysischen (1) Fundamente westlichen Denkens untergraben: Das von der différance angezeigte paradoxale Denken soll lieb gewordene und angeblich ahistorische "Gegebenheiten" wie Wahrheit, Vernunft, Identität, Subjekt konsequent zurückzuholen in die Geschichte. Was es dazu braucht, ist eine radikale Konzeption von Sprache.

Der französische Linguist Ferdinand de Saussure entwarf schon vor gut hundert Jahren eine Theorie sprachlicher Zeichen, die bis dahin gültige Vorstellungen vom "Wesen" der Sprache revolutionierte. De Saussure stellte klar, dass es keinen inneren Zusammenhang zwischen einem Begriff und den durch ihn bezeichneten Gegenstand gibt. Baum heißt nicht Baum, weil Baum so baumig klingt, sondern weil es nicht Traum, nicht Saum und nicht Raum ist. Begriffe sind als einzelne Einheiten folglich nicht fassbar, sondern müssen als Elemente eines Systems gedacht werden. Derrida führt diesen Gedanken in seiner Lektüre de Saussures konsequent weiter, um ihn dann (in guter dekonstruktivistischer Manier) so weit zu denken, bis die Grundannahmen de Saussures kollabieren: Wenn sprachliche Zeichen erst in Differenz zu anderen sprachlichen Zeichen Bedeutung erlangen, dann kann Sprache nicht, wie de Saussure noch glaubte, ein endliches und geschlossenes System sein. "Bedeutung" ist demnach nicht mehr und nicht weniger als eine relative Größe in einem unbegrenzten System und sie findet nirgends einen gesicherten Bezugspunkt in der "Realität".

Das ist übrigens leicht zu überprüfen: Man schlage ein beliebiges Wort im Duden nach und stelle fest, dass die Erklärung auf weiteren Wörtern basiert, deren Bedeutung an anderer Stelle erklärt wird. Zu keinem Zeitpunkt wird man auf der Suche nach dem einen "Urwort" fündig werden. Welche Bedeutung ein Begriff hat, entscheidet sein Kontext: Selbst scheinbar eindeutige Begriffe wie beispielsweise ,Krüppel` können als Diffamierung oder als politischer Kampfbegriff benutzt werden - je nachdem.

"Wir möchten vielmehr die Grenzen und Voraussetzungen dessen aufzeigen, was hier für selbstverständlich gehalten wird ..."

Fragt sich nur, wo das Subjekt geblieben ist. Die Rede vom Tod des Subjektes wird ja immer wieder gerne falsch Foucault in den Mund gelegt und als Beleg für den fiesen poststrukturalistischen Nihilismus herangezogen. Von Derrida stammt der Spruch auch nicht. Kann er auch gar nicht, denn sein Problem ist gar nicht, ob "das Subjekt" existiert oder nicht (das ist eher ein Problem der MetaphysikerInnen). Ihn interessiert, unter welchen Bedingungen ein Subjekt sprechen kann.

Der Sprachphilosoph John Austin unterscheidet in seiner "Theorie der Sprechakte" verschiedene Formen des Sprechens. Seine Idee des "performativen Sprechaktes" bezeichnet ein Sprechen, das in bestimmter Weise Handeln ist. Damit denkt Austin Sprache nicht schlicht als Abbild von Realität, sondern auch als Herstellung von Realität - und zwar so: Sag ich zu meinem Kollegen, "bitte unterlasse das Rauchen", dann hört er hoffentlich auf, mich vollzuquarzen. Äußert ein Richter den Satz "ich verurteile dich", so ist das Urteil vollzogen (2).

