Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 444 / 23.11.2000

Grenzen der Anständigkeit

Die Einwanderungsdebatte ist eine Schlacht mit Kampfbegriffen

Man soll die Dinge beim Namen nennen und will "unverkrampft" diskutieren. Eine "sachliche" Debatte wird eingefordert. "Frei von Denkverboten", "unbefangen", "ohne Tabus" und "vorurteilsfrei" - das sind derzeit die Lieblingsvokabeln fast aller Parteien, wenn es um das Thema Einwanderung geht. Von der CDU ist man gewohnt, dass sie "frei von Denkverboten" Politik macht - die Kritik der CDU an Paul Spiegels Rede am 9. November hat dies erneut verdeutlicht.

Auch Bündnis90/Die Grünen wissen, wie man "unverkrampft" diskutiert. Die jüngsten Äußerungen der grünen Parteivorsitzenden Renate Künast zu Integrations- und Einwanderungsfragen sind ein Beispiel dafür, was es heißt, "unbefangen" Politik zu betreiben. Ihre Verlautbarungen gegenüber der Presse geben durch die Hintertür kulturalistische Klischees zum Besten. Abgesehen davon, dass sie ökonomistische Argumente verwendet, schreckt Künast auch nicht davor zurück, ausgerechnet MigrantInnen zu belehren, nach welchen Regeln hier gelebt werden soll.

Nachdem CDU-Fraktionschef Friedrich Merz die "deutsche Leitkultur" in die Debatte geworfen hatte, erarbeitete die CDU-Einwanderungskommission ein Grundsatzpapier. Die Formulierung "Das Boot ist nicht voll" wurde wieder gestrichen, dafür - nach einem langen Hin und Her - Merzens "deutsche Leitkultur" wieder eingesetzt. Es hätte wohl gar keine Rolle mehr gespielt, ob der Kampfbegriff nun drinsteht oder nicht: Die Debatte darum hatte bereits ihren Zweck erfüllt. Obwohl der Begriff sofort ad absurdum geführt wird, sobald jemand versucht, "deutsche Leitkultur" zu konkretisieren und Beispiele dafür zu finden, wissen doch alle, was damit gemeint ist. Auch das wohl als Abmilderung gedachte - letztlich aber noch eingrenzendere - Bekenntnis zur "jüdisch-christlichen" Tradition des Bundespräsidenten Johannes Rau zeigt, wie groß die Fettnäpfe immer neuer Aus- und Abgrenzungen sind.

Nach der Debatte über die "deutsche Leitkultur" ist die CDU dann brav am 9. November zum "Aufstand der Anständigen" angetreten und musste sich dort die Schelte von Paul Spiegel anhören. Dies ließ sich die Union nicht gefallen: Nachdem der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, die CDU kritisiert hatte, indem er vor 200.000 Anständigen die Frage stellte, ob es etwa deutsche Leitkultur sei, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden und Obdachlose zu töten, schießt die CDU scharf zurück und zeigt, dass deutsche Anständigkeit ihre Grenzen hat: Als "schlichtweg unanständig" bezeichnete Günter Nooke, der Brandenburger CDU-Fraktionsvorsitzende, Spiegels Äußerungen. Mit seiner Rede habe Spiegel weder den Deutschen noch den Juden noch dem Zusammenhalt der Gesellschaft einen Dienst erwiesen und der Demokratie keinen Gefallen getan. Für Nooke hat Spiegel die Union "am Nasenring über den Pariser Platz geführt" und sein Amt missbraucht. Die CDU macht damit nicht nur eine diskriminierende Trennung von "Juden" und "Deutschen" auf, sondern kritisiert Spiegel als "unfair" und polarisierend. Dabei wäre der Zentralratsvorsitzende - liberal wie er ist - schon zufrieden, wenn die CDU die Silbe "Leit-" streichen und statt dessen von "deutscher Kultur" sprechen würde.

Die Auseinandersetzung über die "deutsche Leitkultur" verhilft den Grünen unverdienterweise zu einer Position der Guten, mit der sie sich bei den "Anständigen" profilieren können. Während die SPD schweigt und auf die Ergebnisse der Regierungs-Einwanderungskommission wartet, sah sich die Grünen-Chefin Renate Künast genötigt, auch etwas in die Runde zu werfen. Sie verabschiedete sich kurzerhand vom "Multikulturalismus". Die Bezeichnung greife zu kurz, sei zu unscharf und lasse die wesentliche Frage, nach welchen Regeln wir denn hier zusammenlebten, nicht zu. Sie plädiert für Habermas' Begriff des Verfassungspatriotismus, der in Deutschland während des Historikerstreites geboren wurde. Darüber, warum Künast die Plattheit, dass sich in Deutschland an dem deutschen Grundgesetz orientiert werden müsse, ausgerechnet in der Debatte um Einwanderung zum Besten gab, kann nur spekuliert werden. Vielleicht wollte sie nicht unbedingt auf das deutsche Blutabstammungsrecht (Jus sanguis) des Artikel 116 der Verfassung hinweisen. Vielleicht aber weiß sie , dass ihre Rede von "den Regeln des Zusammenlebens" schon richtig verstanden wird, nämlich dass jemand den "Zugezogenen" zeigt, wo der Hammer hängt?

