Geld oder Leben
Das Buch zur Existenzgeld-Diskussion
Bedenklich kurz sind sie, die Halbwertzeiten linksradikaler Polit-Themen. Ein Jahr lang sah es so aus, als würde von dieser Seite "die soziale Frage" neu entdeckt werden. Hitzige Diskussionen um die Forderung nach einem "Existenzgeld" wurden geführt, um nach dem April 1999 wieder sang- und klanglos zu verschwinden. Per Buch soll die Debatte jetzt wiederbelebt werden.
Existenzgeld. Kontroversen und Positionen" heißt der im Spätsommer diesen Jahres erschienene und von Hans-Peter Krebs und Harald Rein herausgegebene Sammelband. Unmittelbarer Anlass für dieses Projekt war die Konferenz "Für Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung. Zur Kritik der Lohnarbeitsgesellschaft", die im März 1999 auf Initiative der Gruppe FelS in Berlin stattfand. Mit dieser Konferenz (vgl. ak 424, 425) fand die neue innerlinke Debatte um Arbeit, Nicht-Arbeit, Produktion und Reproduktion ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihr Ende. Das neue "Existenzgeld"-Buch verfolgt zwei Ziele. Zum einen sollen die damalige Debatte nachgezeichnet und die Ergebnisse der Konferenz ansatzweise dokumentiert werden. Zum anderen soll der seitdem abgerissene Diskussionsfaden neu aufgenommen und weitergesponnen werden.
Nach einer ausführlichen Einleitung von Harald Rein zur Geschichte der Existenzgeld-Forderung versammelt das Buch in einem ersten Teil (teilweise neu überarbeitete) Beiträge, die anlässlich der "Existenzgeld"-Konferenz vom März 1999 entstanden oder dort als Referate gehalten worden sind. Neben positiven Bezugnahmen auf die Existenzgeld-Forderung wie die Beiträge von Raul Zelik, Frieder Dittmar oder der FelS Sozial-AG finden sich auch kritische bis offen ablehnende Texte, etwa die von Christian Brütt, Martin Rheinländer, der Frauengruppe "Glanz der Metropole" oder der Wildcat.
Im zweiten Teil werden neuere Texte aus dem unmittelbaren Zusammenhang der Sozialhilfe- und Erwerbsloseninitiativen dokumentiert. Den dritten Teil des Buches bilden zwei Beiträge von Joachim Hirsch und André Gorz sowie ein Interview mit Michael Opielka, die zur damaligen Konferenz keinen unmittelbaren Bezug haben. Diese Auswahl scheint etwas willkürlich und ist wohl eher dem Frankfurter Lokalkolorit bzw. den Vorlieben der Herausgeber geschuldet. Im Fall des Opielka-Interviews ist das insofern ärgerlich, als Opielka für die linke und linksradikale Diskussion um Existenzrecht und Existenzgeld nie irgendeine Rolle gespielt hat. Sein Tummelplatz war die pragmatische und zunehmend realpolitisch geprägte Grundsicherungsdebatte bei den Grünen.
In dem ausführlichen vierten und letzten Teil haben die Herausgeber Statements zum Thema aus dem europäischen Ausland versammelt. Dies ist verdienstvoll, da über entsprechende Debatten außerhalb von Insider-Kreisen kaum etwas bekannt ist. Hilfreich wäre es allerdings gewesen, wenn der Entstehungshintergrund bzw. die Relevanz der Beiträge in der jeweiligen Diskussion nachvollziehbar gemacht worden wäre. Problematisch wird das insbesondere bei den französischen Texten. Sie stammen alle aus einer einzigen Strömung bei AC, die unter sehr starkem Bezug auf die bundesdeutsche Existenzgeld-Forderung einerseits und die Debatte um immaterielle Arbeit andererseits ein Existenzgeld als gesellschaftliche Einkommensforderung propagiert. Eine Position, die innerhalb von AC nicht unumstritten ist. Gerade für die hiesige Debatte wäre es fruchtbar gewesen, den französischen Diskussionsstand nachzuzeichnen, zumal die Debatte auch deutschen LeserInnen zugänglich ist (vgl. ak 420).
Heute, über eineinhalb Jahre nach der Berliner Konferenz, wirkt das "Existenzgeld"-Buch merkwürdig deplatziert, nennenswerte Diskussionen zum Thema finden nicht mehr statt. Krebs und Rein machen dafür den Kosovo-Krieg verantwortlich, der die damalige Debatte abrupt beendet habe. Mit dieser Sichtweise mogeln sich die Herausgeber jedoch um die strukturellen Schwächen der damaligen Debatte herum.
