Gegensätze überbrücken
Weltsozialforum in Porto Alegre zeigt Ambivalenzen der Globalisierungskritik
Ignacio Ramonet sparte nicht mit starken Worten, als er den Aufmacher für die Januar-Ausgabe von Le Monde diplomatique verfasste. "Das neue Jahrhundert beginnt in Porto Alegre", pries er das erste Weltsozialforum in der brasilianischen Hafenmetropole an. Eine "rebellische Internationale," käme dort nach Meinung des Chefredakteurs der internationalen Monatszeitung erstmals zeitgleich zum alljährlich in Davos stattfindenden Weltwirtschaftsforum (WEF) zusammen, um den "Machern der Globalisierung" mit einem "theoretischen und praktischen Rahmen für eine Globalisierung neuen Typs" entgegenzutreten. Doch die Widersprüche zwischen Porto Alegre und Davos scheinen nicht so groß, wie manche Globalisierungskritiker behaupten.
Ramonets Euphorie für das alternative Mega-Treffen vom 25. bis 30. Januar im Süden Brasiliens ist kein Zufall. Schließlich hatten unter anderen seine Zeitung und die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung mit dem Motto "Eine andere Welt ist möglich" zu dem fünftägigen Gipfel mobilisiert. Finanziell getragen wurde der Kongress von der linken Stadtverwaltung und dem Bundesstaat Rio Grande do Sul. Die dort regierende Arbeiterpartei (PT) rühmt die Stadt gerne als Modell für soziale Reformen und partizipative Bürgerdemokratie. Die BewohnerInnen der verschiedenen Stadtviertel dürfen bei der Verwendung des kommunalen Haushaltes mitentscheiden, in welche Bereiche der Infrastruktur investiert werden soll. Doch was Ramonet als wegweisendes "soziales Experimentierfeld" und "völlige demokratische Freiheit" feiert, hat Schönheitsfehler. Denn angesichts der allgemeinen Wirtschaftskrise in Brasilien gerät die Mitbestimmung in Porto Alegre mehr und mehr zum Verteilungskampf um die knapper bemessenen Ressourcen.
Trotzdem lohnte sich die Werbung. Ein äußerst heterogenes Spektrum von rund 15.000 Teilnehmern aus 122 Ländern reiste an, weit mehr, als erwartet worden waren. Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, Kirchen, Bauern- und Indigenaverbänden, Frauengruppen sowie kritische Intellektuelle und oppositionelle Parlamentarier fanden sich in der weltoffenen Metropole ein. Und sogar einige kleine und mittlere Unternehmer - die sich auch als Opfer der Globalisierung sehen - fanden den Weg an die brasilianische Atlantikküste. Im Zentrum der zahllosen Podien, Workshops und Symposien standen Diskussionen rund um die "Demokratisierung internationaler Finanz- und Handelsinstitutionen" sowie die Verbesserung der "Nord-Süd-Verständigung" mit dem Ziel einer "weltweiten Vernetzung von Bürgerbewegungen". Eine sozial gerechtere Alternative zum herrschenden Modell des Marktes soll so entstehen, hoffen die Organisatoren.
Das brasilianische Organisationskomitee hatte rund 90 prominente Oppositionspolitiker und Intellektuelle aus der ganzen Welt geladen, um das Forum als internationales Treffen einer neuen Linken zu präsentieren. Doch nicht einmal der tosende Beifall für den Auftritt des Schriftstellers Eduardo Galeano aus Uruguay im überfüllten Audimax der Universität konnte darüber hinwegtäuschen, dass der Süden weitgehend unter sich und der Großteil der geladenen globalisierungskritischen Intelligenz aus Europa und den USA zu Hause blieb. So prägten vor allem die erstarkenden lateinamerikanischen Bauernorganisationen das Treffen, allen voran die brasilianische Landlosenbewegung MST. Rafael Alegria, Vorsitzender von Via Campesina, eines weltweiten Netzwerkes von Kleinbauern, fasste die Problematik der kleinen Landwirte zusammen: "Der so genannte Freihandel hat uns die Lebensgrundlage entzogen. Wir fordern Landreformen sowie Subventionen zu Gunsten kleiner Produzenten und wir lehnen gentechnisch veränderte Nahrungsmittel ab." Ihren Forderungen verliehen die ländlichen Basisorganisationen auch gleich Nachdruck. Angeführt von Alegria, MST-Chef Joao Pedro Stedile und dem omnipräsenten französischen Bauernaktivisten Jose Bove stürmten rund 1.300 brasilianische Bauern am zweiten Tag des Gipfels eine Anlage des US-Biotechnologieunternehmens Monsanto und zerstörten 400 Hektar Versuchsfelder mit gentechnisch veränderten Pflanzen.
Viele der Campesino-Organisationen gehören einer Strömung innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung an, die ihren Sozialprotest mit einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik verbindet.
