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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 448 / 15.3.2001

Tödliche Kettenreaktion

NATO-Peacekeeping auf dem Balkan scheitert an eigenen Widersprüchen

Gleich an mehreren Fronten drohen sich auf dem Balkan latente Konflikte gewaltsam zuzuspitzen. Albanische Nationalisten attackieren sowohl die jugoslawische Bundesarmee JNA als auch die mazedonischen Streitkräfte. Montenegros Regierung hat für Mai ein Unabhängigkeitsreferendum angekündigt, und Bosnien-Herzegowina droht nach dem angekündigten Austritt der kroatischen Herzegowina aus der Föderation das Ende als staatliche Einheit. Eine Lösung der Konflikte ist nicht in Sicht. Mit Appellen und hektischem Krisenmanagement versuchen westliche Politiker zu verschleiern, dass das NATO-Peacekeeping an den eigenen Widersprüchen gescheitert ist.

Mit dem Sturz des serbischen Erzschurken Slobodan Milosevic sei das Jahrzehnt der Kriege in Jugoslawien vorbei. So lauteten die Versprechungen westlicher Politiker, als der jugoslawische Präsident im vergangenen Oktober von dem durch EU und USA unterstützten serbischen Oppositionsbündnis DOS nach 13 Regierungsjahren abgesetzt wurde. Ein "Balkan-Stabilitätspakt" werde für den wirtschaftlichen Wiederaufbau sorgen und marktwirtschaftliche Reformen würden die Demokratisierung vorantreiben, verkündeten sie die frohe Botschaft für die Zukunft der geplagten Bevölkerung der Balkanländer.

Kaum ein halbes Jahr später gehören die Hoffnungen schon wieder der Vergangenheit an. Derzeit haben Kriegswarnungen Hochkonjunktur. Als "extrem gefährlich" bezeichnet der Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Lord Russell-Johnston, die Situation im Grenzdreieck zwischen Südserbien, Kosovo und Mazedonien und gibt damit die allgemeine Einschätzung wieder. Verschiedene albanische Guerillas greifen seit Wochen serbisch-jugoslawische sowie mazedonische Armee-Einheiten und Polizisten an. Im Norden des Kosovo ist auch die serbische Zivilbevölkerung von den Attacken betroffen.

Die Taktik der UCPMB im südserbischen Presevo-Tal, sowie der UCK und weiterer Gruppen im Norden Mazedoniens ist denkbar einfach. Sie wollen mit ihren fortgesetzten Attacken eine militärische Reaktion der JNA und der mazedonischen Armee provozieren. Durch die Eskalation des Konfliktes versprechen sie sich, die Grenzfrage zwischen Kosovo, Südserbien und Mazedonien auf die politische Tagesordnung zu setzen.

"Durch die Teilung Mazedoniens in einen slawischen und einen albanischen Teil" wollten die Guerillas eine Vereinigung des albanischen Teils mit Kosovo erreichen, schreibt Shkelzen Maliqi, eine gewichtige Stimme unter den albanischen Intellektuellen in Pristina. Dieses Großkosovo solle später in einem "unitarischen albanischen Staat", also der Einheit mit Albanien selbst, aufgehen, erklärt er das Programm der Guerillas und ihrer Hintermänner.

Situation "extrem gefährlich"

Ideologisch berufen sich die Guerillas auf den albanischen Nationalgedanken. Albanisch sprechende Gruppen, die Mitte des 19. Jahrhundert dem Islam (65%), dem christlich-othodoxen (20%) und dem katholischen Glauben (15%) angehörten, blieben seit der Entstehung moderner Nationalstaaten auf dem südlichen Balkan im 19. Jahrhundert auf verschiedene Staaten verteilt. Heute leben albanisch sprechende Menschen in Albanien (3,1 Mio.), Kosovo (1,9 Mio.), Mazedonien (470.000), Südserbien (80.000) und Nord-Griechenland (50.000).

Mit dem Slogan "Die Religion der Albaner ist ihr Albanertum" versuchen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Ideologen der albanischen Nationalbewegung, wie deren Gründervater Vaso Pashe Shkodrani (1825-1892), die Gruppen zu einigen. In der Liga von Prizren (1878-1881) fand die albanische Nationalbewegung erstmals einen organisatorischen Ausdruck. Doch die Utopie der AlbanerInnen eines geeinten Nationalstaates realisierte sich nie. Lediglich nach dem Einmarsch faschistischer italienischer Truppen 1941 kam es kurzzeitig zur Bildung eines "Großalbaniens".

Nach dem Ende des NATO-Krieges gegen Jugoslawien im Juni 1999 wähnten sich die albanischen Nationalisten zumindest im Kosovo nahe dem Ziel ihrer Träume. Seit dem Rückzug der serbisch-jugoslawischen Truppen sprechen sich ausnahmslos alle albanischen politischen Gruppen im Kosovo, von Ibrahim Rugovas LDK bis zur UCK-Nachfolgepartei PDK, für eine schnellstmögliche staatliche Souveränität des Kosovo mit der Perspektive auf ein Großalbanien aus.

