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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 444 / 23.11.2000

Zivilisation und Barbarei

Enzo Traversos Aufsätze über Auschwitz und die Defizite des Marxismus

Worin besteht die Singularität von Auschwitz? In der Verbindung eines "modernen Rassismus" mit der "destruktiven Technik einer industriell entwickelten Gesellschaft", schrieb der 1995 verstorbene Marxist Ernest Mandel. Enzo Traverso greift diese Antwort auf: "Bis jetzt hat sich solch eine fatale Verbindung aus Rassenhass und industrieller Modernität nur in Deutschland ergeben, im Ausnahmerahmen des Nationalsozialismus und des Krieges, doch nichts beweist, dass sie sich nicht eines Tages anderswo wiederholen kann."

In Enzo Traversos Aufsatzsammlung "Nach Auschwitz" geht es ausdrücklich um "die Linke und die Aufarbeitung des NS-Völkermordes", so der Untertitel. Der Autor - 1957 in Norditalien geboren, seit Jahren Politologe in Paris - macht schon im Vorwort deutlich, dass sein Thema unbewältigt ist - nicht nur hinsichtlich der aus "Auschwitz" zu ziehenden Lehren; auch die bisher gegebenen Erklärungen für den Mord an den europäischen Juden hält er für unzureichend - gerade die von AutorInnen, die sich in den "geistigen Traditionen des Marxismus" bewegen. Zu diesen gehört Traverso selbst auch; sein Buch hat er Ernest Mandel gewidmet, "dem revolutionären Intellektuellen, dem ,nicht-jüdischen Juden`, dessen Leben und Werk mich gelehrt haben, was Internationalismus ist."

Einzigartig bedeutet nicht unvergleichlich

Am Marxismus kritisiert Traverso die "Unfähigkeit ..., den Völkermord an den Juden überhaupt wahrzunehmen und dann zu denken"; das lasse "erhebliche Zweifel an der Relevanz seiner Antworten auf die Herausforderungen des 20. und 21. Jahrhunderts aufkommen". Es geht Traverso also auch um die Zukunftsfähigkeit marxistischen Denkens und sozialistischer Politik: "Kein Projekt menschlicher Emanzipation kann das Tageslicht erblicken, ohne die Unmenschlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu begreifen und ohne die Lektionen von Auschwitz zu lernen." Auschwitz ist der Völkermord, "bei dem der Rassenhass praktisch das einzige und ausschließliche Motiv darstellte". Seine Verwirklichung aber implizierte "administrative, technische und industrielle Strukturen, also eine für den modernen Kapitalismus typische ,Rationalität`". Zu den Bedingungen, die Auschwitz möglich machten, gehört für Traverso die moderne "Zivilisation", die auch nach dem Ende des NS-Regimes fortbesteht. Die Grundlagen dieser "Zivilisation" wurden aber vom traditionellen Marxismus nie in Frage gestellt - im Gegenteil: Die marxistische Kritik am Kapitalismus basiert auf der These, dass dieser die Entfaltung der Produktivkräfte behindert, "irrational" wird und daher im Interesse der ökonomischen Entwicklung überwunden werden müsse. Auch diejenigen Marxisten, die, wie Lenin, an der Revolution fest hielten, wollten mit dem Aufbau des Sozialismus "die bürgerliche Zivilisation keineswegs umwerfen, sondern sie vielmehr vollenden und ,überholen`".

In der hier notwendigerweise verkürzten Darstellung könnte es scheinen, als wolle Traverso die früher beliebte Parole "Kapitalismus führt zum Faschismus" durch den Slogan "Zivilisation führt zum Völkermord" ersetzen. Nicht ist falscher als dieser Eindruck. Denn auch der Völkermord an den europäischen Juden war nicht unausweichlich, sondern an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft. Dass er ein singuläres Ereignis war, bedarf aus Traversos Sicht eingehender Begründung. Um die zu liefern, vergleicht er ihn mit anderen Völkermorden des 20. Jahrhunderts - "einzigartig" bedeutet nicht "unvergleichlich". Den wesentlichen Unterschied zwischen der Shoah und dem Massenmord in den sowjetischen Lagern definiert er so: "Auschwitz bedeutet die durch ein ideologisch geprägtes Konzept begründete Vernichtung, die mit industriellen und bürokratischen Methoden geplant, überwacht und ausgeführt wurde." Dagegen war der "Gulag ... eine Form der Vernichtung ohne Theorie, die sogar im Widerspruch zu den Prinzipien des Regimes, das ihn praktizierte, stand." Knapper kann man es nicht auf den Punkt bringen.

