Ariel Sharon und die List der Vernunft
Die Niederlage des israelischen Premiers Ehud Barak gegen seinen Herausforderer Ariel Sharon kam für niemanden überraschend. Auch die vernichtende Deutlichkeit des Wahlergebnisses hatten die Demoskopen vorausgesagt. Fast die gesamte palästinensische Minderheit in Israel, etwa 12 Prozent der Wahlberechtigten, beteiligte sich nicht an der Wahl. Viele PalästinenserInnen besuchten statt dessen demonstrativ die Gräber der während der Oktober-Unruhen Getöteten. Obwohl Barak die palästinensischen Stimmen für sein politisches Überleben benötigt hätte, ließ er sich erst einen Tag vor der Wahl zu einer Entschuldigung bei den Angehörigen der Opfer hinreißen.
Noch vor einem Jahr hatte Barak eine gründliche innen- und außenpolitische Inventur angekündigt. Doch letztlich fehlte es ihm an Weitsicht und Mut, um einen politischen Neuanfang zu machen. Sein Herausforderer Sharon brauchte den WählerInnen keinerlei Einzelheiten seines Wahlprogramms zu verraten, denn es ging allein um die Abwahl Baraks.
Ariel Sharon ist das letzte Schlachtross der israelischen Gründergeneration. Den Ruf eines Kriegstreibers hat er sich redlich verdient. Auch sein instrumentelles Verhältnis zu den Gepflogenheiten einer parlamentarischen Demokratie hat er mehrfach unter Beweis gestellt. Doch ein Großteil der heute wahlberechtigten Israelis ist zu jung, um sich an Sharons üble Rolle während des Libanonkrieges zu erinnern. Die Siedlerbewegung und ihre SympathisantInnen hingegen wissen genau, was sie an dem Hardliner haben: Sharon steht für die Fortsetzung eines expansiven Siedlerkolonialismus; er hat keinerlei Verständnis für die im Sinne eines stabilen Friedens notwendige Umverteilung von Land, Zugang zu Ressourcen und politischer Macht zu Gunsten der Palästinenser; selbst eher symbolische Zugeständnisse, wie etwa in Sachen Jerusalem, verweigert er.
Die für israelische Verhältnisse außerordentlich niedrige Wahlbeteiligung von 59 Prozent weist darauf hin, dass für viele Israelis (nicht nur für die palästinensische Minderheit) beide Kandidaten nicht wählbar waren. Die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" zwischen Likud und Arbeitspartei dürfte die Abwendung von den Parteien noch verstärken. Baraks zentrales Thema im Wahlkampf war die eindringliche Warnung vor der Gefahr eines regionalen Krieges, falls Sharon gewinnen sollte. Wenn er wenige Wochen darauf als Verteidigungsminister in einer Regierung Sharon fungiert, dann verhöhnt er seine WählerInnen. Und wenn Shimon Peres als neuer Außenminister das politische Gewicht eines Friedensnobelpreisträgers in eine Regierung Sharon einbringt, so verliert die Arbeitspartei spürbar an Glaubwürdigkeit.
Schon diskutieren die zum Kompromiss mit den PalästinenserInnen bereiten Kräfte in der Arbeitspartei über eine Abspaltung, unter ihnen Außenminister Shlomo Ben-Ami und der Architekt der Oslo-Verträge, Justizminister Jossi Beilin. Ein solcher Schritt würde den Trend zur Aufsplitterung der israelischen politischen Landschaft in eine Vielzahl einander blockierender sektoraler Parteien weiter verstärken und so eine zukünftige vertragliche Einigung zwischen Israelis und PalästinenserInnen zusätzlich erschweren.
Sharon selbst strebt eine große Koalition vor allem deshalb an, um sich nicht wie Barak im alltäglichen Hickhack mit vielen kleinen und untereinander verfeindeten Koalitionspartnern aufzureiben. Es geht ihm dabei vor allem um die Handlungsfähigkeit seiner Regierung gegenüber der Herausforderung der palästinensischen Intifada. Doch mit jedem Raketenangriff israelischer Kampfhubschrauber wird es schwerer vorstellbar, dass die Palästinenser sich wieder in die Besatzung fügen. Der gegenwärtige Aufstand darf getrost als palästinensischer Unabhängigkeitskrieg gelten. Nichts deutet darauf hin, dass brutale Repression ein Erfolg versprechendes Mittel zu seiner Beendigung sein könnte.
Hoffnung auf Frieden, so gering sie auch sein mag, wächst derzeit vor allem aus dem, was der linke israelische Historiker Moshe Zuckermann die "List der Vernunft" nennt. In einem ausführlichen Vortrag, den wir in dieser ak-Ausgabe dokumentieren, entwickelt er auch ein Szenario, in dem der Gewaltpolitiker Sharon zum Retter des Friedens werden könnte. Seite 15-18