Der Idiot und der Lügner
Der US-Wahlkampf - eine müde Show mit schwachen Darstellern
Obwohl schon vorher feststand, dass es knapp werden
würde, kann die letzte Phase der
"Campaign 2000" kaum heiß genannt werden. Denn weit mehr noch als
in anderen bürgerlichen Demokratien ist der Wahlkampf in den USA
kein Streit um Politik, sondern ein Wettbewerb um den besseren
Stil. Das Land befindet sich im längsten Wirtschaftsboom seiner
Geschichte, und beim Wahlvolk herrscht entpolitisierte Apathie. Die
damit verbundene Sucht nach Unterhaltung und Harmonie schlug sich
auch im Wahlkampf nieder.
So gaben Wähler in Umfragen offen zu, gegen ihre Interessen wählen zu wollen. Eine immer wieder zitierte Wählerin sagte zum Beispiel, sie sei "radikal" gegen die Waffenlobby und "eindeutig" für das Abtreibungsrecht. Trotzdem werde sie Bush wählen - denn der sei "nett". Al Gore und George W. Bush wollten in den letzten Tagen keine schlafenden Hunde wecken. Brisante Themen - Todesstrafe, Armut, Rassismus, überfüllte Gefängnisse, "Drogenkrieg", Korruption, die Erhöhung des garantierten Mindestlohns - fielen unter den Tisch. Stattdessen spulten beide in Kurzform - und möglichst unterhaltsam - ihre "stump speech" ab, begleitet von Millionen von Werbebroschüren, Briefwurfsendungen und TV-Clips. Im Zentrum der Wahlkampfversprechen standen Wohlstand und Wirtschaft: Welcher der beiden Kandidaten würde sich als Präsident in welchen Bereichen spendierfreudiger geben?
Da selbst Bush nicht umhin konnte, "New Economy" und Boom anzuerkennen, brandmarkte er die wirtschaftlichen Verhältnisse als "verpasste Gelegenheit". Alles könnte laut Bush sehr viel besser sein - wenn sich die Washingtoner Zentralregierung nur nicht eingemischt hätte. Als Heilmittel schlug der Gouverneur von Texas eine Steuersenkung von 1,3 Billionen und die Teilprivatisierung des Rentensystems vor. Dass die Steuererleichterungen zu über 40 Prozent dem allerreichsten einen Prozent der Amerikaner zugute kommen würden, entspricht dem Drehbuch des Ultra-Neoliberalismus. Steuernachlässe für die Super-Reichen würden zu mehr Wohlstand für alle führen, so das Credo des Bush-Lagers. Al Gore konterte, diese Strategie sei "zu riskant", und schlug 500 Milliarden Steuerkürzungen vor, für die Altersversorgung des Mittelstands, für Bildung, Renten und Umwelt. Dafür wurde er von Bush als großer Verschwender aus dem Washingtoner Establishment attackiert, der der Bevölkerung mit bundesstaatlichen Regulationsmethoden die "Eigeninitiative" verwehre. Bushs Widersprüche sind offensichtlich: Er wettert gegen "big government" und plädiert gleichzeitig für einen Haushalt von 523 Milliarden, was die Bundesregierung vergrößern würde. Er lobt die "New Economy" als Resultat von Internet-Know-how, das doch auf massive Subventionen der US-Regierung zurückgeht.
Brisante Themen stören nur
Gores Programm weist noch sozialdemokratische Züge auf, obwohl auch er keinen Willen zeigt, Clintons gescheiterte Reformvorhaben wieder aufzugreifen. Auf Clinton geht die Abschaffung der lebenslangen Sozialhilfe zurück. Die Washington Post erkannte schon im August, dass viele von Gores Vorschlägen "wenig mehr als Wiederholungen des Clintonomics-Prinzips sind". Gore greift auf denselben Stamm von Beratern zurück, die die Clintonsche Wirtschaftspolitik formulierten. So versprach der Vize neben Steuerkürzungen eine lange Liste von Planvorhaben: jährlich einen ausgeglichenen Haushalt, Patientenrechte, Reduzierung der Staatsschulden, Erhalt von Altersversorgung und Rentensystem, Umweltschutz, gewerkschaftsfreundliche Gesetze, Modernisierung des Militärs, Tageszentren und Kindergärten, Nachmittagsunterricht, kleinere Schulklassen und die Reform der Wahlkampffinanzierung. Doch wie er diese Programme umgesetzt werden sollen, blieb unklar.