Von Beginn an war die Diskussion mit Politisierungs- und Organisierungsansprüchen überfrachtet, der sie niemals auch nur im Ansatz gerecht werden konnte. Bis auf ganz wenige Ausnahmen haben die meisten der in Berlin tagenden Gruppen und Einzelpersonen nach dem Konferenz-Event die Themen der Konferenz nicht weiter politisch verfolgt. Auch unabhängig vom Krieg entpuppte sich die Existenzgeld-Diskussion als Eintagsfliege, deren agitatorisches und politisches Potenzial bereits im Juni 1999, zum Zeitpunkt des ersten und einzigen bundesweiten Nachbereitungstreffens, aufgebraucht war. Der offenkundige Widerspruch zwischen politischen Ansprüchen und der realen Geschichte der Existenzgeld-Debatte der letzten beiden Jahre wird im Rahmen des "Existenzgeld"-Buches an keiner Stelle kritisch reflektiert.
Im Vorwort beschwören die Herausgeber das Existenzgeld als "Politikansatz", aber um welchen Ansatz und welche Politik es gehen soll, wird nicht verraten. Das Existenzgeld bzw. die Forderung danach "sollte", "könnte", "muss" alles mögliche: auseinander driftende Bewegungen vereinheitlichen, Zugang zur "sozialen Frage" eröffnen, die sozialrevolutionäre Linke wieder handlungsfähig machen, aus der Marginalisierung herausführen etc. So der Tenor der meisten Beiträge zur Konferenz. Die Frage, warum das alles nicht passiert, ist vor und während der März-Konferenz nicht gestellt worden. Das jetzt vorliegende Buch tut dies auch nicht. Es spiegelt vielmehr die Schwäche einer Diskussion, die über Existenzgeld als politische Strategie im Sinne einer Trockenübung spricht, ohne über den realen Stand sozialer Bewegungen und die eigene Verankerung in den sozialen Prozessen zu reflektieren.
Auch die Einleitung von Harald Rein hebt dieses Manko nicht auf. Seine Geschichte der Existenzgeld-Forderung kommt arg linear und schematisch daher, als kontinuierliche Ausarbeitung eines Konzepts; Brüche sind kaum wahrnehmbar. Dabei spielte das Existenzgeld / garantierte Einkommen in den 80er Jahren bei einer aktiven und politisch-praktischen Aneignungsbewegung lediglich als Parole eine Rolle, nicht aber als konkrete Modellvorstellung oder gar als Inhalt einer Kampagne. Dass der Wandel von der Parole zum ausgearbeiteten Modell und zur Überhöhung zu "der" strategischen Orientierung einherging mit dem Niedergang der Bewegung, hätte zumindest zur Kenntnis genommen werden können.
Nahezu unisono sind sich alle Beiträge des "Existenzgeld"-Buches darin einig, dass der qualitative Sprung eines Existenzgeldes gegenüber allen anderen Formen sozialer (Grund-)Sicherung der Bruch mit der Arbeitsverpflichtung ist, der Bruch mit der Vorstellung, das Recht auf Existenz müsse sich durch Arbeit verdient werden. Wer nun aber die Erwartung verbindet, diese implizite Kritik an der Arbeit würde in der Diskussion zum expliziten Thema gemacht, sieht sich arg getäuscht. Die Debatte kommt ohne jegliche Diskussion der real existierenden bezahlten und unbezahlten Arbeit aus. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Konferenz in Berlin immerhin zur "Kritik der Lohnarbeitsgesellschaft" aufgerufen hatte.
Diese Schieflage hat erhebliche Konsequenzen, die sich auch im "Existenzgeld"-Buch wiederfinden. Es zeigt sich die deutliche Tendenz, das Existenzgeld als reine Verteilungs- bzw. Reproduktionsfrage zu diskutieren. Ausnahmen - mit jeweils unterschiedlichem Blickwinkel - sind lediglich die Beiträge von Rheinländer, Wildcat, Glanz der Metropole und Seibert/Atzert.
Selbst in den radikaleren Varianten verliert die Diskussion damit viel von ihrem emanzipatorischen oder gar utopischen Gehalt. Von gerechterer Verteilung ist viel die Rede, auch von gesellschaftlicher Teilhabe unabhängig von Arbeit; weniger aber davon, wie diese Arbeit aussieht, von Ausbeutung und der Befreiung von Ausbeutung. Statt dessen ist in mehreren Beiträgen (etwa bei den Herausgebern oder den Texten aus Spanien und Italien) die sog. "Krise der Arbeitsgesellschaft" der Ausgangspunkt. Angesichts von Massenerwerbslosigkeit und Ausschluss von Konsummöglichkeiten erscheint das Existenzgeld/garantierte Einkommen als sozialpolitisches Instrument, das die Reproduktion der Ausgeschlossenen sichert.
