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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 445 / 21.12.2000

Augen auf und durch

ver.di und die Linke

Nur knapp über 60% der Delegierten stimmten auf dem Leipziger Gewerkschaftstag der ÖTV für ver.di. Innerhalb der ÖTV ist der Fusionsprozess somit zu einer handfesten organisationspolitischen Krise eskaliert, die nicht zuletzt mit dem Rücktritt von Herbert Mai als ÖTV-Vorsitzendem dokumentiert wurde. Bis zu den Gewerkschaftstagen der fünf ver.di-Gewerkschaften im März 2001 und der anschließenden Verschmelzung wird die Zitterpartie nicht beendet sein. Welche Schlussfolgerungen sich daraus - zumindest aus Sicht von Aktiven der IG Medien - für die Gewerkschaftslinke ziehen lassen, ist Thema des folgenden Beitrages.

Der ver.di-Prozess ist außer Kontrolle geraten. Alle Anstrengungen, die Kontrolle wieder herzustellen, werden - selbst wenn sie erfolgreich sind - etwas anderes hervorbringen als das visionäre Bild der elastisch-modernen Supergewerkschaft. Was in Leipzig auf dem Gewerkschaftstag der ÖTV geschehen ist, hat den KritikerInnen des ver.di-Prozesses Recht gegeben, freilich mehr, als ihnen lieb sein dürfte. Denn dem offenkundigen Kontrollverlust auf Seiten der verantwortlichen Vorstände entspricht keineswegs ein Zugewinn an demokratischer Kontrolle und Mitgliedernähe des gesamten Prozesses. Was dagegen stattfindet, ist eine verstärkte Verselbstständigung der organisationspolitischen Logik. Und das Schlimme daran ist, dass der Zeitpunkt längst verstrichen ist, an dem konkrete Alternativen, die mehr als Ausstiegsszenarien sein müssten, auf der Tagesordnung standen.

In der Bilanz von drei Jahren Verhandlungen und Debatten erweist sich der ver.di-Prozess als eine self-fullfilling-prophecy. Programmatisch angetreten, um die manifeste Krise der Gewerkschaften in strategischer Hinsicht zu überwinden, hat der Prozess selbst diese Krise beschleunigt. Um die Dringlichkeit des Problems zu verdeutlichen, hier nur der Hinweis auf die handfesten Folgen: Während sich in der Bundesrepublik ein sozialer Umbau ersten Ranges vollzieht, in dem so gut wie kein Essential gewerkschaftlicher Politik unberührt bleibt, und während in dieser sozialpolitischen Auseinandersetzung die Erosion der Gewerkschaften als Mitgliederorganisationen fortschreitet, leisten es sich fünf Gewerkschaften, in kaum noch zu übersehendem Ausmaß Ressourcen für eine organisationspolitische Reform abzuziehen. Dies wirkt sich bis tief in die Niederungen der gewerkschaftlichen Mitgliederbetreuung aus.

Was ver.di die beteiligten Gewerkschaften bislang bereits politisch gekostet hat, entzieht sich jedem Controlling. Je krisenhafter der Prozess wird und je länger er sich hinzieht, desto größer werden die so genannten "Zukunftsinvestitionen". Die Frage ist schon längst nicht mehr, wie viel ver.di überhaupt neu gewinnen oder mobilisieren kann, sondern wie viel schon am traditionellen Bestand verloren worden ist.

Die Dimension der Krisenhaftigkeit des ver.di-Prozesses bleibt zumindest ehrenamtlichen Funktionären, die aktiv an diesem Prozess teilnehmen, selten verborgen. Und wer sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren auf das sog. gewerkschaftliche "Kerngeschäft" konzentrieren musste, wird dies noch dramatischer beurteilen. Das Tempo des sozialen Umbaus, die Beschleunigung von Unternehmenszergliederungen, Neugründungen usw., also das alltägliche, aber substanzielle Handgemenge, in dem sich aktive GewerkschafterInnen befinden, hält sich nicht an den Zeitplan eines Lenkungsausschusses und der Planstellenverhandlungen auf ver.di-Ebenen.

In Gewerkschaften, in denen ver.di nicht so umstritten ist wie in der ÖTV, etwa der IG Medien, drückt sich dies als Sehnsucht nach einer Rückkehr zum alltäglichen "Handwerk" aus - frei nach dem Motto: Egal, welche Strukturen wir haben werden, wir wollen endlich wieder Strukturen und Ansprechpartner haben. In der IG Medien ist heute eine Rückverwandlung in den alten Zustand kaum noch denkbar, selbst wenn das, was heute in Gestalt von ver.di auf die Aktiven zukommt, weniger Anziehungskraft hat als die alten Strukturen. Eine Rückverwandlung in den alten Zustand würde nämlich keineswegs ein Ende der organisationspolitischen Auseinandersetzungen bedeuten, im Gegenteil. Auf absehbare Zeit wäre die IG Medien zwar nicht mehr mit ver.di und der eigenen Zukunft darin beschäftigt, wohl aber mit sich selbst. Was auch immer an Rettungsplänen für den Fall eines Scheiterns von ver.di erarbeitet worden ist oder werden wird, Perspektiven für einen langen Marsch aus der Krise werden davon in keinem Fall zu erwarten sein. Ähnliches wird auch bei den anderen Gewerkschaften festzustellen sein.

