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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 446 / 18.1.2001

Visionär und Pragmatiker

Lenin lebt - leider vor allem in den Schriften seiner Gegner

Der unter dem Namen Lenin bekannt gewordene russische Kommunist Wladimir Iljitsch Uljanow (1870-1924) ist, 77 Jahre nach seinem Tod und fast zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, immer noch weit davon entfernt, in Vergessenheit zu geraten. Von Nachruhm kann man allerdings nur bedingt sprechen. Denn es sind weniger die "Leninisten", welche die Erinnerung an ihr Idol wach halten, als vielmehr Leute, die ganz andere Zwecke verfolgen.

Während der Volkswagen-Konzern den vermeintlichen Sympathieträger Lenin schon mal für die Golf-Werbung einsetzte, tat sich Joschka Fischer in seinem Buch "Die Linke nach dem Sozialismus" (1992) mit der bis dahin dümmsten Anklage gegen Lenin hervor: "Lenin und Stalin haben mit der Sowjetunion die Synthese von atomarer Supermacht und russischem Mittelalter geschaffen" - wer sich um das Amt des deutschen Außenministers bewirbt, darf nicht kleinlich sein: Gesinnung ist allemal wichtiger als historische Wahrheit.

Lenin wird voraussichtlich noch lange ein bevorzugter Gegenstand rechter Geschichtspolitik bleiben. Dass die Oktoberrevolution den "Weltbürgerkrieg der Ideologien" auslöste - in dem die Nationalsozialisten dann später "zurückschlugen" - behauptet nicht nur Ernst Nolte. In der Spiegel-Serie über das 20. Jahrhundert erscheint die Oktoberrevolution als Werk eines ebenso genialen wie skrupellosen Verbrechers: des "Zynikers" Lenin, der nichts anderes wollte als seine persönliche Diktatur: "Er verfiel völlig dem Götzen der Macht und opferte ihm ungerührt Millionen Menschenleben" (Fritjof Meyer in Der Spiegel 29/1999). Als mildernden Umstand lässt der Autor, seit 1967 Leiter der "Ost-Berichterstattung" des Spiegel, allein Lenins "Traumatisierung" durch die Hinrichtung seines älteren Bruders, des Zaren-Attentäters Alexander Uljanow, gelten: Schockiert nahm der kleine Wladimir sich vor, "das Vermächtnis seines gehenkten Bruders zu erfüllen". Am Ende stand die größte Vergeltungsmaßnahme der Geschichte - allein 140.000 Exekutierte und ebenso viele "bei der Unterdrückung von Aufständen Getötete" zählt der Spiegel-Redakteur: "welch ein Multiplikator der Opferzahl des Zaren - eine orgiastische Vergeltung für den Tod des Bruders Alexander."

Wie Lenin den Terror der Nazis "inspirierte"

Stéphane Courtois, der im "Schwarzbuch des Kommunismus" weltweit "hundert Millionen Opfer des Kommunismus" addiert, macht bekanntlich "die Utopien" - Träume von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - für den Terror verantwortlich. Auch bei ihm ist Lenin der eigentliche Urheber der Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts: "Die von Lenin erarbeiteten, von Stalin und seinen Schülern systematisierten Methoden lassen an die Methoden der Nazis denken, nehmen sie aber oftmals voraus." Es sei eine Tatsache, "dass das Ausmaß und die Techniken der Massengewaltausübung von den Kommunisten eingeführt wurden und die Nazis sich von ihnen inspirieren ließen".

Solchen Deutungen wie auch den grotesken Opferzahlen ist von links mehr oder weniger deutlich widersprochen worden - meist mit dem (durchaus richtigen) Argument, durch sie würden die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert. Eine offensive Verteidigung Lenins und der russischen Revolution aber wird heute nur noch von immer kleiner werdenden Segmenten der Linken unternommen; über Traditionspflege kommen solche historischen Würdigungen selten hinaus. Mit Lenin, so scheint es, ist kein Staat, keine Revolution und überhaupt kein sozialer Fortschritt mehr zu machen. Hinzu kommt eine nicht unsympathische Neigung vieler Linker, sich eher an den Besiegten zu orientieren: revolutionären "Edel-Figuren", die - wie Domenico Losurdo schreibt - auch deshalb "edel" waren, weil es ihnen nicht vergönnt war, "an einer aus einer Revolution hervorgegangenen Machtausübung teilzuhaben." Losurdo nennt als derzeit besonders beliebte edle Besiegte Gramsci, Luxemburg und Che Guevara.

