Sharon legt los
Frontnotizen aus Israel/Palästina
Die neue israelische Regierung unter Ariel Sharon fährt bei der Bekämpfung der Intifada da fort, wo Ehud Barak aufgehört hat. Hinzu kommt allerdings der Versuch, wieder eine direkte israelische Kontrolle über die Westbank und den Gazastreifen durchzusetzen.
In ihrer Wochenendbeilage vom 24. März veröffentlichte die israelische Tageszeitung Ha'aretz ein ausführliches Porträt von Slobodan Milosevic, einem der "gefährlichsten politischen Führer der modernen Welt", dessen paranoides Weltbild und blinde Selbstgerechtigkeit sie zu beschreiben trachtete. Der Artikel basierte auf einem einstündigen Interview mit dem als medienscheu geltenden Milosevic. Dieser lobte ausdrücklich Ariel Sharon für dessen explizite Ablehnung der Nato-Bombardements. Sharon hatte damals argumentiert, die Nato-Angriffe spielten in die Hände albanischer Nationalisten und förderten deren Träume von einem Groß-Albanien. Es bestehe die Gefahr, so Sharon, dass ein solches Gebilde zu einem Hort "islamischen Terrors" in Europa werde.
Überdies kritisierte er die massive Einmischung der Nato in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates, da gemäß der im Jugoslawienkrieg angewandten Logik auch die israelische Politik gegenüber den Palästinensern eines Tages ähnliche Sanktionen nach sich ziehen könnte. Ha'aretz hatte Sharon seinerzeit in einem bissigen Leitartikel für diese Äußerungen verurteilt: "Dies sind merkwürdige Worte - ethisch untragbar und politisch schädigend. (...) Es kann nicht Sache Israels sein, der Weltöffentlichkeit einen Vergleich nahe zu legen zwischen der Lage der albanischen Minderheit im Kosovo und derjenigen der israelischen Araber. Damit hat Sharon Besorgnis erregende Einblicke in seine Gedankenwelt gewährt: Kann er sich eine Situation vorstellen, in der eine israelische Regierung die Vertreibung einer Million israelischer Araber aus den Gebieten innerhalb der grünen Linie (zwischen Israel und den besetzten Gebieten; Anm. ak) beschließt? Befürchtet er tatsächlich eine Situation, in der die westlichen Staaten eine Koalition zum Angriff auf Israel schmieden?" (Ha'aretz, 9.4.1999).
Nach all dem, was seit dem Ende des Oslo-Prozesses und dem Ausbruch der neuen palästinensischen Intifada passiert ist, lesen sich diese Zeilen in einem neuen Licht. Grund genug für die Zeitungsmacher, in ihrer erwähnten Wochenendbeilage süffisant darauf hinzuweisen, wie ungelegen Sharon diese Erinnerungen gerade zum Zeitpunkt seines Antrittsbesuches in Washington sein dürften.
Dieser Besuch und auch das Gipfeltreffen der Arabischen Liga zur Lage in Palästina sind nunmehr Vergangenheit. Seitdem ist die neue israelische Regierung erneut zum Angriff auf Stellungen diverser palästinensischer Milizen übergegangen, welche sie mit der zunehmenden Anzahl von Selbstmordattentaten auf israelische Zivilisten und/oder bewaffneten Attacken auf Armee und Siedler innerhalb der besetzten Gebiete in Verbindung bringt. Etwas aggressiver vielleicht in der Durchführung, folgen die von Sharon befohlenen Angriffe weitgehend der Linie Baraks, der gezielte Bombardierungen begrenzter palästinensische Ziele vornahm, welche der gegnerischen Seite vorab mitgeteilt wurden.
Ende vergangenen Jahres, vor seiner Wahl zum israelischen Premier, hatte Sharon nach den Schüssen auf jüdische Wohnviertel in Jerusalem aus benachbarten palästinensischen Vierteln gesagt, es reiche nicht, die Gebiete einfach abzuriegeln und ein paar Bomben zu werfen. Die einzig wirksame Methode zur Behandlung renitenter Araber sei es, ihren Grund und Boden zu zerstören. So würde er zunächst die Räumung derjenigen palästinensischen Wohngebiete befehlen, aus denen heraus auf jüdische Israelis geschossen werde und diese dann den Bulldozern überlassen. Nach der Ermordung eines jüdisch-israelischen Babys in der Siedlerenklave im Zentrum Hebrons durch palästinensische Heckenschützen vor einigen Tagen befahl Sharon zwar die zeitweilige Räumung des angrenzenden palästinensischen Viertels, aber die Bulldozer blieben in den Garagen. Offenbar weiß auch Sharon, dass Israel sich in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht alles leisten kann und dass die palästinensische Administration sowie die vereinigte Intifada-Führung nur auf eine Gelegenheit warten, den Konflikt wirksam zu internationalisieren.