Das heißt aber nicht, dass die Aktionen der Guerillas überall auf ungeteilte Zustimmung stoßen. So distanzieren sich die beiden etablierten albanischen Parteien in Mazedonien deutlich von den Provokationen der Guerillas. Denn obwohl die mazedonische Gesellschaft ethno-nationalistisch weitgehend gespalten ist, hat sich die soziale, politische und kulturelle Situation der albanischen Bevölkerung seit der Staatsgründung 1991 eher verbessert. Auch im Kosovo warnen Intellektuelle wie Maliqi vor den "glühenden Patrioten, vor allem den Emigranten in Europa." Ein Zusammenschluss mit dem albanische Kernstaat lehnen die meisten AlbanerInnen im Kosovo und Mazedonien ohnehin ab, zu desolat scheint ihnen die soziale Situation im Nachbarland. Das schert die großalbanischen Guerillas allerdings nicht. Sie stilisieren sich als eine Avantgarde mit historischer Mission, auch wenn sie lediglich ihre eigenen machtpolitischen Interessen vertreten.

Zur Enttäuschung der meisten Kosovo-AlbanerInnen wird in der UN-Resolution 1244, welche der UN-Sicherheitsratsrat zur Beendigung des Kriegs im Juni 1999 erließ, der Souveränität des Kosovos eine Absage erteilt. Der Sicherheitsrat erklärte die Provinz vielmehr weiterhin zum Bestandteil Jugoslawiens, wenngleich weitgehende Autonomierechte für die AlbanerInnen eingefordert wurden. Neben dem Widerstand Chinas und Russlands gegen eine vollständige Unabhängigkeit dürfte bei der Absage auch die Furcht des Westens vor einer weiteren ethno-nationalistischen Zersplitterung auf dem südlichen Balkan maßgeblich gewesen sein. Insbesondere eine drohende Aufteilung Mazedoniens, welche durch die staatliche Unabhängigkeit Kosovos unweigerlich auf der Tagesordnung stünde, dürfte bereits damals zur Vorsicht gemahnt haben. Ist es doch undenkbar, dass eine solche Aufspaltung ohne größeres Blutvergießen gelingen könnte.

NATO wechselt die Seite

So ist nach dem Machtwechsel in Belgrad eine absurde Situation entstanden. Der Westen setzt auf die neue DOS-Regierung unter dem jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica und dem serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic als regionalen Stabilitätsfaktor. Gegen Serbien als relativ größten Staat des ehemaligen Jugoslawien lässt sich langfristig schlecht Politik machen. Nach der NATO-Bombardierung ist das durch Embargos und wirtschaftlichen Niedergang ohnehin geschwächte Land auf unabsehbare Zeit durch die Kreditschraube weitgehend kontrollierbar.

Auch im Kosovo vertauschten sich die Vorzeichen. Nachdem der Westen am Ende der 90er Jahre gezielt die militaristischen Kräfte der albanischen Seite stärkte und gegen die Milosevic-Regierung in Stellung brachte, scheinen die Guerillas jetzt zum Problem zu werden. Duldete die NATO-geführte Kosovo-Schutztruppe KFOR noch die Vertreibung von über 200.000 SerbInnen und Angehörigen anderer Minderheit nach dem Ende der Bombardements im Juni 1999 durch albanische Nationalisten, scheinen ihr die Angriffe der albanischen Guerillas in Südserbien und Mazedonien nun zu weit zu gehen.

Mittlerweile wird in NATO-Kreisen der Einsatz von KFOR-Truppen Seite an Seite mit der einstmals bekämpften serbisch-jugoslawischen JNA gegen die noch vor zwei Jahren aufgepäppelten albanischen Guerillas geplant. Dass JNA-Generalstabschef Nebojsa Pavkovic auch schon den Kosovo-Krieg von jugoslawischer Seite befehligt hat, scheint die NATO dabei nicht zu stören. Die AlbanerInnen dagegen schon. Falls es tatsächlich zu einer militärischen Kooperation zwischen KFOR und JNA kommen sollte, droht im Kosovo ein Flächenbrand. Die Guerillas werden sich dann wohl nicht mehr darauf beschränken, serbische ZivilistInnen anzugreifen, sondern auch die KFOR-SoldatInnen ins Visier nehmen, warnen Beobachter in Pristina.