Es entsteht der Eindruck, Gore hänge einem "Neoliberalismus light" an und schwimme im Fahrwasser der Wirtschafts- und Sozialpolitik der scheidenden Regierung - der er ja acht Jahre lang als Vizepräsident angehört hat. Der ehemalige Arbeitsminister Robert Reich schrieb in einem Buch, Gore sei als Vizepräsident "kontinuierlich für noch höhere soziale Einschnitte eingetreten als der Präsident". Unter Clinton ging die Schere zwischen Reich und Arm weiter auseinander: Rund 20 Prozent der Kinder leben heute unter der Armutsgrenze, einer Regierungsstudie zufolge litten letztes Jahr 31 Millionen US-AmerikanerInnen regelmäßig an Hunger oder hatten Angst vor Hunger. Die Reallöhne sind im Vergleich zu den 70er Jahren beträchtlich gesunken. Ein Konzernchef verdient heute durchschnittlich 107 Mal so viel wie ein durchschnittlicher Arbeiter, vor zehn Jahren war es "nur" 56 Mal mehr. Und rund 44 Millionen US-AmerikanerInnen leben ohne Krankenversicherung, etwa 50 Prozent der Arbeiter der unteren Lohnschichten und allein 10 Millionen Kinder.
Als Gegenmaßnahme schlugen beide Kandidaten Steuerkredite für untere Einkommensschichten zum Erwerb einer Krankenversicherung vor. Doch eine Durchschnittsversicherung kostet pro Familie 6.740 Dollar pro Jahr, und von den Krankenkassen und einer Preiskontrolle wollen weder Bush noch Gore sprechen. Die klaffenden Löcher im sozialen Auffangsystem, auf dessen Zerstörung die US-Regierungen seit 20 Jahren hinarbeiten, sind teilweise sichtbar, doch teilweise auch versteckt hinter dem Börsenboom und den "Errungenschaften" der "New Economy" mit ihren Dienstleistungsjobs. Am Gesundheitswesen kamen Bush und Gore deshalb nicht vorbei, weil die immer älter werdende Seniorengeneration ein großes Wählerpotenzial darstellt, das treu zur Urne geht. Gore beschränkte sich auf ein weiteres Versprechen - er werde als Präsident rezeptpflichtige Medikamente staatlich subventionieren. Worauf Bush antwortete, auch er trete dafür ein, aber mit mehr "Eigenverantwortung".
Ähnliches gilt für die Vorschläge, die Gore und Bush zur Reform des maroden Schulsystems machen. Bush, der auf das Schulwesen in Texas verweist, fordert Beihilfecoupons für Eltern, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken wollen, und schlägt einen Zehnjahresplan von 47 Milliarden sowie strenge Leistungskontrollen für Schüler und Lehrer und mehr Polizei an Schulen vor. Gore sieht in diesem Programm eine Aushöhlung des öffentlichen Schulsystems und will 170 Milliarden für öffentliche Kindergärten, neue Lehrer und Gebäudesanierung einsetzen. Auch die Ausweitung der Krankenversicherung für Kinder nannte Gore als Ziel.
In der Ära Clinton wuchs die Massenarmut
Je näher der Wahltermin rückte, um so mehr verschwand die "Message" hinter bloßen Floskeln und dem Appell ans Gefühl. Im Mittelpunkt stand die Persönlichkeit der Kandidaten. "Idiot" oder "Lügner" - auf diese Kurzformel hätten die Massenmedien den Zweikampf um das Weiße Haus gebracht, bilanzierte der New Yorker Medienwissenschaftler Neal Gabler. Ähnlich sieht es Woody Allen: "Der eine ist nicht intelligent genug, um Amerika zu regieren, aber er ist persönlich ein bisschen weniger verkrampft. Der andere ist mit den Problemen deutlich besser vertraut, aber rhetorisch eine Null und ungeschickt dazu".
Beide Präsidentschaftsbewerber entstammen den angelsächsischen, weißen und christlichen Dynastien, die bis heute die Führungseliten der USA stellen. Bush war bis vor sechs Jahren zwar ein unbeschriebenes Blatt und interessierte sich eher für die Millionen, die er als Miteigentümer des Baseball-Teams "Texas Ranchers" gemacht hatte. Er konnte allerdings auf ein elitäres Netzwerk zurückgreifen, das sein Großvater Prescott Bush als Senator im Bundesstaat Connecticut Anfang der 50er Jahre gesponnen hatte. George Herbert Bush, der Vater von Bush Junior, stieg zum CIA-Chef auf und krönte die Familiengeschichte mit dem Amt des 41. US-Präsidenten (1989 bis 1993). Auf diese Zeiten geht das Geflecht reicher Spender mit Einzelvermögen aus den Konzernetagen und der Republikaner-Führung zurück, die Bush Junior mit Dollarmillionen und Beraterfirmen ausstatteten, um Clinton und Vizepräsident Al Gore loszuwerden. Bruder John Ellis Bush ("Jeb") ist seit 1998 Gouverneur von Florida.