Die Bulldozer bleiben noch in den Garagen
Die neue israelische Regierung hat inzwischen mit einer gründlichen Umstrukturierung der Besatzung begonnen. Es geht ihr darum, die restlichen noch verbleibenden Strukturen aus der Zeit der Oslo-Verträge abzubauen bzw. einzufrieren und wieder eine direkte israelische Kontrolle über die Westbank und den Gazastreifen durchzusetzen. Israelische Kommentatoren der diskreteren Sorte sprechen von einer Rückkehr zu einer Politik von Zuckerbrot und Peitsche: brutale Repression gegen Intifada-"Terroristen" und gegen die palästinensische Administration bei gleichzeitigen "Erleichterungen" für die unbeteiligte palästinensische Zivilbevölkerung. So kündigte Sharon an, er wolle die zahlreichen von der Schließung Israels für palästinensische Arbeitnehmer betroffenen Familien mittels Entschädigungszahlungen unterstützen. Gleichzeitig verweigert Sharon die Überweisung der von Palästinensern bei ihrer Arbeit in Israel entrichteten Steuern an Arafats Administration und trägt damit zu deren Schwächung bei - um ihr diese Schwäche im nächsten Atemzug als Einwilligung in den Terror der Intifada-Aktivisten anzukreiden.
Die besetzten Gebiete werden zu Mini-Enklaven
Die unter der Bezeichnung "Keter" (Abtrennung) zu trauriger Berühmtheit gelangte Politik der israelischen Armee, die besetzten Gebiete mit Hilfe von Gräben, Betonwällen und zahllosen Straßensperren zu parzellieren, soll heißen: in eine Vielzahl voneinander hermetisch abgeriegelter Mini-Enklaven zu unterteilen, ist für die betroffene Zivilbevölkerung eine Kollektivstrafe erster Güte. Den Aktionsradius der Intifada-Aktivisten schränkt sie nur unwesentlich ein. Während des Oslo-"Friedensprozesses" hatte die israelische Armee die besetzten Gebiete als eine territoriale Einheit behandelt, was ihre Handlungsfähigkeit gegenüber der palästinensischen Administration und der Bevölkerung dort graduell einschränkte. Gemäß der Anfang März an die Öffentlichkeit gelangten neuen Strategie der israelischen Armee sollen die besetzten Gebiete nun wieder wie vor Oslo in 64 voneinander isolierte territoriale Einheiten (auch Kaninchenställe oder Zellen genannt) unterteilt werden, die jeweils unter direkter israelischer Militärherrschaft stehen sollen.
Anfang März war der Gazastreifen bereits in diesem Sinne zerstückelt worden, entsprechende Aktionen in der Westbank waren angelaufen, doch bis dahin, schrieb Alex Fischman in Jediyot Acharonot (9.3.01), ging "es lediglich um deren Schaffung, nicht um die Behandlung (der Bevölkerung) innerhalb der Enklaven". Diese "Behandlung" beinhaltet drastische Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, auch grundlegende Gesundheitsversorgung wird verweigert, die Lebensmittelversorgung eingeschränkt. Hinzu kommen gezielte Exekutionen von Intifada-Aktivisten und von Angehörigen der palästinensischen Administration durch israelische Undercover-Einheiten oder durch die Luftwaffe, wobei erhebliche "Kollateralschäden" in Kauf genommen werden.
Durch die Abtrennung der Transportwege zwischen Ramallah und der benachbarten Universität Birzeit Mitte März hat die israelische Armee auch zur Mobilisierung der bis dato wenig an der Intifada beteiligten Studierenden und AkademikerInnen beigetragen. Angesichts der Versuche der Regierung Sharon, die Intifada mit überlegener militärischer Gewalt niederzuschlagen, ist eine Rückbesinnung auf Techniken des zivilen Ungehorsams und eine Einbindung breiterer Bevölkerungsschichten in die bis dato von bewaffneten Milizen majorisierte Intifada eine Idee, welche auch die vereinigte Intifadaführung verfolgt. (Ha'aretz, 23.3.01)
Engagierten israelischen JournalistInnen wie Amira Hass, Doron Rosenblum, Gid'on Lévy u.a. ist es zu verdanken, dass Berichte über den Alltag der Besatzung aus Sicht der Betroffenen nicht aus der öffentlichen Debatte in Israel verschwinden. Noch weiß allerdings niemand, welche Ziele Sharon längerfristig verfolgt. Wie stellt er sich das zukünftige Zusammenleben von Israelis und Palästinensern vor? Bislang sind Neugierige auf Äußerungen eines Sharon-Vertrauten namens Imanuel Navon angewiesen, welche dieser in einer geopolitischen Zeitschrift namens Outre Terre zum Besten gegeben hat. Demnach will Sharon die auch in sozialdemokratischen Kreisen populäre Idee einer von Israel einseitig durchgeführten Abtrennung der palästinensischen Gebiete von Israel modifizieren. Ein palästinensischer Rumpfstaat könnte in diesem Fall auf dem weitgehend kompletten Gebiet des Gazastreifens und auf etwa der Hälfte der Westbank entstehen, letztere aufgeteilt in zwei voneinander und vom umliegenden israelischen Kernland sowie von der Jordansenke isolierte Blöcke. Die verbleibende Hälfte der Westbank soll demnach von Israel annektiert werden (Le Monde, 15.2.01).
Achim Rohde