Das sind zweifellos großartige Persönlichkeiten, deren Werke - namentlich die Gramscis - auch heute noch mit Gewinn studiert werden können. Aber an Lenin reichen sie denn doch nicht heran - und das nicht nur wegen der bekannten Laune der Weltgeschichte, die allen marxistischen Prophezeiungen zum Trotz, am Ende des Ersten Weltkrieges Russland zum "schwächsten Kettenglied des Imperialismus" werden ließ und ausgerechnet in diesem wirtschaftlich, kulturell und politisch rückständigen Land die Revolution leichter möglich machte als im Westen. Warum das so war, hat Gramsci später mit seinen Betrachtungen zum "Stellungskrieg und Bewegungskrieg" erklärt. Nur - Lenin hat die Gunst der Stunde als Erster erkannt und gegen viele Widerstände, auch in der Partei der Bolschewiki, die Eroberung der Macht auf die Tagesordnung gesetzt.

Dass Lenins Linie siegen musste, erklärt die stalinistische Geschichtsschreibung - etwa der berüchtigte "kurze Lehrgang" zur "Geschichte der KPdSU (B)" - nicht allein mit seinem Genie, sondern auch mit den "objektiven Gesetzmäßigkeiten" der Geschichte: Lenin vertrat den Fortschritt, während die "Opportunisten und Doppelzüngler" die revolutionären Massen zurück zerren wollten. Diese Darstellung ist kaum weniger kindisch als die von "bürgerlichen" Historikern und Lenin-Biographen penetrant wiederholte Behauptung, seine allzu naiven Widersacher hätten Lenins grenzenlosem Machtwillen nichts entgegensetzen können. Dieser Machtwille sei schon in seiner 1902 erschienenen Broschüre "Was tun?" dokumentiert - einer in der Tat bemerkenswerten Schrift, die eine internationale Jury im Auftrag der britischen Literaturzeitschrift Logos jüngst in die Liste der "100 wichtigsten Bücher des Jahrhunderts" aufgenommen hat.

Vor allem ein dort entwickelter Gedanke ist es, der die Anti-Leninisten heute noch schäumen lässt: Dass die Erfahrung des Klassenantagonismus allein die Arbeiter noch nicht zu Revolutionären macht, die betrieblichen Kämpfe vielmehr nur ein "trade-unionistisches" (gewerkschaftliches) Bewusstsein schaffen; dass es für die Verwirklichung des Sozialismus einer wissenschaftlich ausgebildeten "Avantgarde" (der revolutionären Partei) bedarf, die das sozialistische Bewusstsein "von außen in die Arbeiterklasse hineinträgt". Dies stelle den Marxismus auf den Kopf, sei purer "Elitismus" und degradiere die Arbeiter zu Befehlsempfängern der Partei bzw. des selbst ernannten Führers des Proletariats.

"Was tun?" - die Revolution des Journalismus

Hier muss zunächst richtig gestellt werden, dass der Avantgarde-Gedanke keine Leninsche Spezialität war. Die Erkenntnis, dass Betrieb und Gewerkschaft als Schule des Klassenkampfs nicht ausreichen, übernahm er direkt von dem deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky, den er in "Was tun?" mit erkennbarem Genuss gegen die russischen "Ökonomisten" und "Spontaneisten" zu Wort kommen ließ. "Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht", hatte Kautsky geschrieben und gefolgert: "Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas urwüchsig aus ihm Entstandenes."

Lenin begründete in "Was tun?" aber nicht nur den Führungsanspruch der Partei, er machte auch eine Reihe von Vorschlägen, wie unter den Bedingungen des Zarismus revolutionäre Agitation und Propaganda organisiert werden konnte. Als wesentliche Aufgabe der viel geschmähten Geheimorganisation der Berufsrevolutionäre definierte Lenin die regelmäßige Herausgabe einer gesamtrussischen Zeitung, die mittels "allseitiger politischer Enthüllungen" über die russische Klassenwirklichkeit die "wichtigste Vorbedingung für die Erziehung der Massen zur revolutionären Aktivität" schaffen müsse. Originell war Lenins Hoffnung, dass diese Zeitung überdies zum "kollektiven Organisator" der im ganzen Lande verstreuten marxistischen Zirkel werden würde.