Aber auch Austin wusste, dass die Gefahr des Scheiterns solcher Sprechakte groß ist. Mein Kollege kann rücksichtslos sein, und der Richter kein Richter, sondern ein spielendes Kind. Denkbar auch, dass der erste Satz zitiert wird in einer Persiflage auf lustfeindliche Nichtraucher oder der zweite Satz in irgendeinem Lied. Beide Sätze könnten schlicht Zitate sein. So weit, so einfach. Kompliziert wird es erst, wenn man Austin wiederum ernster nimmt als er sich selbst: Was, wenn die Möglichkeit des Misslingens nicht wie bei Austin eine Art Unfall, sondern in jede Form des Sprechens eingeschrieben ist? Wenn dies eine weitere Grundbedingung von Sprache ist: dass nicht nur einige, sondern alle sprachlichen Zeichen Zitate sind - Zitate, die allerdings, nie auf ein Original zurückgeführt werden können? Ja, was dann? Man ahnt es schon. Dann sind wir wiederum bei Derrida gelandet: Jedes sprachliche Zeichen trägt wegen der Zitatförmigkeit von Sprache immer Vergangenes und Zukünftiges in sich und weist so über den Moment des Sprechens hinaus. Ich sage immer mehr als ich meine, weil ich immer Bedeutungen mit aufrufe, die bereits lange vor mir existierten, und ich kann nicht wissen, was in Zukunft mit meinen Wörtern passiert. Wer spricht also? Jedenfalls nicht ich allein. Vor allem bestimme ich nicht diese Bedingungen des Sprechens. Sondern eben diese uneindeutigen, zerstreuten und vielfältigen Bedingungen von Sprache ermöglichen mein Sprechen. Ich spreche, indem ich gesprochen werde.

"Es wird keinen einzigartigen Namen geben, und sei es der Name des Seins. Und das muss ohne Nostalgie gedacht werden ..."

Wenn es schon keine abgesicherten und ein für allemal feststehenden Bedeutungen von Begriffen gibt, liegt scheinbar die Annahme nahe, Bedeutungen von sprachlichen Zeichen und überhaupt so ziemlich alles sei "beliebig" - jedenfalls ist das eine gern genommene, wenn auch nicht sonderlich originelle Kritik an poststrukturalistischer Theorien. Aber Derrida denkt einen Diskurs als Sprechweise, die zumindest in der westlichen Denktradititon unerlässlich - und eben nicht beliebig - auf ein "Außen" angewiesen ist. Sein Anliegen ist es erstens nachzuweisen, dass dieses Außen immer auf einem recht gewaltsamen Ausschluss des Abweichenden basiert. Zweitens, dass es trotz dieser Gewalttätigkeit eigentlich fiktiv ist, weil jeder Diskurs bereits von seinem Verworfenen "verunreinigt" ist. Und drittens führt er vor, wie man damit sinnvollerweise umgeht: Man gräbt das Ausgeschlossene konsequent aus dem Diskurs heraus und konfrontiert diesen dann damit, bis die jeweilige Ordnung des Diskurses schließlich ganz wunderschön zusammenkracht. Das Ganze ist bisweilen recht kompliziert und nennt sich Dekonstruktion. Beliebtes Objekt der Dekonstruktion sind Oppositionen. Mann/Frau, innen/außen, Natur/Kultur, Licht/Dunkel. Setzt man diese Begriffs-Pärchen der différance aus, wird ihre wechselseitige Abhängigkeit ebenso sichtbar wie das Gefälle zwischen den jeweiligen Polen. Deswegen tappen dekonstruktive Denkbewegungen eher vom Licht in den Nebel als umgekehrt. Worum es geht, ist nicht zuletzt, gesellschaftliche Macht konsequent als Bedeutungsmacht denken zu können. Ein auf diese Weise erweiterter Machtbegriff ist beispielsweise unabdingbar, wenn man verstehen will, wie Rassismus funktioniert.

"Sehr schematisch: eine Opposition metaphysischer Begriffe (...) ist nie die Gegenüberstellung zweier Termini, sondern eine Hierarchie ..."

