"Revolution" in Serbien
Das Schwierigste ist vorbei, das Schlimmste kommt noch
Dragomir Olujic Oluja, der in Belgrad lebt, gibt eine Einschätzung zu den jüngsten Entwicklungen in Serbien. Als "Dissident" und konsequenter linker Antinationalist verbrachte er in den letzten 30 Jahren immer wieder einige Monate im Gefängnis. Er hat diesen Text, der von ak gekürzt und überarbeitet wurde, bereits am 10. Oktober geschrieben.
Die neuere Geschichte Serbiens, also die Zeit seit 1987, als Slobodan Milosevic die Macht übernommen hat, wird in zwei Perioden eingeteilt werden: die Zeit vor und nach dem 5. Oktober 2000, dem Tag der Erstürmung des Parlaments.
Die große Bedeutung des "D-Day", um eine Formulierung von General Nebojsa Pavkovic (1) aufzugreifen, steht außer Frage. Am 5. Oktober wollten die Bürger Serbiens mit öffentlichen Aktionen das verteidigen, was sie bereits in den geheimen Präsidentschaft- und Parlamentswahlen Jugoslawiens sowie in den Provinzwahlen in Vojvodina und den Kommunalwahlen in Serbien am 24. September entschieden hatten. Obwohl der Sturz Milosevics so lange herbeigesehnt wurde, überraschte der Kollaps nun sowohl die Bevölkerung Serbiens als auch die ganze Welt.
In Belgrad war die Absetzung Milosevics ziemlich leicht, eine Aufgabe, die in ein paar Stunden erledigt war. Die Mehrheit jubelte, eine nicht zu vernachlässigende Minderheit war jedoch enttäuscht. Die Verankerung Milosevics und seiner Politik in der serbischen Gesellschaft ist aber noch immer stärker als es den Anschein hat. Sonst wäre es für ihn unmöglich gewesen, so lange zu regieren. Auch die "Opposition" unterstützte ihn, offen oder verdeckt: erstens Vojislav Seselj (2), zweitens Vuc Draskovic (3), drittens Zoran Djindjic (4). Die einzige "Oppositions"-Persönlichkeit mit einer Distanz zu Milosevic, obwohl er dessen Nationalismus ohne Abstriche teilte, war Vojislav Kostunica.
Wahn der nationalen Mythen
Ein großer Teil der Verantwortung für Milosevics lange Machtausübung trägt auch die internationale Gemeinschaft. Diese hatte noch bis kurz vor dem Krieg das eine gesagt und das andere getan. Verbale Verurteilung ging Hand in Hand mit praktischer Unterstützung für Milosevic. Das war weder ein Unfall noch eine Unbeholfenheit oder Verwirrung der internationalen Gemeinschaft. Es handelte sich dabei um überlegte Politik.
Milosevic liegt mit seiner Einschätzung richtig, dass er auch nach Kostunicas Machtübernahme noch viel zu sagen hat. (5) Die Behörden der serbischen Republik stehen zum Teil noch unter seiner Kontrolle, und in Jugoslawien zählt der Einfluss auf die Verwaltung in den Republiken mehr als der auf die föderalen Institutionen. Ein bedeutender Teil der Armee und der Polizei bleibt Milosevic loyal verbunden. Auch das Management-Establishment der Großbetriebe unterstützt ihn noch immer. Zudem verfügt Milosevic über eine gut organisierte Partei. Zur Zeit ist er zwar in der Defensive, aber bald wird er seinen Einfluss in der neuen Situation festigen können.
Um es einfacher auszudrücken: Milosevic hat den "friedlichen" Weg gewählt, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Er hält sich die Rückkehr in die serbische Politik offen. Das kann sehr schnell gehen kann. Er wird sich wieder zurückmelden, wenn es Kostunica und der Demokratischen Opposition Serbiens DOS (6) nicht gelingen wird, in der ersten Welle der "nationalen Revolution" die alten Machtstrukturen zu zerschlagen. Das wird trotz der Ereignisse des 5. Oktober nicht einfach sein.
Die Oppositionsallianz war eigentlich nie eine echte Opposition. Sie hat niemals Milosevics Ziele - vor allem die nationalistischen und militärischen, insbesondere in Kosova - abgelehnt. Es handelte sich um eine Opposition, die stets versuchte, die Bevölkerung in der Art des olympischen Wettstreits davon zu überzeugen, dass sie mit ihr "höher, schneller, weiter" geführt werden könnte als unter Milosevic. In allen jugoslawischen Kriegen stand diese serbische Opposition, mit einigen ehrenwerten Ausnahmen, auf der Seite Milosevics. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und ihm bestand darin, dass er selbst die nationale und kriegerische Politik führte und sie eben nicht.
