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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 445 / 21.12.2000

Der schöne Schein der Parität

Der EU-Gipfel von Nizza stärkt die deutsche Führungsrolle

Historische Tagung oder erbärmlicher Flop? Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte, aber mit Sicherheit näher bei der letztgenannten Variante. Zwar kam es in nächtlicher Sitzung und fast zwei Tage später als geplant doch noch zu einem Abkommen. Die großen Hoffnungen, die Frankreich als amtierende EU-Ratspräsidentschaft in einen "Traité de Nice" gesetzt hatte, waren bereits im Vorfeld zusammengestrichen worden. Eine Reihe wichtiger Entscheidungen sind schlicht vertagt worden.

Der Hauptstreitpunkt des Nizzaer Gipfels war die Neuverteilung der machtpolitischen Gewichte innerhalb der Europäischen Union. Erstens sollte die Vertretung der Mitgliedsstaaten in der Europäischen Kommission - in gewissem Sinne dem Exekutivorgan der EU - neu geregelt werden, da die absehbare Erweiterung der Union von derzeit 15 auf bis zu 27 Einzelstaaten eine "Aufblähung" der Kommission und damit Handlungsunfähigkeit befürchten lässt. Ursprünglichen Plänen zufolge sollte dieses Problem dadurch gelöst werden, dass die kleineren EU-Staaten nicht mehr ständig in der Kommission vertreten wären. Das hatte auf der Vorbereitungskonferenz Mitte Oktober in Biarritz bereits zu heftigen Konflikten vor allem mit Belgien, Luxemburg und Portugal geführt. Zum zweiten sollten die Stimmengewichte im Ministerrat - eine Art Parlament der EU, das allerdings aus Vertretern der nationalen Regierungen besteht - mit Blick auf die Erweiterung neu austariert werden. Und zum dritten standen Reformschritte auf der Tagesordnung, die die Entscheidungsfindung in der EU beschleunigen sollten. Denn einerseits sollte auf einer Reihe von Themenfeldern vom Einstimmigkeitsprinzip abgerückt werden; auf der anderen Seite sollten so genannte "vertiefte Kooperationen" zwischen einzelnen Mitgliedsländern verstärkt zugelassen werden.

Insbesondere der dritte Punkt zeigt deutlich, dass es darum ging und geht, ein "Gravitationszentrum" zu schaffen, welches künftig das Integrationstempo bestimmen wird, wobei die "langsameren" Mitgliedsländer in einer Art konzentrischer Kreise rund um das Zentrum gruppiert sind. Der Übergang zum - qualifizierten - Mehrheitsentscheid bedeutet konkret, dass das Vetorecht einzelner EU-Staaten gegen Beschlüsse, die sie als konträr zu ihren Interessen empfinden, entfällt. Zugleich bietet er einer Regierung, die - auf Grund sozialer Proteste - Probleme mit der Durchsetzung bestimmter Beschlüsse bekommt, die Gelegenheit, sich glänzend aus der Affäre zu ziehen - finden sich genügend andere Regierungen ein, um den Beschluss zu verabschieden, so kann sie risikolos dagegen stimmen.

Abkehr vom Konsensprinzip

Tatsächlich ist das Vetorecht gegenüber der Einrichtung "vertiefter Kooperationen" in Nizza nunmehr gefallen. Allerdings ist letztere auch nach dem jüngsten Gipfel mit einer Reihe von Auflagen und Bedingungen versehen - die Europäische Kommission muss ihrem Zustandekommen zustimmen, auf Antrag von mindestens acht Mitgliedsstaaten. Was den Übergang zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung betrifft, so ist diese nur auf einigen Themenfeldern erreicht worden, auf anderen wichtigen Gebieten hingegen auf Grund der Opposition bestimmter Staaten gescheitert oder verschoben. Auf dem wichtigen Feld der Handelsabkommen, des Austauschs von Dienstleistungen (für den Warenaustausch galt bereits bisher der Mehrheitsentscheid), der Patent- und Autorenrechte - unter diese Rubrik fällt insbesondere die heikle Problematik der Gen-Patentierungen - und der Investitionen ist das Einstimmigkeitsprinzip gefallen. Hingegen scheiterte die Abkehr vom Konsensprinzip bspw. auf den Gebieten der Steuer- und der Sozialpolitik am Veto Großbritanniens, das sein strikt neoliberales Modell unter keinen Umständen aufgeweicht sehen will. In der Einwanderungs-, Visa- und Asylpolitik war es Deutschland, das keine zu schnelle Aufgabe des Vetorechts wünschte.

Zur Frage der Repräsentanz der Mitgliedsländer, und insbesondere der "kleinen" in der EU-Kommission wurden Beschlüsse vertagt. Einstweilen bleiben alle (alten und neu beitretenden) Mitgliedsstaaten in der Kommission vertreten, doch nach dem Beitritt von zwölf EU-Kandidaten soll erneut über eine Verkleinerung der Kommission abgestimmt werden. Deutschland hatte schließlich vorgeschlagen, stattdessen lieber die Präsidentschaft der EU-Kommission zu stärken. Entsprechend ist diese mit mehr Vollmachten ausgestattet worden, und sie wird künftig ihrerseits mit qualifizierter Mehrheit (und nicht mehr per Einstimmigkeit) gewählt werden.