Die Wirkungsgeschichte von "Was tun?" zu schreiben, wäre eine lohnende Aufgabe. Den nach 1968 in Westdeutschland entstandenen "K-Gruppen" diente die Schrift zum einen als Rechtfertigung des eigenen Führungsanspruchs: Die zu bekämpfenden "Ökonomisten", "Anbeter der Spontaneität" und Verfechter von "Handwerkelei" und "Zirkelwesen" waren stets die anderen. Als praktische Handlungsanweisung ernst genommen wurde "Was tun?" allerdings nur im Kommunistischen Bund (KB), von dem wir die Zeitung ak - analyse & kritik (vormals Arbeiterkampf) geerbt haben. Der KB verstand sich als "Zeitungsorganisation" im Leninschen Sinne.

Dass es "die Aufgabe jedes Revolutionärs" sei, "die Revolution zu machen", hatte in riesigen Lettern schon als Motto über dem Internationalen Vietnam-Kongress (Westberlin, Februar 1968) gestanden. Die an Lenin orientierten K-Gruppen (als erste gründete sich am 31.12.1968 die KPD/ML) waren allesamt überzeugt, dass sie mit ihrer Agitation und Propaganda den Boden für einen Umsturz, ähnlich der Oktoberrevolution von 1917, bereiteten. Uneinigkeit bestand vor allem darin, wie weit man von diesem Ereignis noch entfernt war; der KB ging bekanntlich von einer Rechtsentwicklung der BRD aus ("Faschisierung von Staat und Gesellschaft"), während der KBW bei jeder Gelegenheit behauptete: "Die Massen wollen nach links!" Lenins Schriften aus dem Revolutionsjahr 1917 gaben den superlinken Maulhelden massenhaft Zitatenmaterial an die Hand, das gegen die "Opportunisten" eingesetzt werden konnte - allerdings nur, wenn man Lenin ahistorisch zum Verkünder der Wahrheit machte, unabhängig von Ort, Zeit und Bedingungen.

Oktober 1917: Abwarten wird zur "Idiotie"

Wer sich heute die Mühe macht, den zweiten Band von Lenins "Ausgewählten Werken" (enthalten sind Arbeiten aus der Zeit von März 1917 bis Juni 1918) zu lesen, wird verblüfft sein über Lenins geistige Wendigkeit, die mit dem schematischen Denken der westdeutschen "MLer" rein gar nichts zu tun hat. Die am 7. April 1917 veröffentlichten Thesen "Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution", die sog. April-Thesen, enthalten die Grundelemente eines demokratischen Übergangsprogramms: "Nicht ,Einführung` des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten."

Noch vor ihrem Erscheinen in der Prawda arbeitet Lenin die April-Thesen aus zum Plattform-Entwurf "Die Aufgaben des Proletariats in der Revolution". Zur Taktik der Bolschewiki schreibt er: "Sie erfordert Kritik, Aufklärung über die Fehler der kleinbürgerlichen Parteien, der Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, Schulung und Vereinigung der Elemente der bewussten proletarischen, der kommunistischen Partei, Befreiung des Proletariats von dem ,allgemeinen` kleinbürgerlichen Taumel." Lenin fügt an dieser Stelle hinzu: "Es scheint, als sei das ,bloß` propagandistische Arbeit." In Wahrheit aber handele es sich um "im höchsten Grade praktische revolutionäre Arbeit" - denn erst wenn die "blinde Vertrauensseligkeit" der Massen durchbrochen sei, könne der nächste revolutionäre Schritt in Angriff genommen werden.

Besonderes Gewicht legt er auf die Agitation für Russlands Ausscheiden aus dem Krieg. Immer wieder erklärt er "auch die geringsten Zugeständnisse an die ,revolutionäre Vaterlandsverteidigung`" für unzulässig, für "Verrat am Sozialismus und Internationalismus". Allein die sozialistische Revolution könne die Beendigung des Krieges garantieren; bis dahin gelte die alte internationalistische Parole: "Der Hauptfeind steht im eigenen Land." Auf ihrer Basis solle schnellstmöglich eine dritte Internationale gegründet werden.