Die Bürger, gefangen im Wahn der nationalen Mythologie, hatten keine echte Wahl. Die sogenannte Opposition verfügte über kein unabhängiges Programm. Ihre Beteiligung an allen Wahlen war der einzige Weg für sie, sich als Opposition zu legitimieren. Jetzt haben die Wähler große Hoffnungen, dass DOS einen radikalen Wechsel bringt, aber sie kann nur innerhalb des alten Paradigmas handeln. Jetzt müssten wir beispielsweise an der Wiederbelebung der Arbeiterselbstverwaltung arbeiten; aber statt dessen werden wir von nationalistischen und neoliberalen Parteien regiert.
Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser Opposition wie auch des Verhaltens der Bürger. Die Demonstrationen im Winter 1996-97 (7) und die aktuellen Proteste, als zwei hervorstechende Beispiele, sind nicht das Resultat der harten Arbeit dieser Opposition, sondern ein Ausdruck der katastrophalen Zustände in Serbien und der spontanen Reaktion der wütenden Bürger.
In den ersten Tagen nach der Wahl hörten wir lautstarke Siegeshymnen. Niemand war sich sicher gewesen, dass DOS gewinnen würde, vor allem in einer so spektakulären Weise. Alle waren verwirrt und wussten nicht, was sie tun sollten.
Am 5. Oktober gab es keinen entscheidenden Wechsel und schon gar keine revolutionären Veränderungen. Die Bezeichnung "Revolution" wird jetzt benutzt, um die Unfähigkeit der neuen Machthaber zu überdecken. Es geht dabei auch darum, ihre schwache Position in der gesamten Machtstruktur auf lokaler und regionaler Ebene zu maskieren.
Die größten Opfer des alten, aber nicht wirklich verschwundenen Regimes waren die jungen Menschen und die Arbeiterklasse. Sie haben am meisten zum Sieg der Opposition beigetragen. Wie in Kroatien und Slowenien trugen junge Leute die schwerste Last der Vorwahlkampagne zur Mobilisierung der Wähler. Sie sammelten sich in der Bewegung "Otpor" ("Widerstand") (8) sowie in verschiedenen Nichtregierungsorganisationen und Rockbands.
"Otpor" ist eine weitere große Illusion in der politischen Szene Serbiens. "Otpor"-Mitglieder vertreten ebenfalls die nationalistische "serbische Geschichte". "Otpor" bedrohte Milosevic nicht deshalb, weil sie eine Alternative zu ihm ist, sondern weil sie als eine politische Kraft in der Lage war, eine eigene Nationalismusvariante anzubieten. Genau das war es, was der Rest der Opposition nicht vermochte. Obwohl sie von dem alten Regime verfolgt werden, stehen "Otpor"-Aktivisten für die Kontinuität des "alten" Serbiens.
Gute Perspektiven in Sicht?
Die Unabhängigen Gewerkschaften opferten die Interessen ihrer Mitglieder und der Arbeiterklasse als sozial, ökonomisch und politisch unterdrückter Gruppe. Sie traten DOS bei, in deren Programm man kein einziges Wort über die Probleme der Arbeiterklasse findet. Auch die nationalistische "Assoziation Freier und Unabhängiger Gewerkschaften" (ASNS) ist Mitglied bei DOS.
Auch die Gewerkschaft "Nezavisnost" ("Unabhängigkeit") führte eine Kampagne für Kostunica und DOS. Es würde mich nicht wundern, wenn "Nezavisnosts" Präsident, Branislav Canak, Minister für Arbeit und Soziales in der neuen Regierung werden würde. Sowohl ASNS als auch "Nezavisnost", die sich immer wieder im Konflikt miteinander befinden, waren daran beteiligt, den Generalstreik zu organisieren.
In Belgrad gibt es folglich eine Kombination des tschechischen und des rumänischen Modells des "Wechsels". Der Sieg der "nationalen Revolution" in Serbien wurde von unten erkämpft, ähnlich wie in Prag und Timisoara. Eine Zeit lang werden Prag und Timisoara in Belgrad überwintern. Fraglich ist, wo der Samen hinfallen wird. Es ist jedenfalls ein fruchtbares Land für verschiedene politische Ideen.