Fatal ist dabei der Umstand, dass von einer "Krise der Arbeitsgesellschaft" gesprochen wird zu einem Zeitpunkt, wo "die Arbeit" als hegemoniales Prinzip unangreifbarer als je zuvor scheint. Bei genauerer Betrachtung ist nicht fehlende Vollbeschäftigung das Problem, sondern der Umstand, dass der aktivierende Sozialstaat tendenziell Vollbeschäftigung schafft! Der Arbeitszwang auf Sozial- und Arbeitsämtern hat dramatisch angezogen, mit aller Gewalt - und mit zunehmendem Erfolg - werden Menschen aus der Erwerbslosigkeit "in Arbeit" getrieben: in Billigjobs, zu Sklavenhändlern, in die Selbstständigkeit oder in unentlohnte Arbeitsformen. Und auch die alte Parole von der "Entkoppelung von Arbeit/Produktivität und Einkommen" wird gerade auf breiter Front umgesetzt, wenn auch nicht in der Form, wie die Linke sich das vorgestellt hat: Löhne und Gehälter haben zunehmend weniger mit der tatsächlichen Produktivität, mit Arbeitszeit und Arbeitsintensität zu tun.
Diese realen Produktions- und Reproduktionsbedingungen werden in der Existenzgeld-Debatte weder inhaltlich noch politisch-praktisch diskutiert. Doch eine gesellschaftliche Befreiungsperspektive, die nicht eine Kritik der Arbeit und der Produktion beinhaltet, springt meilenweit zu kurz. Die gesellschaftliche Utopie des Existenzgeldes verkümmert damit faktisch zu einer Mindestsicherung bei gleichzeitiger Ein- und Unterordnung unter kapitalistische Produktions- und Reproduktionsverhältnisse.
Martin Rheinländer hat in seiner Kritik zu Recht darauf hingewiesen, wie eine derart eingeschränkte Diskussion der realen Neuformierung des Sozialstaats nichts entgegenzusetzen hat. Ähnlich, wie unter der Parole der Arbeitszeitverkürzung eine ungeheure Flexibilisierung und Intensivierung der Arbeit und der Ausbeutung umgesetzt wurde, so droht heute unter der Parole garantiertes Einkommen/Grundsicherung die Umstellung der sozialen Sicherungssysteme auf eine minimale Sockelung bei gleichzeitiger Verschärfung des Arbeitszwangs. Und wie in den 80er Jahren die Betriebslinke, so würde dann heute die Jobber- und Erwerbslosenbewegung ihr Waterloo erleben. Der Hinweis, so etwas habe man ja nicht gewollt, die Existenzgeld-Forderung sehe doch ganz anders aus, nützt dann wenig.
Ohne eine auch praktische Kritik der real existierenden Arbeit hat die Existenzgeld-Debatte hier auf Dauer eine offene Flanke. Dies gilt erst recht für die Beiträge, die sich an dem Konzept der immateriellen Arbeit orientieren (Seibert/Atzert, AC, Fumagalli). Denn an die Stelle der Kritik tritt dort im Kern eine positive Bezugnahme auf die "neue", postfordistische Arbeit mit ihren neuen Formen von Produktivität, Autonomie und Selbstständigkeit.
Diese "Arbeitskraftunternehmer" - mit einem erstaunlich hohen Anteil von Linken und Ex-Linken - können schnell zu den Motoren praktizierter Grundsicherungsmodelle werden. Für sie ist eine Sockelung in der sozialen Sicherung plus selbstbestimmte flexible Verausgabung der eigenen Arbeitskraft tatsächlich eine attraktive Alternative. Für das Gros der prekär beschäftigten BilliglöhnerInnen - von den VerkäuferInnen in den Supermärkten, über die ArbeiterInnen der Leiharbeitsfirmen bis zu den Beschäftigten der "New-Economy"-Klitschen hat ein solches Modell proletarischer Reproduktion aber wohl wenig utopische Ausstrahlung.
Bei aller Kritik: "Existenzgeld. Kontroversen und Positionen" bietet einen guten Überblick über den jetzigen Stand der linken Existenzgeld-Diskussion, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Allerdings bildet das Buch damit auch die gesamte Widersprüchlichkeit und nicht zu letzt das Elend dieser Debatte ab. Die Hoffnung, an abgerissene Debattenstränge wieder anknüpfen zu können, werden sich damit nicht erfüllen. Ein großer Verlust wäre das nicht. Das heißt nicht, dass es nichts zu diskutieren gäbe. Wie wäre es z.B. mit einem kompletten Neuanfang: "Kritik der Lohnarbeitsgesellschaft" - ohne Verengung aufs Existenzgeld.
Dirk Hauer
Hans-Peter Krebs/Harald Rein (Hrsg.): "Existenzgeld. Kontroversen und Positionen", Münster 2000 (Westfälisches Dampfboot), 255 Seiten, 34 DM