Als einer der Ersten erkennt Lenin, dass das Gelingen der Revolution von der bolschewistischen Bündnispolitik abhängt. Auf dem Ersten Gesamtrussischen Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten (Petrograd, 3. bis 24. Juni) stellen die Bolschewiki nicht mehr als zehn Prozent der Delegierten; noch weniger sind es auf dem Kongress der Bauerndeputierten, der kurz vorher getagt hat. Aber in einem bäuerlichen Land mit einer nur kleinen Industriearbeiterschaft ist die Bauernfrage für die Revolution entscheidend. Mit seiner Rede zur Agrarfrage (22. Mai) kann Lenin die Bauern nicht überzeugen. Er fordert - ganz im Sinne des sozialistischen Programms - die Kollektivierung der Landwirtschaft, während die armen Bauern eigenes Land wollen. (Das Dekret über den Grund und Boden, erlassen einen Tag nach dem siegreichen Oktoberaufstand, enthält dann das entscheidende Zugeständnis, das die Zustimmung der armen Bauern bringt: "Der Boden der einfachen Bauern und der einfachen Kosaken unterliegt nicht der Konfiskation".)

Revolution ist Abgrenzung und Konsens

Nach der konterrevolutionären Gegenoffensive endet im Juli 1917 die Phase der Doppelherrschaft, Lenin flieht nach Finnland und schreibt dort in wenigen Wochen "Staat und Revolution". Das Fragment gebliebene Werk beansprucht, "die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution" zusammenzufassen. In der vorliegenden Skizze über Lenins Rolle als revolutionärer Realpolitiker kann es übersprungen werden; es erschien erstmals 1918 und hatte auf die Organisierung der Revolution keine unmittelbaren Auswirkungen - im Unterschied zu etlichen Aufsätzen und Briefen, in denen Lenin schon vor seiner Rückkehr nach Petrograd (7. Oktober) die Machtergreifung durch die Bolschewiki fordert. So in seinem Brief an das ZK und die Parteikomitees von Petrograd und Moskau (12.-14. September) und in einem weiteren Brief an das ZK ("Marxismus und Aufstand", 13./14. September): Der Aufstand müsse sich "auf den revolutionären Aufschwung des Volkes stützen" und an einem "Wendepunkt" unternommen werden, "wo die Aktivität der vordersten Reihen des Volkes am größten ist, wo die Schwankungen in den Reihen der Feinde und in den Reihen der schwachen, halben, unentschlossenen Freunde der Revolution am stärksten ist". Wenn diese Bedingungen gegeben seien - und Lenin hält sie für gegeben - dann sei "die Weigerung, den Aufstand als eine Kunst zu betrachten, Verrat am Marxismus und Verrat an der Revolution." In dem selben Brief finden sich auch schon diverse praktische Hinweise, wie der Aufstand durchzuführen sei (Verhaftung der Regierung und des Generalstabs, Besetzung des Telegrafenamtes etc.).

Ende September schreibt Lenin seinen Brief "Die Krise ist herangereift", in dem er weiteres Abwarten als "vollendete Idiotie" bezeichnet: "Den Sowjetkongress ,abwarten` ist Idiotie, denn der Kongress wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!" Da er mit dieser Position in der Parteiführung nicht mehrheitsfähig ist, kündigt Lenin seinen Austritt aus dem ZK an, "um mir die Freiheit der Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten." Es folgen weitere Briefe an die Partei ("Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?" vom 1. Oktober, die "Ratschläge eines Außenstehenden" vom 8. Oktober u.a.).

Am 7. Oktober kommt Lenin heimlich in Petrograd an; am 10. Oktober beschließt das ZK die unmittelbare Vorbereitung des Aufstandes. Auch die endgültige Datierung des Aufstandes auf den 25. Oktober geht auf Lenins energische Intervention zurück. Für diesen Tag ist der Zweite Gesamtrussische Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten einberufen. "Eine Verzögerung der Aktion bedeutet den Tod", schreibt Lenin, "es wäre verderblich oder ein rein formales Herangehen, wollten wir die unsichere Abstimmung am 25. Oktober abwarten..., das Volk hat das Recht und die Pflicht, in kritischen Augenblicken der Revolution seinen Vertretern, selbst seinen besten Vertretern, die Richtung zu weisen und nicht auf sie zu warten." Demokratisch ist das nicht, aber ehrlich - abgesehen von der Behauptung, "das Volk" sei die treibende Kraft des Aufstandes. Wie alle Revolutionen, so wird auch die des Oktober 1917 von einer Minderheit gemacht.