Die KFOR-Truppen, welche die Kosovo-AlbanerInnen als "Befreier" bejubelten, als sie die serbisch-jugoslawischen Truppen aus dem Kosovo vertrieben, könnten dann schnell "Besatzer" werden, die nach Möglichkeit im Zinksarg nach Hause geschickt werden. Agim Ceku, der vormalige UCK-Generalstabschef und derzeitige Chef der UCK-Nachfolgetruppe Kosovo Schutz Korps (TMK), erklärte seinen Männern schon vergangenes Jahr, worauf sie sich einstellen sollen. "Wir werden die IRA des Balkans sein", kündigte er an.

Besonders prekär ist die Auseinandersetzung um die Zukunft des Kosovo nicht zuletzt deshalb, weil auch in Bosnien-Herzegowina und Montenegro sezessionistische Kräfte stärker werden und eine tödliche Kettenreaktion ethno-nationalistischer Exzesse droht. Bei einer Kundgebung für den bosnisch-kroatischen Kriegshelden Dario Kordic, der kürzlich vom Den Haag Tribunal als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, kündigte der kroatische Repräsentant in der bosnischen Regierung, Ante Jelavic, Anfang März an: "Es ist höchste Zeit, aus dem Dayton-Prozess auszusteigen." Die Kroaten in der Herzegowina wollten sich dem "Vaterland" anschließen und boykottierten fortan die Regierungsinstitutionen in Sarajevo, proklamierte Jelavic. Der internationale Bosnien-Protektor Wolfgang Petritsch setzte Jelavic daraufhin einfach ab.

In Montenegro wiederum hat Präsident Milo Djukanovic für den 22. April vorgezogene Parlamentswahlen angesetzt. Sollte sich seine sezessionistische DPS durchsetzen, was nach Meinungsumfragen als wahrscheinlich gilt, möchte er Ende Juni ein Referendum für die Unabhängigkeit abhalten. Da die pro-jugoslawischen Kräfte in Montenegro aber beinahe von der Hälfte der Bevölkerung unterstützt werden, ließe sich die Unabhängigkeit nur schwer durchsetzen, zumal Belgrad auch nicht gerade erfreut darüber ist.

Die drei Konflikte in Bosnien, Montengro und im Grenzdreieck Kosovo-Südserbien-Mazedonien können nicht getrennt von einander betrachtet werden. Letztlich steht überall zur Disposition, ob es entlang ethno-nationalistischen Linien zu neuen Grenzziehungen kommen wird. Was mit der, gerade von Deutschland unterstützten, Sezession Sloweniens und Kroatiens vor nunmehr zehn Jahren begann, setzt sich so weiter fort. Nur entspricht es momentan nicht den Interessen des Westens.

Nationalistische Exzesse

Es scheint mindestens zwei weitere Klammern zu geben, welche die drei aktuellen Konflikte einen. Zum einen geht es den jeweiligen Nationalisten nirgendwo um das von ihnen jeweils in Anspruch genommene Wohl der Bevölkerung, die sie zu vertreten behaupten. Ganz im Gegenteil: Die ethno-nationalistischen Ideologien dienen lediglich dazu, lokale Machtpositionen entweder zu erkämpfen, auszuweiten oder abzusichern. Die zivilen Opfer der Konflikte interessieren die jeweiligen Kriegshelden dabei nicht.

Angesichts des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens hat sich weitgehend eine Kriegsökonomie durchgesetzt, die hauptsächlich auf der räuberischen Aneignung von gesellschaftlichem Reichtum und zufließenden Ressourcen basiert. Wer die politische Macht ausübt, steht auf dem Gipfel der Aneignungspyramide. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um Privatisierungsprozesse, Schmuggel oder Hilfsgelder aus dem Westen geht. Das Nachsehen haben die, welche über keine Machtmittel verfügen, also meistens Frauen, ethnische Minderheiten und die Zivilbevölkerung.

Die zweite Klammer scheint das Versagen der westlichen Interventionspolitik zu sein. Während der vergangenen zehn Jahre hat die westliche Politik immer dann militärisch auf dem Balkan eingegriffen, wenn die westlichen Länder ihre Stabilitätsinteressen durch das Kriegsgeschehen entweder bedroht sahen, wie in Bosnien-Herzegowina, oder eigene militärisch-strategische Interessen durchsetzen wollten, wie im Kosovo.

Menschenrechtsrhetorik diente dabei immer nur als Rechtfertigungsideologie. Ein Konzept für einen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau dagegen kann der Westen nicht anbieten. Marktwirtschaftliche Reformen können in einer Region eben nicht funktionieren, in der niemand investieren will und die nichts Verwertbares zu bieten hat. Angesichts der desolaten sozialen Situation kann die komplette Ethnisierung aller gesellschaftlichen Widersprüche kaum aufgebrochen werden, zumal eine Linke in Jugoslawien nur in Kleinstgruppen und Individuen existiert. Und die herrschenden nationalistischen Politiker und Kriegshelden werden ihre Ausplünderungsaktivitäten immer ethno-nationalistisch begründen. Wie denn sonst?

Boris Kanzleiter