1. kommt es anders, und
2. als man lenkt

Ein Krisenfaktor waren selbst die innergewerkschaftlichen Oppositionen, wie zuletzt in dramatischer Weise durch die Sperrminorität auf dem Leipziger Gewerkschaftstag der ÖTV demonstriert. In diesem Punkt ist Michael Wendl (ÖTV-Bayern) zuzustimmen, der davor warnt, mit Sperrminderheiten den Willen einer politischen Mehrheit zu blockieren. Eine solche Mehrheit auf Gewerkschaftstagen hat wahrlich wenig zu tun mit dem politischen Willen der Mitglieder, dagegen aber durchaus mit deren Unwillen. Die Oppositionen der ver.di-Gewerkschaften waren und sind völlig im Recht, dass der gesamte ver.di-Prozess über die Köpfe selbst der interessierten Mitglieder hinweggegangen ist. Sie können aber ebenso wenig für sich beanspruchen, dass ihre eigene Position auch nur annähernd zu einer demokratischen Oppositionsbewegung in der Mitgliedschaft beigetragen hat.

Ja oder Nein: Falsche Alternativen

Pro und Contra werden in der dünnen Luft der Führungsebenen ausgetragen (und zu diesen Ebenen gehören auch Gewerkschaftstage). Mitgliedern, denen es sehr wohl um Betreuung und Organisierung vor Ort geht, werden schlecht nachvollziehen können, wie Delegierte auf Gewerkschaftstagen durch eine fatale Taktik das noch verbleibende Rahmenwerk aufs Spiel setzen. So hat man jedenfalls - links wie rechts - von außen den Gewerkschaftstag der ÖTV wahrgenommen. Dass die Oppositionen dies nicht wollen, ist die eine Sache, eine ganz andere Sache ist, dass sie selbst darüber nicht entscheiden können.

Erschwerend kommt hinzu, dass man sich in der Ablehnung von ver.di zwar einig war und ist, aber keineswegs in der Begründung und auch nicht in den Alternativen. Selbst dort, wo gleich zu Beginn der Auseinandersetzungen Alternativen genannt wurden, haben diese nicht wirklich greifen können. Dies war etwa in der IG Medien der Fall. Dort hat die Opposition 1998 vorgeschlagen, Kooperationen mit verschiedenen Gewerkschaften auszubauen und in Angriff zu nehmen, dies auch als Basis für zukünftige Zusammenschlüsse. Freilich hat es selbst im Fall einer solchen konstruktiven Opposition an einer wirklich strategischen Perspektive gefehlt. Entsprechend leicht fiel es dann den ver.di-Berfürwortern, der Opposition pauschal "Alternativlosigkeit" vorzuwerfen. Heute hat sich das Blatt schon halb gewendet. Beim Bielefelder IG Medien-Gewerkschaftstag im November 2000 mussten ausgerechnet Delegierte aus den Reihen der ver.di-KritikerInnen anmahnen, mit einem möglichen Scheitern von ver.di nicht auch die bereits vorhandenen Kooperationen aufs Spiel zu setzen.

Tatsächlich sind ja derartige Kooperationen vorhanden, und zwar auf unterschiedlichsten Ebenen. Zum einen haben in verschiedenen Regionen nicht wenige aktive Mitglieder und ehrenamtliche Funktionäre die für Fusionen typische Erfahrung gemacht, wie angenehm es sein kann, die einzelgewerkschaftliche Abschottung zu überwinden. Zum anderen gibt es ältere wie neuere Kooperationsprojekte - etwa im Bereich der "neuen Branchen" -, die zwar auch ohne ver.di hätten zu Stande kommen können, deren Fortbestand mit einem Scheitern von ver.di aber gefährdet sein dürfte.

Vieles an dem, was heute als erste positive Erfahrungen auch von Seiten ehrenamtlicher Funktionäre und aktiver Mitglieder gemeldet wird, ist schlicht der Tatsache geschuldet, über den eigenen Tellerrand hinaus geschaut zu haben. Die bisherigen Erfahrungen mit Fusionen zeigen freilich, dass dies meistens ein zeitlich begrenztes Erfolgserlebnis ist, das später von der Binnenlogik der reinen Facharbeit verdrängt wird. Doch dies ändert nichts daran, dass gerade die ver.di-KritikerInnen diese positiven Erfahrungen stärken müssen, um einer späteren Aufspaltung innerhalb der Gesamtorganisation entgegen zu wirken.