Was die historische Einzigartigkeit von Auschwitz angeht, schließt Traverso sich der unter den Historikern dominierenden Meinung an: "Der Völkermord an den Juden war ... der einzige, bei dem die Vernichtung der Opfer kein Mittel, sondern Selbstzweck war." Aus dieser Einsicht dürfe aber keine Hierarchisierung der Opfer abgeleitet werden; zwar müsse der Historiker das kollektive "jüdische Gedächtnis" respektieren und verstehen lernen, er dürfe sich diesem aber nicht unterwerfen. Was damit gemeint ist, fasst Traverso noch einmal im Schlussabsatz des Abschnitts über die Einzigartigkeit von Auschwitz zusammen: "Die beste Art und Weise, die Erinnerung an einen Völkermord im Gedächtnis zu bewahren, besteht sicher weder darin, die anderen Völkermorde zu leugnen, noch die Shoah religiös zu verklären. Die Shoah hat heute ihre Dogmen - ihre Unvergleichlichkeit und ihre Unerklärlichkeit, die zu normativen Prinzipien erhoben werden - und ihre gefürchteten Tempelwächter. Die Einzigartigkeit von Auschwitz anzuerkennen kann nur einen Sinn haben, wenn die Anerkennung dazu beiträgt, eine fruchtbare Dialektik zwischen der Erinnerung an die Vergangenheit und der Kritik an der Gegenwart in Gang zu setzen mit dem Ziel, die vielfältigen Verbindungslinien zu erhellen, die unsere Gegenwart mit der noch nicht weit zurückliegenden Welt verknüpfen, in der dieses Verbrechen begangen wurde."

Rassenwahn
und Rationalität

Diese Aussage soll provozieren. Insbesondere der Seitenhieb gegen die "Tempelwächter" ist geeignet, dem Autor Beifall von der falschen Seite einzubringen - von denen, die, wie Martin Walser, jüdischen Repräsentanten die "Instrumentalisierung von Auschwitz zu gegenwärtigen Zwecken" vorwerfen und das Ende der deutschen "Unterwerfungsrituale" fordern. Unbedingt richtig scheint mir Traversos Forderung, bei der Auseinandersetzung um die Vergangenheit, dem Bemühen um "Verstehen" die Gegenwart nicht aus den Augen zu verlieren: Historische Singularität von Auschwitz bedeutet ja nicht Unwiederholbarkeit. Auch sollte das kalkulierte Geschwätz der Herren Fischer und Scharping uns nicht dazu verleiten, tatsächliche Völkermorde zu bagatellisieren, weil sie, gemessen an der Shoah, "minderschwere Fälle" sind.

Dass eine Wiederholung nicht auszuschließen ist, haben große Intellektuelle schon frühzeitig erkannt. Primo Levi, der Auschwitz überlebte, kleidet seine Warnung und die Botschaft der mit ihm Geretteten in die schlichten Worte: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben." (Schlusswort zu "Die Untergegangenen und die Geretteten", Turin 1986) Theodor W. Adorno hat in seinem berühmten Vortrag "Erziehung nach Auschwitz" (1966 für den Rundfunk geschrieben) ebenfalls die Möglichkeit der Wiederholung eingeräumt: "Morgen kann eine andere Gruppe drankommen als die Juden, etwa die Alten, die ja im Dritten Reich gerade eben noch verschont wurden, oder die Intellektuellen oder einfach abweichende Gruppen." Ausdrücklich weist er auch auf die Gefahr hin, dass die "Zivilisation", welche die Atombombe hervor gebracht hat, die zynisch so genannte "Bevölkerungsexplosion" mit wirklichen "Gegenexplosionen" einzudämmen versuchen könnte. Schon damals hob Adorno hervor, dass "die Grundstrukturen der Gesellschaft und damit ihrer Angehörigen, die es dahin (nach Auschwitz) gebracht haben, heute die gleichen sind."