Von Lenin lernen, den "Leninismus" vergessen!

Die Minderheit der Bolschewiki (240.000 Mitglieder im August 1917) steht seit dem ersten Tag der später sogenannten "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" vor dem Problem, die Zustimmung zu ihrem Vorstoß zu erkämpfen. Lenin beginnt damit, indem er im Namen des Revolutionären Militärkomitees von Petrograd das Sofortprogramm der Revolution in den denkbar einfachsten Worten zusammenfasst: "das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer an Grund und Boden, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung".

Über dieses Minimalprogramm und seine Träger schrieb Michael Jäger, Redakteur der Berliner Wochenzeitung Freitag, in ak 425: "Die Bolschewiki haben sich zur Machtübernahme... berechtigt gesehen, weil sie von sich wussten, dass sie als einzige Partei entschlossen waren, ,Land und Frieden` zu bringen. Dahin ging der Wille der Bevölkerungsmehrheit, und nicht im mindesten hatte er etwas Kommunistisches an sich. Die Bolschewiki waren bereit, einen ganz und gar nicht kommunistischen Auftrag entgegenzunehmen." Jäger lobt ausdrücklich die bolschewistische Konsenspolitik, die Lenin nach der diktatorischen Phase des "Kriegskommunismus" sowohl in Gestalt der Neuen Ökonomischen Politik als auch bei der Gewinnung der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit durchsetzte: "Davon, dass die Bauern a priori seine ,weit reichende Politik` mittrugen, ging er nicht aus. Die russische Katastrophe begann, als Stalin die Konsensmethode aufgab und zur Zwangskollektivierung schritt."

Der Weg in die Katastrophe führte über mehrere Zwischenschritte, die sich - aus antikommunistischer Sicht - allesamt zwingend aus dem "Sündenfall" vom Oktober 1917 ergeben. Dass Stalin auf Lenin folgte, ist unbestreitbar; dass er aus ihm folgte, ist eine oft wiederholte, aber nie bewiesene These. Dagegen spricht nicht nur Lenins Testament, in dem er vor der ungeheuren Machtfülle des Generalsekretärs Stalin warnte, sondern auch seine Wertschätzung des offenen Meinungsstreits. Oft genug selbst in der Minderheit, nahm er sich immer wieder das Recht, gegen die offizielle Parteilinie zu agitieren. Sein Verdikt gegen die Legitimität innerparteilicher Opposition ist bei genauerer Betrachtung weniger eindeutig, als es scheint: "Wir brauchen jetzt keine Opposition, Genossen, es ist nicht die Zeit danach!" rief er auf dem zehnten Parteitag aus, der im März 1921 tagte, während der Aufstand von Kronstadt die Existenz der Sowjetregierung bedrohte. In dieser "objektiven Lage" sei es unumgänglich, "mit Gewehren zu diskutieren". Der Parteitag verbot dann - im Namen der Einheit - die innerparteiliche Fraktionsbildung. Dieses Verbot wurde nie wieder aufgehoben, obwohl Lenin es - nimmt man seinen oben zitierten Satz wörtlich und betont das "jetzt" - als vorübergehende Maßnahme betrachtet haben könnte.

Was bleibt von Lenin - außer der Mumie, die immer noch die Touristen anlockt? Lenin war zweifellos ein politisches Genie, ein Meister der Abgrenzung und des Konsenses. Sein Erfolg beruht auf der Fähigkeit, an historisch entscheidenden Punkten die Machtfrage zu stellen. Zwar "machte" er nicht die Oktoberrevolution, die das 20. Jahrhundert prägte, aber er hat doch entscheidenden Anteil an dem großen Aufbruch, der am 25. Oktober 1917 in Petrograd und Moskau begann. Von Lenin lernen heißt ... - nein, nicht "siegen" lernen, wohl aber Politik machen lernen. Die Stalinsche Definition des "Leninismus" ist offenkundig falsch: "Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution." Im Gegenteil: Es gibt keinen "Leninismus" (mehr), wohl aber das Beispiel Lenin: ein prinzipienfester und gleichzeitig taktisch flexibler Revolutionär, der den Marxismus nicht als Gebrauchsanweisung missverstand, sondern sein theoretisches Rüstzeug kreativ und undogmatisch in Politik umsetzte - getreu dem alten Motto von Marx "Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme."

Js.