Wie wenig sich ver.di für einen Streit zwischen rechts und links oder "Gegenmacht oder Co-Managament" eignet, lässt sich an den Positionen der Gewerkschaftslinken festmachen. Im Netzwerk der Gewerkschaftslinken ist die Diskussion nicht geführt worden, maßgebliche Vertreter des Netzwerkes sind allerdings ProtagonistInnen im innerorganisatorischen Streit um ver.di. Auch hier teilen sich die Positionen und ProtagonistInnen auf alle denkbaren Varianten auf, wobei sich nicht nur Unterschiede hinsichtlich des Für und Wider ergeben, sondern auch in den jeweiligen Begründungen.

Und immer wieder:
What's left?

Versuche, so etwas wie eine "ver.di-Linke" zu konstituieren, sind bislang wenig erfolgreich gewesen. Es gab oder gibt weder eine gemeinsame Konzeption von Alternativen zu ver.di noch Überlegungen für oder innerhalb von ver.di. Daran aber muss gearbeitet werden, je früher, desto besser. Voraussetzung ist freilich, dass man sich nicht in der Binnenlogik der eigenen Organisation erschöpft oder nur eine allgemeine programmatische Diskussion führt, die ja weit über ver.di hinaus greift und letztlich bereits mit dem Netzwerk der Gewerkschaftslinken in Gang gekommen ist.

Es fehlt eine Vermittlung zwischen den Diskussionen im Netzwerk mit der alltäglichen und organisationspolitischen Praxis "vor Ort". Um dies am elendigen Streit über Vorrang von Ebenen und Fachbereichen deutlich zu machen: Es geht nicht um Vorrang von Ebene oder Fachbereich, die Linke muss sich darum kümmern, dass die gesellschaftspolitischen Inhalte in den "Niederungen" des Alltags von Fachbereichen und Fachgruppen konkret werden. Gerade mit den jetzt erreichten Vernetzungsansätzen könnte die Gewerkschaftslinke ein Gegengewicht bilden sowohl zur branchenbornierten Verselbstständigung als auch zu einer Programmdiskussion und Antragspolitik, die möglicherweise Abstimmungsmehrheiten schafft, aber sich um Umsetzungen in praktische Handlungen nicht schert.

Von Seiten ihrer Propagandisten ist ver.di gern als "Prozess" vorgestellt worden, im Sinne eines selbstlernenden Organismus, als Hyperkybernetik einer Höheren Intelligenz, die alles mit allem verbindet und dabei auch noch transparent macht. Die Energie, die ver.di mittlerweile zeigt, deutet bislang eher auf die Existenz eines Schwarzen Lochs hin, das jede Menge Kraft von einer ganzen Galaxie abzieht, nicht aber auf die Super Nova eines neu geborenen Sternenkranzes. Wie bislang wird ver.di auch in Zukunft ein "Prozess" sein, freilich keine prozessierende Krisenlösung, sondern eine prozessierende Krise. Das festzustellen und dennoch für Handlungsräume und -möglichkeiten zu kämpfen, ist ein Widerspruch in der Wirklichkeit; sich diesem Widerspruch nicht zu stellen, verdammt zur Alternativlosigkeit.

Sollte ver.di zu Stande kommen, werden die bislang zwischen und in den Einzelgewerkschaften aufgetretenen Streitfragen möglicherweise schneller als erwartet gegenstandslos werden. Dafür werden ganz andere Konflikte potenziert an die Oberfläche treten. Ob verharmlost, verschwiegen oder schlicht nicht erkannt: an solchen Konfliktherden mangelt es bereits heute nicht. Wenn sich sowohl die Linken wie die bisherigen Oppositionen in diesen Streitfragen ebenso verhalten wie bisher, werden sie mehr und mehr Teil und nicht Lösung der Krise werden. Dies kann man sich ganz konkret am Beispiel von Konkurrenzsituationen innerhalb von ver.di und zwischen ver.di und anderen Gewerkschaften vorstellen. Ob dort Linke zum Beispiel Protagonisten der Konkurrenz oder ihrer gegenseitigen Aufhebung werden, ist dann viel entscheidender als die Antwort auf die Frage, ob sie 1998, 1999, 2000 oder 2001 für oder gegen ver.di waren.

Der innergewerkschaftliche Kampf für oder gegen ver.di ist jedenfalls nicht der Kampf, der in den nächsten Jahren für mehr selbsttätige gewerkschaftliche, branchenübergreifende Bewegungen geführt werden muss. Es wird Zeit, dass sich die Linken in den ver.di-Gewerkschaften auf einen Diskussions- und Arbeitszusammenhang als ver.di-Linke verständigen.

Martin Dieckmann

Der Autor ist stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Gruner&Jahr und demnächst Sekretär beim Hauptvorstand der IG Medien. Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in express.