"Vertiefte Kooperationen"

Die Neuverteilung der Stimmengewichte im Ministerrat war es, die am Ende zur Krise führte. Frankreich (60 Millionen Einwohner) wollte in jedem Falle die symbolische Stimmengleichheit zu Deutschland (80 Millionen) gewahrt wissen, da die gesamte deutsch-französische Beziehung der Nachkriegszeit auf der Idee der Gleichheit beider Länder aufbaut und die politische Klasse Frankreichs das ökonomische und demographische Übergewicht Deutschlands fürchtet. Ebenso bestand Belgien (10 Millionen Einwohner) darauf, die Stimmengleichheit gegenüber den Niederlanden (15 Millionen) beizubehalten. Bis zuletzt leistete Frankreich hinhaltenden Widerstand gegen die Forderung der Deutschen, im Ministerrat künftig mit mehr Stimmen als Frankreich oder Großbritannien vertreten zu sein. Belgien seinerseits wollte nur dann gegenüber dem holländischen Nachbarn zurückstehen, wenn die Bevölkerungszahl für alle Beteiligten gleichermaßen - und damit auch für das deutsch-französische Verhältnis - berücksichtigt werde.

Letztendlich errang die französische Delegation einen Pyrrhussieg. Zwar blieb die symbolisch wichtige Stimmengleichheit gegenüber Deutschland im Ministerrat (mit jeweils 29 Stimmen) bestehen. Doch handelte Berlin im Gegenzug, laut Aussage von Teilnehmern der deutschen Delegation, weit größere Zugeständnisse als erwartet aus. So erhalten die bevölkerungsreichen Staaten - allen voran Deutschland - ein neuartiges Vetorecht zugestanden. Künftig muss ein Votum, um die Hürde der "qualifizierten Mehrheit" zu erreichen, nicht mehr nur 50 Prozent der Mitgliedsstaaten und 74,5 Prozent der abgegebenen Stimmen repräsentieren, sondern auch mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung. Damit wird auf Umwegen Deutschlands höhere Bevölkerungszahl doch berücksichtigt. Daneben wird Deutschlands Vertretung im Europäischen Parlament stark ausgebaut - Deutschland blieben (wie bisher) 99 Europaparlamentarier, während die Zahl der französischen, britischen und italienischen Abgeordneten von 87 auf 72 reduziert wird.

Galten bisher Deutschland und Frankreich gemeinsam als treibende Kräfte der EU, so ist erweist sich nun im Wesentlichen Deutschland allein als Machtzentrum der EU. Dabei konnten sich die deutschen Delegierten in Nizza vornehm zurückhalten und die präsidierenden Franzosen alle Ungeschicklichkeiten vor allem gegenüber den kleineren Mitgliedsstaaten begehen lassen, als deren Schirmherren sich die Deutschen aufspielen konnten, bspw. in der Frage der Zusammensetzung der EU-Kommission. Auch die osteuropäischen Beitrittskandidaten setzen vorwiegend auf Berlin, um ihre Wünsche in der Union berücksichtigt zu sehen.

Die französische Presse war sich am Morgen "nach Nizza" weitgehend einig: "Chirac hat nur den Anschein der Parität (gegenüber der BRD) gerettet" (Libération); "Frankreich hat einen hohen Preis für die Parität mit Deutschland bezahlt" (die Wirtschaftszeitung Les Echos); "Warum Frankreich gegenüber Deutschland nachgegeben hat" (Le Figaro). Und die Pariser Abendzeitung Le Monde, traditionell zurückhaltend kommentierend, berichtet, dass Kanzler Schröder im Vorfeld des Gipfels "parallel zu Chirac eine Rundreise durch die europäischen Hauptstädte durchführte, um den Vermittler zu spielen" - eine Rolle, die traditionell der EU-Ratspräsidentschaft vorbehalten ist.

Schröder spielt den Vermittler

Zu den weiteren Beschlüssen des Gipfels gehört eine - seit 30 Jahren in Verhandlung befindliche - Neuerung auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts, die künftig transnationale Fusionen von Unternehmen und eine europaweite Aktivität der Konzerne erleichtern wird. Als Europäische Aktiengesellschaft können sie eine einheitliche Rechtsform annehmen, wobei sie jedoch nach wie vor das steuerpolitisch vorteilhafteste Land für den Konzernsitz wählen können. Im Gegenzug müssen die Konzerne eine Form der Mitbestimmung akzeptieren, die weitgehend an das deutsche System angelehnt ist und Arbeitnehmer-Vertretern ein Drittel der Sitze im Aufsichtsrat sichert.

In der Militärpolitik beschloss der Gipfel die Bereitstellung von 100.000 Mann für eine künftige "Europäische Verteidigungskraft" und die Einrichtung europäischer Befehlsstrukturen: Generalstab, Militärisches Komitee, Sicherheitspolitisches Komitee. In der heiklen Frage des Verhältnisses der künftigen EU-Streitmacht gegenüber der (US-dominierten) NATO mussten die Verfechter eigenständiger europäischer Ambitionen jedoch auf britischen Druck einen Rückzieher machen. Enthielt die ursprüngliche Textfassung die explizite Formulierung einer "Unabhängigkeit" der EU-"Verteidigungskraft" von der NATO, so hält der verabschiedete Text statt dessen fest: "Eine europäische Verteidigungsidentität stärkt die NATO."

Bernhard Schmid,

Nizza