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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 445 / 21.12.2000

Anna Seghers und die Deutschen

Zum 100. Geburtstag: Werbung für einen unterschätzten Roman

Aus Anlass ihres 100. Geburtstages wird die Jubilarin, anders als zu Lebzeiten, auch vom deutschen Feuilleton schonend behandelt. In Zeiten des Kalten Krieges galt Anna Seghers (19. November 1900 bis 1. Juni 1983) den Propagandisten des "freien Westens" als kommunistische Hardlinerin - sie hatte sich nach dem Exil in Mexiko 1947 für Ost-Berlin entschieden. In dem militant antikommunistischen Nachschlagewerk "SBZ von A bis Z" (herausgegeben vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und in den sechziger Jahren kostenlos an den Schulen verteilt) wurde auch ihre literarische Produktion nach 1945 für minderwertig befunden: "Nach Übersiedlung in die SBZ umfangreiche aber schwache Romane im Stil des sozialistischen Realismus (,Die Toten bleiben jung`, 1949; ,Die Entscheidung `, 1959)." Dass das Spätwerk mit dem 1942 veröffentlichten "Weltbestseller" (ebd.) "Das siebte Kreuz" nicht mithalten konnte, findet auch Literaturpapst Reich-Ranicki, der sein Verdikt allerdings in ein (zweifelhaftes) Lob kleidet: Es gebe nur einen einzigen deutschsprachigen Roman von "Weltgeltung", der von einer Frau geschrieben worden sei - nämlich "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers.

Die Qualität dieses Buches steht außer Frage. Da es als in der ak-Leserschaft bekannt vorausgesetzt werden kann, soll hier für einen anderen, sehr viel weniger beachteten Roman von Anna Seghers geworben werden: den fast 700 Seiten starken Wälzer "Die Toten bleiben jung", der erstmals 1949 im Ost-Berliner Aufbau-Verlag erschien. Dieser Roman, den das Bonner Revanchismus-Ministerium zu den "schwachen" und vom "sozialistischen Realismus" inspirierten Werken zählt, ist nach Meinung des Marburger Faschismus-Forschers Reinhard Kühnl "überhaupt die beste literarische Gesamtdarstellung des deutschen Faschismus". Ob dieser Superlativ angemessen ist oder nicht, sei dahingestellt. Kühnl beschreibt allerdings richtig, was die politische Qualität des Romans ausmacht: Dass Seghers "nicht nur die einzelnen Vorgänge genau beobachtet, sondern auch die sozialen Interessen und deren Widerspiegelung im Bewusstsein und Handeln der Individuen sichtbar macht ..."

Die handelnden Personen sind Prototypen aus fast allen Segmenten der deutschen Klassengesellschaft der Jahre 1919 bis 1945. Ihre Lebensläufe, die sich an historisch entscheidenden Punkten kreuzen, beginnen mit der Niederschlagung der deutschen Revolution, dem Ende des kurzen Traums der Revolutionäre vom "neuen Leben, das mit dem vergangenen so wenig zu tun hatte, wie das Jenseits mit dem Diesseits". Die Konterrevolution siegt, auch weil sie entschlossener und skrupelloser zu Werke geht als der Gegner: Der junge Arbeiter und Spartakist Erwin wird von Freikorps-Offizieren gefangen genommen und "auf der Flucht erschossen". Zur Welt des Toten gehören seine schwangere Freundin Marie, der später geborene gemeinsame Sohn Hans, der Sozialdemokrat Geschke, der dann Marie heiratet, Geschkes Kinder aus erster Ehe. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die an Erwins Ermordung beteiligt sind bzw. vom Sieg der Konterrevolution profitieren: Industrielle, reaktionäre Offiziere und ihre ehrgeizigen Frauen, aber auch Menschen "aus dem Volk", die den Großen und Mächtigen bereitwillig dienen. Wie der Bauer Nadler, der erst zu den Freikorps und dann zu den Nazis geht, in dem Glauben, "wenn die Roten ans Ruder kommen, dann kriegst du die letzte Kuh weggenommen und das letzte Stück Feld wie in Russland."

Die Mächtigen bleiben auch nach der Niederlage im Weltkrieg mächtig, sie wollen Revanche und reibungslose Geschäfte und verbünden sich zu diesem Zweck schließlich mit den Nazis. Demgegenüber sind die Ausgebeuteten keineswegs heroisch, sondern ebenfalls auf ihren persönlichen Vorteil bedacht, etliche für die Nazi-Propaganda empfänglich. Am Ende siegen nicht sie, sondern die unaufhaltsam vorrückende Rote Armee. Hans wird kurz vor Kriegsende als Deserteur zum Tode verurteilt. Ob das Urteil vollstreckt wird, bleibt offen - während der Mörder seines Vaters im Sohn den "jung gebliebenen" Toten zu erkennen meint und sich erschießt.

Anna Seghers hat mit ihrem Roman, den sie 1945 in Mexiko begann und 1947 in Ostdeutschland abschloss, die Bilanz einer Epoche versucht und ein Urteil über die Deutschen dieser Epoche. Dass die Bilanz Lücken hat und das Urteil den wesentlichen Tatbestand ausspart, ist heute offensichtlich: Der Mord an den europäischen Juden kommt nur am Rande vor, wenn etwa der SS-Mann Lieven die Ermordung jüdischer Kinder rechtfertigt; diese müssten sterben, damit unsere Kinder "nicht frieren und nicht hungern". So bleibt Seghers' Urteil letztlich noch zu milde, auch wenn es meilenweit entfernt ist vom falschen Faschismus-Verständnis der Komintern, dem zu Folge die proletarischen und kleinbürgerlichen "Massen" Opfer, allenfalls verführte Mittäter des Faschismus waren.

Anna Seghers' Buch muss als Zeitdokument verstanden werden: ein sehr früher Versuch, den Sieg des Nationalsozialismus zu erklären. Der Roman endet zwar, als die deutsche Niederlage besiegelt ist. Aber von Erwartungen in die "neue Zeit" ist viel weniger zu spüren als von tiefer Skepsis. Das entspricht - zumindest damals - dem Lebensgefühl der Emigrantin, die sich zwar für die Rückkehr nach Ostdeutschland entschieden hat, aber dort nicht heimisch geworden ist. Noch 1948 schrieb Anna Seghers an Georg Lukács über ihr Leben in der SBZ: "Ich habe das Gefühl, ich bin in die Eiszeit geraten, so kalt kommt mir alles vor. Nicht weil ich nicht mehr in den Tropen bin, sondern weil viele Sachen ganz beklemmend und ganz unwahrscheinlich frostig für mich sind, ob es um Arbeit, um Freundschaft, um politische, um menschliche Sachen geht." Liest man den Roman "Die Toten bleiben jung" vor dem Hintergrund dieser Aussage, dann drängt sich eine Erklärung auf, woher die von Anna Seghers empfundene "Kälte" kommt: Auch in Ostdeutschland wurde der Blick allzu schnell von der Vergangenheit weg, "der Zukunft zugewandt".

Js.