Richtig ist leider, dass viele Derrida- und Postmoderne-Fans regelmäßig vergessen, dass es bei Dekonstruktion nicht um Spiel, Sprache und Fleißkärtchen geht, sondern um eine philosophisch informierte Praxis der Gesellschaftskritik. Gerne wird auch übersehen, dass man schlecht einerseits gegen Transzendenz und Metaphysik vorgehen kann und stattdessen die différance zur Möglichkeitsbedingung von Subjekt, Bedeutung, kurz Gott und der Welt erklären kann. Die différance erklärt eben nicht die Welt. Allenfalls, warum solche Welterklärungen nie wahr sind. Vor allem aber fordert dekonstruktives Denken dazu auf, in Kleinarbeit den gewalttätigen Charakter gerade auch vieler humanistischer "Menschenbilder" nachzuweisen und das zu benennen, was sie systematisch verwerfen. Dass vermeintlich neutrale Bilder "des" Menschen im Recht, in der Linken, in der Philosophie, in der Wissenschaft oft nicht mehr sind als die Reproduktion einer speziellen Vorlage: weiß, männlich, hetero, christlich säkularisiert, Mittelklasse, fit for fun, gefühlsarm und so weiter, haben Feministinnen in diesem Sinne bereits des öfteren vorgeführt.

Schließlich: Wenn jede Aussage immer schon unterlaufen wird von dem, was sie nicht zu sein vorgibt, dann heißt das zum Beispiel, dass die soliden "Wahrheiten" (das Sein bestimmt das Bewusstsein, my body myself, oder was auch immer) auf die sich manche WarnerInnen vor der Postmoderne beziehen, in echt vielleicht gar nicht so solide sind, wie sie gerne wären. Vielleicht sind sie sogar furchtbar flüchtig - und das Erschrecken darüber kehrt dann in umgekehrter Gestalt als Furcht vor der vermeintlichen Unbeständigkeit eines dekonstruktiven Denkens zurück.

Was allerdings stimmt, ist, dass Derrida herkömmliche Lesegewohnheiten ganz schön strapaziert. In der Regel leuchten seine Texte keineswegs ein, denn sie führen von der Illusion der Eindeutigkeit in eine unerhörte Zahl desillusionärer Vieldeutigkeiten. Beruhigenden Halt in Definitionen und heimeligen These-Antithese-Synthese-Abläufen verweigern sie. Irritierend häufig lassen sie den Futur II zum Einsatz kommen. So winden sich die Sätze in zeitlichen Schleifen, und das muss wohl so sein. Denn ebenso wenig wie die einfache Präsenz ist die einfache Vergangenheit oder Zukunft denkbar.

So erklärt sich schließlich, warum man Derrida nicht liest, nicht lesen wird, noch jemals las. Warum man ihn, immer schon und niemals ganz, gelesen haben wird.

Stefanie Gräfe

Anmerkungen:

1) Metaphysik ist das, was (angeblich) hinter der sinnlich erfahrbaren Welt liegt: "der letzte Grund". Dekonstruktive Kritik metaphysischen Denkens bedeutet aber gerade nicht, sich vollständig auf die "Erfahrung" zu verlassen. Es bedeutet vielmehr, die Opposition Metaphysik/Erfahrung kollabieren zu lassen und nachzuweisen, dass sowohl Erfahrung wie Metaphysik im Kontext von Sprache differenziell hervorgebracht werden.

2) Bei Austin nennt sich das "Perlokution" und "Illokution". Eine poststrukturalistische Theoretikerin, die sich intensiv mit Austins Sprechakten befasst, ist Judith Butler, insbesondere in: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998.

Literatur:

John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979

Jacques Derrida, Die différance, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hrsg. von Peter Engelmann, Stuttgart 1990 S.76-113

Jacques Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S.291-314

Jörg Lagemann, Klaus Gloy: Dem Zeichen auf der Spur. Derrida. Eine Einführung, Aachen 1998

Ferdinand de Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. von Charles Bally und Albert Sechehaye, Berlin/Leipzig 1931

Urs Stäheli, Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld 2000