Nach Künasts Meinung brauchen "wir Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen" und: "Wir müssen die Frage stellen, wer muss her?" Damit liegt sie ganz im Trend. Nicht nur, dass ihre deutsche Standortlogik suggeriert, dass alle ("wir") gleichermaßen Profiteure einer möglichen erhöhten Wirtschaftsleistung seien: Die deutsche Wirtschaft - vom Mittelstand bis zu den Großunternehmen - klagt über einen Mangel an qualifizierten Fachkräften. Die Handwerkskammer Bayerns greift sogar die Abschiebepraxis des bayerischen Innenministeriums scharf an. "Wieso dürfen Computer-Spezialisten aus Indien oder sonst woher bei uns arbeiten und unsere bosnischen Mitarbeiter, die sich hervorragend in unsere Arbeitswelt und die Gesellschaft integriert haben und die unsere Betriebe dringend brauchen, nicht?", so Heinrich Traublinger, Präsident der Handwerkskammer für München und Oberbayern, am 27.9.2000 in München.

Flüchtlinge und AsylbewerberInnen sollen den Mangel an deutschen MitarbeiterInnen ausgleichen. Nicht umsonst hat sich die Bundesregierung auf eine Aufhebung des Arbeitsverbotes für Flüchtlinge geeinigt. Aber ein bisschen muss man den Flüchtling ja schon zappeln lassen: Erst nach einem Jahr kann er sich um eine Arbeitsstelle bewerben und bekommt diese nur dann, wenn sich kein Deutscher oder EU-Ausländer dafür findet.

Während Illegalisierten und zahlreichen MigrantInnen eine medizinische Versorgung verweigert wird, sorgen sich manche um die Attraktivität des deutschen Klinik-Standortes: Deutsche Krankenhäuser sollen sich stärker um reiche Privatpatienten aus dem Ausland bemühen, um sich neue Geldquellen zu erschließen. Dies forderte der Chef des Marburger Bundes (MB), Frank Ulrich Montgomery, auf der Hauptversammlung des Klinikärzteverbandes in Berlin Anfang November. Die Kliniken müssten sich allerdings auf die ausländischen Kranken erst einstellen: "Die kranken Scheichs der Welt sollten in Deutschland gut behandelt werden."

Kosten-Nutzen-Rechnungen und das Selektieren von "nützlichen" und "unnützlichen" MigrantInnen - in diesem Orchester spielen alle Parteien mit, zumindest was die öffentliche Debatte betrifft. Trotz einiger Differenzen im Detail kommt bei dem Schlagabtausch im Wesentlichen eines rüber: "Wir" (wer auch immer das sein mag, wahrscheinlich "die Deutschen") definieren über die Konstruktion des "abweichenden Fremden" das "normale Eigene". Das "Eigene" bleibt dabei aber immer noch ein Platzhalter für beliebige Projektionen. Gleichzeitig wird deutlich gemacht: MigrantInnen muss gesagt werden, dass sie sich anpassen sollen. MigrantInnen müssen ihre Existenzberechtigung in Deutschland erst beweisen und einen Kotau machen.

Unterstellt wird - und das ist das Perfide und Gefährliche an diesem Diskurs -, dass MigrantInnen keinen Respekt vor dem Grundgesetz und der deutschen Sprache zeigen; dass Integration im wesentlichen ein Problem der MigrantInnen selbst sei. Nicht nur die CDU warnt vor "Separierungstendenzen". Auch bei den Grünen wird die Gefahr von "Parallelgesellschaften" beschworen. In der taz betonte Ralf Fücks, Chef der Heinrich-Böll-Stiftung, dass das "Leitbild multikulturelle Gesellschaft" keine "Parzellierung" der Gesellschaft bedeuten dürfe.

Nach dieser Lesart wird das Leben in Communities als Bedrohung halluziniert und die Verweigerungshaltung der Regierung und der Mehrheitsgesellschaft gegenüber MigrantInnen vergessen. Auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt werden Einwanderer benachteiligt und bei Banken, Versicherungen und Behörden entwürdigend behandelt; von der Vorenthaltung politischer Rechte ganz zu schweigen. Bei dem Schlagabtausch bleibt jedenfalls unklar, ob man für die demütigende Ehrerweisung den MigrantInnen mehr gibt als ein schäbiges Aufenthaltsrecht. Die Rede ist immer nur allgemein von "Einwanderung" (Künast) und "Daueraufenthaltsrecht" (CDU-Papier).

Was meint Künast, wenn sie davon spricht, dass "wir" uns mit den Sorgen der Menschen auseinander setzen und auf sie zugehen müssen? Sicher hatte sie bei dieser populistischen Phrase nicht daran gedacht, eine Mauer um Migrantensiedlungen zu bauen wie in Celle und in Hamburg, oder Flüchtlinge in die hinterletzten Ecken deutscher Wälder oder in tote Industriegebiete zu verfrachten, um die Deutschen vor dem Anblick dieser "Anderen" zu verschonen. Aber was dann? Sie stellt diese Forderung des "Auf- sie-Zugehens", gibt aber keine Antworten. Deshalb bleibt dabei so viel Platz, dass alle diese Leerstelle füllen können, wie sie möchten; und die vorherrschende Tendenz in diesem Land ist nun einmal eine - vorsichtig formuliert - fremdelnde Haltung gegenüber MigrantInnen und ein Wohlstandschauvinismus.

Bei der laufenden Debatte haben die Grünen eindeutig die Chance verspielt, den Nationen- und Kulturbegriff allgemein verständlich zu dechiffrieren und die eigene, deutsche Macht- und Definitionsgewalt in Frage zu stellen. Mit dem Abschied vom Multikultibegriff war nicht eine Kritik an den folkloristischen und kulturalistischen Implikationen dieses Konzeptes verbunden; im Vordergrund stand vielmehr die Anbiederung an Vorstellungen, dass es die MigrantInnen seien, die sich absonderten, und nicht die Deutschen, die sich absonderlich verhalten. Künast hat es nicht übers Herz gebracht, von der deutschen Standortlogik Abschied zu nehmen.

Anke Schwarzer