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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 443 / 26.10.2000

Blinkender Turnschuh

Die Anthologie Morgen Land: Astronauten auf Planetensuche oder: Wo ist die Mehrheitsgesellschaft?

"Wenn ein Beschleunigungselement auf die Trägheit der Verhältnisse wirkt, entsteht eine Aura", philosophiert Jamal Tuschick, Herausgeber der Anthologie Morgen Land im Nachwort über die Kanakster-Kultfigur im progressiven deutschen Literaturbetrieb, Feridun Zaimoglu. Das Zitat ist jedoch Programm des ganzen Buches. Oder profaner ausgedrückt: Morgen Land ist wie diese Turnschuhe, deren Sohle aufblinkt, wenn der Fuß sie auf die Straße drückt, und die insbesondere bei Kids aus Berlin-Wedding oder Köln-Chorweiler angesagt sind.

Um blinkende Turnschuhe geht es auch in Sylvia Szymanskis Kurzgeschichte In und außer Gefahr, über eine Agentur-Babysitterin, die ihren Arbeitsalltag als erotisch-sinnliches Universum erlebt, mal wohlig, mal bedrohlich. Allerdings ohne den selbstbezüglichen Krampf einer vom Patriarchat beleidigten Barbara Duden. Doch zurück zu den blinkenden Turnschuhen: Die trägt Maik, ein kleiner Vokuhila (Vorne-kurz-hinten-lang)-Macker par excellence, an die Erzählerin zum Aufpassen vermittelt. Im Übrigen gehört diese Geschichte zu den besten der insgesamt misslungenen Anthologie. Misslungen nicht wegen der teilweise sogar wunderbaren Prosa-Zusammenstellung vornehmlich junger Autoren, sondern wegen des überspannten Anspruchs.

Laut Fischer-Verlag und Tuschick sollte Morgen Land die Avantgarde der "ethnischen Ränder" der bundesdeutschen Gesellschaft versammeln, die sich der Mehrheitsgesellschaft offensiv zuwendet und deren Glück der späten Geburt ihnen die intellektuellen und didaktischen Krämpfe ihrer Vorgänger aus der Einwanderergeneration erspart. Autoren also, die eine "flottierende Anschauung von Herkunft und Differenz haben", weil - so Tuschicks These - "die deutsche Literatur an den ethnischen Rändern intensiv befruchtet wird."

Beim Stöbern in Morgen Land vernebelt sich allerdings zunehmend die Vorstellung vom Verlauf der Ränder und dem Ort der Mehrheitsgesellschaft, von der sich die als randständig angekündigten Autoren unterscheiden sollen.

Bleiben wir bei In und außer Gefahr von Sylvia Szymanski (die im Übrigen vom Niederrhein stammt, einer Gegend, in der etwa jeder Dritte einen polnischen Nachnamen trägt). Das Setting ist ein überfülltes Freibad im Sommer, einer der besten Plätze der Welt für Studien zur Mehrheitsgesellschaft: Ein Sonntagnachmittag im Juli auf der versengten Liegewiese des Neuköllner Columbia- oder Kreuzberger Prinzenbades reicht schon aus, um zu wissen, was und wo Mehrheitsgesellschaft ist - und auch, dass sich dort die Jogginghosen-Prolls der hundertsten und die Jogginghosen-Prolls der dritten Generation in Deutschland kaum im Habitus unterscheiden - und oft ebenso wenig in der politischen Gesinnung.

Auch in der Story von Zoran Drvenkar, Zuckerfrei, in der Er nach einer entnervenden Club-Nacht mit Ihr (Lisa) von Ihr ordentlich gevögelt wird - und anschließend umgekehrt - ist beim besten Willen keine ethnische oder kulturelle Randständigkeit zu erkennen, sondern eigentlich nur die Begrenztheit männlicher Vorstellungswelten zum Thema Heterosex. Dass Lisa bekokst, etwas schrill und ihr Mascara verlaufen ist, dient zwar der von Tuschick viel gepriesenen Street-credibility, nicht aber einem originellen Plot.

Morgen Land blinkt, nicht weil der Band multikulturell oder an die ethnische Peripherie, sondern weil er multiperspektivisch angelegt ist. Und er blinkt auf Grund jener Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der Sprache der Straße, die Tuschick Street-credibility nennt. Das könnte die Klammer sein, wären da nicht auch Schriftsteller wie der ästhetisch konservative Maxim Biller mit seinem altmodischen Pathos. Als jüdischer Autor ist er jedoch einer der ganz wenigen, der den überstrapazierten Begriff der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft mit Inhalt füllen kann: als Kollektiv der Auschwitz-Verdränger: "Die meisten meiner nichtjüdischen Kollegen aber ignorieren, im Gegensatz zu den jüdischen Schriftstellern deutscher Sprache, die kollektive Erinnerung ihres eigenen Volkes." (S. 175)

Allein wegen Biller hätte darauf verzichtet werden sollen, die Anthologie im Untertitel neueste deutsche Literatur zu nennen. Dass es um neueste deutschsprachige Literatur geht, merkt aber lediglich Raul Zelik auf Veranstaltungen immer wieder an, der mit einer ziemlich unterhaltsamen Geschichte über männliche Ehre, rumänische Tagelöhner, Jogginghosenträger mit und ohne Migrationshintergrund sowie schusselige Schuldeintreiber vertreten ist.

Aber "neueste deutsche Literatur von den ethnischen Rändern" lässt sich natürlich auch besser vermarkten als etwa "neueste deutschsprachige Literatur unter Ausschluss der Henkerkinder". So hatte auch Feridun Zaimoglu - der natürlich in Morgen Land nicht fehlen darf - Mitte der 90er Jahre mit Kanak Sprak unter anderem bestimmt ordentlich das weißdeutsche Kultur-Establishment provoziert. Heute gilt er wohl eher als genrebildend.

Die in Morgen Land versammelten Autoren repräsentieren mit ihren Biografien und Themen ein so breit gefächertes Spektrum an sozialen und kulturellen Erscheinungsformen, dass sie nicht Träger von Zukunftsvisionen sind - wie es Tuschick pathetisch nennt -, sondern von Gegenwartssituationen einer Zweidrittelminderheit in der Bundesrepublik - die (und das merkt Tuschick auch richtig an) im etablierten Literaturbetrieb natürlich konsequent übersehen werden.

Aber Literatur von jungen Autoren - wenn wir nicht von niveagesichtigen Rollkragenpulloverträgern reden, die larmoyant mit Anekdoten über die Ödnis des Erfolges in der Konsumgesellschaft langweilen - bewegt sich doch immer abseits vom, ja peripher zum Bildzeitunglesenden Massenpublikum.

Oder verläuft die Grenze zwischen Mehrheitsgesellschaft und Rändern doch auch noch ganz woanders, wie etwa Sylvia Szymanski meint: "Man muss sich unheimlich anstrengen, um für einen Jungen das zu sein, was Bier für ihn ist." (S. 288) Aber das ist ja ein ganz anderes Thema.

Stefanie Kron

Jamal Tuschick (Hrsg.): Morgen Land. Neueste deutsche Literatur, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, 302 Seiten, DM 19,90