Traverso, der an Adorno anknüpft, muss daher auch Goldhagen widersprechen, dessen eindimensionale Erklärung der Shoah eine Wiederholungsgefahr ausschließt: "Da die Deutschen heute aber - wie er (Goldhagen) uns im Vorwort seines Buches erklärt - mit ihren Vorfahren vor 1945 (wegen der von der amerikanischen Besatzungsmacht seit 1945 durchgeführten demokratischen Umerziehung, so sagt er) nichts mehr gemein haben, brauchen wir uns wegen des Aufschwungs des Rassismus am Ende des 20. Jahrhunderts nicht zu sorgen. Nachdem das deutsche Genozid-Syndrom einmal geheilt ist, ist Europa vor einer Wiederholung (in anderen Formen, unter anderen Umständen, mit anderen Opfern) einer Katastrophe wie während des Zweiten Weltkriegs sicher." In seiner wohl begründeten Ablehnung von Goldhagens These geht Traverso allerdings zu weit, wenn er schreibt: "Auschwitz war kein Ausbruch einer bestialischen und primitiven Gewalt, sondern eine dank eines geplanten industriellen Systems ,ohne Hass` vorgenommene Massentötung." Richtig scheint mir vielmehr, was Traverso einige Seiten davor, in Anknüpfung an Ian Kershaw, so formuliert: "Der Weg, der nach Auschwitz führte, ... war sicherlich ein Produkt des Hasses, vor allem aber war er ,mit Gleichgültigkeit gepflastert`."

Eine ethische Neudefinition
des Sozialismus

Insgesamt ist Traversos Buch nicht frei von Fragwürdigkeiten und Fehlern. So behauptet er etwa, der Antisemitismus hätte "im Programm der Nazis in den frühen zwanziger Jahren ... keinen wichtigen Platz eingenommen." Wie ein Blick in das NSDAP-Programm von 1920 zeigt, ist das Gegenteil richtig. "Kein Jude kann daher Volksgenosse sein", heißt es unter Punkt 4; "Wucherer" und "Schieber" - eine Chiffre für Juden - seien "mit dem Tode zu bestrafen" (Punkt 18); das Judentum verstoße gegen "das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse", und die Partei bekämpfe "den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns" (Punkt 24). Richtig ist allerdings auch, dass die NSDAP zeitweilig ihren Antisemitismus zu Gunsten sozialer Demagogie zurückstellte - etwa um in Wahlkämpfen proletarische Schichten anzusprechen. Traversos Aussage bezieht sich aber nicht auf die Realpolitik, sondern auf das Programm. Ebenso fragwürdig ist, dass er den sog. "Madagaskar-Plan" für bare Münze nimmt und behauptet, dass Hitler in der französischen Kolonie "vier Millionen Juden ansiedeln wollte." Dass dieses Projekt "von Anfang an nur Tarnung und Spielmaterial war", wurde in dieser Zeitung ausführlich begründet. (vgl. ak 405)

Ungeachtet solcher Schwächen ist Traversos Buch äußerst anregend, weil wesentliche Fragen dort wirklich diskutiert und nicht einfach als "längst geklärt" abgehakt werden. Das gilt auch für den Aufsatz "Sozialismus und Ethik", aus dem ein Abschnitt in ak 443 dokumentiert wurde, und für das kurze Schlusswort. Die von Traverso geforderte "ethische Neudefinition des Sozialismus" bleibt dabei notgedrungen thesenhaft. Der Sozialismus könne nicht länger als "historische Notwendigkeit" verstanden werden. Er ist vielmehr eine "moralische Notwendigkeit" - schon für Walter Benjamin, den Traverso zitiert, war die Revolution nicht die "Lokomotive der Weltgeschichte", sondern vielmehr "der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse".

Von Benjamin übernimmt Traverso auch einen weiteren Gedanken, der im Widerspruch zum traditionellen marxistischen Fortschrittsglauben steht: "Der Wille, zu kämpfen und Opfer zu bringen, ,nährt sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel`". Die von Rosa Luxemburg formulierte Alternative "Sozialismus oder Barbarei" stelle sich heute anders als 1918: "Dieses Jahrhundert hat die moderne Barbarei kennen gelernt: Sie ist nicht nur möglich, sondern unauflöslich mit einer Zivilisation verbunden, die die unsere ist." Diesen Zusammenhang herauszuarbeiten, definiert Enzo Traverso als Aufgabe eines "Marxismus nach Auschwitz".

Js.

Enzo Traverso: Nach Auschwitz.
Die Linke und die Aufarbeitung des
NS-Völkermordes; Köln (ISP) 2000,
220 Seiten, 29,80 DM