Dabei haben die DOS und Kostunica einige Vorteile. Der erste Mann der DOS ist ohne Zweifel Djindjic. Alle anderen, auch Kostunica selbst, sind seine Marionetten. Djindjic ist bereit, noch mehr Kompromisse einzugehen als er es ohnehin schon tut. Nicht zuletzt wegen seiner Ausbildung in Deutschland (9) weiß er sich richtig zu vermarkten und kann seine verschiedenen Masken verkaufen. Er ist ein geschickterer Broker als Milosevic, und niemand innerhalb von DOS hat eine Chance gegen ihn.
Die "Gruppe 17 Plus" ist sozusagen der Think Tank der DOS. Sie besteht aus neo-liberalen und neo-keynesianischen Wirtschaftswissenschaftlern, die in der Lage sind, die ökonomischen Verhältnisse in Serbien zu analysieren. Aber sie verstehen wenig von den Ursachen. Ihre "Lösungen" halten lediglich Allgemeinplätze bereit, zum Beispiel, dass "mehr Investitionen" notwendig seien. Der politische Ehrgeiz der "Gruppe 17 Plus", vor allem ihres Direktors, Mladjen Dinkic, ist größer als ihre Fähigkeiten.
Die neue Regierung versucht, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Denn für jede neue Autorität ist das Gefährlichste die Selbstorganisation der Bürger. Hier liegt Zündstoff für Konflikte. Auch der "kosovarische Knoten" bleibt ungelöst. Die Politik der Ex-Opposition gegen Kosova war dieselbe wie die von Milosevic. Auch jetzt noch, mit wenigen Ausnahmen, wird jeder Oppositionsaktivist sagen: Serbien den Serben. Kostunica setzt Milosevics Interpretation der "serbischen Geschichte" fort. Das stimmt nicht gerade optimistisch. Auch die Beziehung zwischen Serbien und Montenegro bleibt gespannt.
Die internationale Gemeinschaft ist nicht hier, um sich für unsere Interessen oder Hoffnungen einzusetzen. Sie ist hier, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und die Interessen des Weltkapitals zu wahren. Kostunica und die an die Macht gelangte ehemalige Opposition sind dabei kleine Zahnrädchen. Mit der mageren internationalen Finanzhilfe, welche jetzt zu erwarten ist, können zwar ein paar Löcher gestopft werden, das ist alles. Wenn sich die Hoffnungen aber in Luft auflösen, die Realität zu Tage tritt und die sozialen Probleme ungelöst bleiben, was dann?
Dragomir Olujic Oluja
Anmerkungen:
1) Letzter Stabschef der Jugoslawischen Armee (JNA) unter Milosevic, der auch von der neuen Kostunica-Regierung getragen wird.
2) Führer der Serbischen Radikalen Partei (SRS), einer chauvinistisch-rechtsextremen Partei, welche sich in der Koalitionsregierung Serbiens mit Milosevics Sozialistischer Partei (SPS) und Mira Markovics Jugoslawischer Vereinigter Linken (JUL) befand.
3) Chef der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO), einer royalistisch-nationalen Organisation, welche jahrelang die stärkste Oppositionskraft bildete. Während des NATO-Krieges trat Draskovic der Milosevic-Regierung bei.
4) Chef der Demokratischen Partei (DS), der neoliberal ausgerichteten zweitgrößten Ex-Oppositionspartei.
5) Milosevic ließ sich im November wieder zum Chef der SPS wählen und kandidiert für das Parlament bei den Wahlen am 23.12.2000.
6) Parteienbündnis der Opposition, das Kostunica unterstützt.
7) Wochenlange Massenproteste gegen einen Wahlbetrug bei Kommunalwahlen.
8) "Otpor" spielte bei den Mobilisierungen gegen Milosevic eine entscheidende Rolle. "Optor" verfügt über eine Netzwerkstruktur und mehrere tausend jugendliche AktivistInnen. Ihr Symbol ist eine Faust.
9) Djindjic, der 1952 in Bosnien geboren wurde, studierte in Belgrad Philosophie. Nach seiner Graduierung 1974 gründete er eine oppositionelle Studierendenorganisation und wurde inhaftiert. Der damalige SPD-Bundeskanzler, Willy Brandt, intervenierte persönlich bei Tito für seine Freilassung. Ab 1977 arbeitete Djindjic als Assistent von Jürgen Habermas an der Universität Konstanz. Dort promovierte er 1979. Bis 1990 arbeitete er an verschiedenen Universitäten und als Geschäftsmann in Deutschland.