"Glaubwürdige Alternativen"
Doch trotz ihrer starken Präsenz werden nicht erst seit Porto Alegre vor allem die neokeynesianischen Positionen einer anderen Fraktion diskutiert. Zu deren Protagonisten zählt neben Ramonet auch der Le-Monde-diplomatique-Redakteur Bernard Cassen. Paradigmatisch für diese Fraktion steht das von Cassen mitbegründete globalisierungskritische Netzwerk attac. Auf der Suche nach "glaubwürdigen Alternativen zur Globalisierung und zum Kapitalismus" fordert dieser globalisierungskritische Mainstream vor allem die Besteuerung und politische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte sowie die Stärkung des Nationalstaates gegen die "aktuelle ökonomische Barbarei" (Ramonet). Verbunden sind diese Forderungen mit einer Kritik am Abbau sozialstaatlicher Leistungen. In der abschließenden Empfehlung von Porto Alegre heißt es: "Finanzmärkte entziehen den Kommunen und Nationen Ressourcen und Reichtum und unterwerfen sie den Launen von Spekulanten. Wir fordern die Schließung von Steueroasen und die Einführung von Steuern auf Finanztransaktionen."
Entwicklungspolitische Gruppen wie der Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft des BUKO (ASWW) kritisieren diesen so genannten Re-Regulierungsansatz schon seit längerem. Nicht nur wegen seiner "simplifizierenden dichotomischen" Trennung zwischen Finanzmärkten und "Realökonomie", sondern auch auf Grund der wenig staatskritischen Betrachtungsweise, die den kapitalistischen Nationalstaat als "eine an sich neutrale Instanz" analysiert, "derer sich alle gleichermaßen bedienen können, um ihre Interessen zu verwirklichen". Die gegenwärtige Struktur des globalen Finanzmarktes sei jedoch, heißt es in einem Papier des ASWW vom Mai 2000, "nicht gegen Staaten oder Regierungen, sondern durch sie bzw. mit ihnen verwirklicht" worden. Ebenso wenig ist der nunmehr historische europäische Sozialstaat als eine normative Einrichtung zu verstehen, die ein paar unschöne Nebeneffekte produzierte - wie die Kopplung des Rechtssystems an die Lohnarbeit oder die rigide geschlechtliche Arbeitsteilung -, sondern als spezifisches Akkumulationsregime, das auf systematischen Ausschlüssen, der unbezahlten Arbeit von Frauen, imperialistischen Kriegen sowie einer bestimmten kapitalistischen Produktionsweise, dem Fordismus, basierte.
Bürgerbeteiligte Re-Regulierung
Die Abwesenheit einer prinzipiellen Kapitalismuskritik lässt Re-Regulierungsbefürworter wie Cassen und Ramonet stark in die Nähe reformorientierter Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums rücken, die selbst von einer gewissen Re-Regulierung und einer Art weltweiter Bürgerbewegung träumen, die man an der Verwaltung des Elends beteiligen könnte. Mehr als je zuvor hat sich das WEF beispielsweise dieses Jahr den gepflegten Dialog mit NGOs und anderen zivilgesellschaftlichen Kritikern ganz groß auf die Fahnen geschrieben. Die Videokonferenz zwischen Vertretern der globalisierungskritischen Prominenz in Porto Alegre und jenen der neuen Weltordnung in Davos bildete wohl den Höhepunkt der Inszenierung des WEF-Mottos "Gegensätze überbrücken".
Angesichts der unübersehbaren Krise der kapitalistischen Globalisierung sind sich nicht nur, wie Ramonet meint, "manche Verfechter des herrschenden Wirtschaftsmodells des Demokratiedefizits im Gefolge der Globalisierung wohl bewusst." Vielmehr vollzieht sich ein Paradigmenwechsel des Neoliberalismus als Gesellschaftsmodell, der mit der Wiederentdeckung einer "Gemeinschaft von Wirtschaftsbürgern" umschrieben werden kann oder mit einer "Verantwortungspartnerschaft" zwischen Markt, Staat und Bürgerbewegung. Der Schutz des Privateigentums gehört dabei ebenso dazu wie die "rationale" Verwendung von Ressourcen sowie die Optimierung des persönlichen Humankapitals.
Deutlich wird dieser Paradigmenwechsel beispielsweise in der Global Compact - Initiative des UNO-Generalsekretärs Kofi Annan. Nach dem Desaster des WTO-Gipfels in Seattle 1999 wollte er damit eine neue Partnerschaft zwischen UNO und Geschäftswelt herstellen. Die Eliten sollten sich "zu ihrer zivilen Grundeinstellung bekennen und Verantwortung übernehmen". Nachdem inzwischen mehrere hundert Großkonzerne unterzeichnet haben, preist die UNO Global Compact als die "ambitionierteste Bemühung zur Etablierung von Arbeitsbeziehungen zwischen der UNO, dem privaten Sektor und den Bürgerbewegungen". Ramonets Appelle muten vor diesem Hintergrund wie Pressemitteilungen aus dem Büro des UN-Generalsekretärs an.
Das Weltsozialforum wird nächstes Jahr wieder in Porto Alegre stattfinden. Der "Geist von Davos" ist bereits legendär. Welchen Geist Porto Alegre tragen wird, bringt der spanische Journalist Joaquin Estefania auf den Punkt: "Es ist ein Irrtum zu glauben, dass sich in Davos die unverbesserlichen Neoliberalen und in Porto Alegre die unverbesserlichen linken Nostalgiker treffen. Der einzige Unterschied ist, dass die Zufriedenen in der Schweiz zusammenkommen und die Unzufriedenen in Brasilien."
Stefanie Kron