Politik als Monopol der Eliten
George W. Bush hatte sich Ende der 70er Jahre mit mäßigem Erfolg in der Ölindustrie des US-Südens versucht. Trotzdem steht er heute als Ölcowboy da. Denn nach der Abwahl seines Vaters aus dem Weißen Haus stieg George W. Bush 1994 zum Gouverneur von Texas auf, wo er den Multis mit umweltfeindlichen Gesetzen unter die Arme griff. Houston ist heute die verdreckteste Stadt der USA. Bush hatte eine ökologische Selbstkontrolle eingeführt, nach der die Multis ihre "Verstöße freiwillig melden" und quasi straffrei ausgehen. Auch die staatliche Deregulierung im Sozialwesen von Texas geht auf Bush zurück; so hat ein Viertel der Kinder in Texas keine Krankenversicherung. Dagegen ist Bush ein gnadenloser Kämpfer "gegen das Verbrechen" und mit 145 Hinrichtungsbefehlen nationaler Rekordhalter.
In der Öffentlichkeit gibt er sich jovial, hemdsärmelig und anti-intellektuell. Der 54-Jährige gehört der Methodisten-Kirche an und hat sogar einen "Jesus-Tag" eingerichtet. Unter dem Motto "Konservatismus aus Mitgefühl" plädierte er gegenüber Armen und Minderheiten für "Hilfe zur Selbsthilfe". Zupacken sei angesagt, nicht der Ruf nach öffentlichen Geldern. Statt staatlicher Sozialhilfe schwebt Bush die radikale Privatisierung des Wohlfahrtsystems vor, dessen Träger die Kirchen sein sollen.
Dass offener Rassismus in den USA nicht mehr weit führt, hat Bush erkannt. So spult er seine Floskeln vor Einwanderern in akzentfreiem Spanisch ab. Zu Spott gab Bush den Medien tagtäglich Anlass. Zeit seines Lebens war der Mann, der sich rühmt, nie ein Buch zu lesen, ganze vier Mal im Ausland, davon einmal auf Kurz-Besuch in Italien. Weder in der Bundes- noch in der Außenpolitik hat er Erfahrung. Dafür habe er "Berater", sagte Bush einmal. Eine seiner schönsten Wahlkampfweisheiten lautet: "Die meisten unserer Importe kommen aus dem Ausland".
Auch Al Gore entstammt einer dynastischen Familie. Seine Bilderbuchkarriere startete schon im Elternhaus, wo ihn sein Vater Albert Senior - ebenfalls Kongressabgeordneter und Senator - und seine Mutter bewusst auf eine politische Karriere drillten. Während der Parlamentssaison besuchte der kleine Albert eine Baptistenschule. Später meldete sich Gore "freiwillig" zum Armeedienst in Vietnam, wo er zum Kriegsberichterstatter wurde - Gores Vater, der den Krieg ablehnte und seine eigene Wiederwahl als Senator gefährdet sah, soll seinen Sohn der Imagepflege wegen gedrängt haben, in den Krieg zu ziehen. Und Gore ging.
Gore trägt seit langem den Spitznamen "Bore" - für "Langweiler". Manche nennen ihn auch "Frankenstein". Selbst in den letzten Wochen des Wahlkampfs wurde er den Ruf nicht los, hölzern, roboterhaft verkrampft, allzu beflissen und eckig zu sein, ein verklemmter Streber. Gore litt im Gegensatz zum Schulter klopfenden Bush daran, dass seine Auftritte meist zu inszeniert, seine Gefühlsregungen zu durchsichtig vorausgeplant und sein Geltungsbedürfnis zu offensichtlich erschienen. Seinen großen Vorsprung an Erfahrung und Intellekt konnte er in der Wahlkampagne nicht nutzen, da er nicht glaubwürdig schien. Um emotional zu wirken, küsste er in einer Medieninszenierung sondergleichen seine Frau vom Podium herab mehrfach mit weit aufgesperrtem Mund. Er machte auf jugendlich-antirassistisch, indem er sich ein wenig HipHop-Slang aneignete, und er gab den Advokaten des "kleinen Mannes" sowie der "arbeitenden Familien". Auch wetterte er gegen unpopuläre Wirtschaftszweige wie die Pharmaindustrie und die Tabakkonzerne, während er sich gleichzeitig als Hüter des Wohlstands ausgab.
Zu seinen größten finanziellen Förderern gehören die Filmindustrie von Hollywood, die modernisierungswillige und zum Umweltschutz bereite Ölindustrie, die Gewerkschaften, die aufstrebende "New Economy" und große Teile des Finanzkapitals, während die Manager der größten unter den Großkonzernen zu Bush tendieren. Die meisten Firmen und Großkonzerne allerdings spenden an beide Parteien und Kandidaten.
Max Böhnel,
New York