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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 450 / 10.5.2001

Chefsache Amerika

Gipfel in Quebec beschließt ökonomische Integration des amerikanischen Kontinents

George Bush junior kommt aus Texas. Traditionell übernimmt dort der Sohn die Ranch des Vaters oder führt in anderer Weise dessen Lebenswerk fort. 1990 verkündete der damalige Präsident George Bush senior seine Vision: die Enterprise of the Americas - eine Freihandelszone, die sich über den gesamten Kontinent erstrecken solle. Die meisten US-amerikanischen Politiker taten Bushs Initiative damals als utopistische Vorstellung ab. Denn zurück lag ein Jahrzehnt von Bürgerkriegen und Schuldenkrisen im Süden des Kontinents. Lateinamerika galt als außerordentlich instabiler Investitions- und Produktionsstandort. Doch manchmal werden Träume wahr. Auf dem Gipfel der amerikanischen Regierungschefs in Quebec Ende April wurde mit der Free Trade Area of the Americas (FTAA) ein Projekt abgesegnet, das die Enterprise-of-the-Americas-Idee realisieren soll.

Die politischen Bedingungen in Zentral- und Südamerika haben sich im vergangenen Jahrzehnt dramatisch gewandelt. Bis auf die Konflikte in Chiapas und Kolumbien legten die Guerillas die Waffen nieder. Die internationalen Finanzinstitutionen verordneten ultraliberale, exportorientierte Strukturanpassungsprogramme zur Begegnung der Schuldenkrise. So verschärften sich in den 90er Jahren zwar die sozialen Gegensätze in Lateinamerika. Ein Drittel der lateinamerikanischen Bevölkerung lebt heute unter der so genannten Armutsgrenze mit einem Tageseinkommen von weniger als zwei Dollar. Gleichzeitig verzeichnete der Subkontinent jedoch auch das weltweit zweitstärkste Wirtschaftswachstum.

Begleitet von massiven Protesten seitens amerikanischer Gewerkschaften und Basisgruppen haben nun - außer dem ausdrücklich nicht eingeladenen kubanischen Revolutionschef Fidel Castro - alle Regierungschefs des Kontinents am Ende des dritten Amerikanischen Gipfels im kanadischen Quebec vom 20. - 22. April ihre Unterschrift unter einen Rahmenentwurf für die FTAA gesetzt. Die panamerikanische Freihandelszone wäre mit über 800 Millionen Menschen - von marktliberalen Euphorikern Konsumenten genannt - der größte gemeinsame Wirtschaftsraum der Welt, in dem rund 20 Prozent des globalen Handels abgewickelt würde.

Während des Wahlkampfes hatte Bush junior die Schaffung der FTAA zum Schwerpunktthema gemacht. "Amerika ist Chefsache", erklärte er bei seiner ersten Rede vor dem US-Kongress. Sein Vorgänger William Clinton brachte zwar 1994 als ersten Schritt zur FTAA das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen Kanada, den USA und Mexiko auf den Weg. Er kam aber - abgesehen von Erklärungen des guten Willen der amerikanischen Regierungen, die Verhandlungen für die FTAA bis 2005 abgeschlossen zu haben - mit der gesamtamerikanischen Perspektive kaum voran. Clinton scheiterte an der wiederholten Weigerung des US-Kongresses, dem so genannten fast-track (schnellen Weg) zuzustimmen - eine Forderung der lateinamerikanischen Länder für die Fortsetzung der Verhandlungen. Der fast-track gibt dem Präsidenten weitgehende Vollmachten bei Verhandlungen um Wirtschafts- und Handelsabkommen mit anderen Ländern und beschleunigt damit Vertragsabschlüsse.

Kurz vor dem Amerika-Gipfel in Quebec schienen sich jedoch die Widerstände im Kongress aufzulösen. Die Demokraten deuteten Anfang März an, dass sie bereit seien, dem fast-track zuzustimmen. Deren Abgeordneter, Sander Levin, erklärte, dass die von seiner Partei und auch von den großen US-Gewerkschaften erhobene Forderung nach Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards beim Abschluss von bi- oder multilateralen Handelsverträgen in Zukunft "flexibler" gehandhabt werden könne. Diese Klauseln werden von den meisten lateinamerikanischen Regierungen auf Grund der Befürchtung abgelehnt, sie eröffneten dem Norden indirekt einen Weg, neue Handelsbarrieren zu errichten. Unter anderem an diesem Konflikt scheiterte auch die Milleniumsrunde der WTO 1999 in Seattle.

Größter Wirtschaftsraum der Welt

So plädierte vor allem der US-Handelsbeauftragte Robert Zoellick, unterstützt von den Vertretern aus Chile und vor allem den kleinen sowie ökonomisch desolaten zentralamerikanischen Staaten, auf dem FTAA-Gipfel der amerikanischen Wirtschaftsminister und Unternehmerverbände Anfang April in Buenos Aires dafür, das kontinentale Freihandelsprojekt zwei Jahre früher als geplant, also bereits 2003, in Kraft treten zu lassen. Doch insbesondere Brasilien, neben Mexiko die größte Wirtschaftsmacht in Lateinamerika, stellte sich quer. Mit einem vorgezogenen Datum für den Start und ohne ausgeglichenere Verhandlungen werde es keine FTAA mit Brasilien geben, erklärte der brasilianische Außenminister Celso Lafer. Man werde dem panamerikanischen Freihandelsabkommen nicht zustimmen, wenn die USA ihren Markt nicht weiter liberalisiere, so wie es die lateinamerikanischen Staaten fordern.

Auch auf Grund der massiven Proteste argentinischer und brasilianischer Gewerkschaften, deren Sprecher die FTAA als "umfassende neoliberale Diktatur" bezeichneten und wie die US-Gewerkschaften Sozialklauseln forderten, lenkte Zoellick überraschenderweise ein: Washington überlege, die US-amerikanischen Anti-Lohndumping-Gesetze für die FTAA nicht anzuwenden. Ungeachtet der US-Agrarlobby erklärte er zudem, auch über die Abschaffung der hohen Subventionen auf die eigenen landwirtschaftlichen Produkte könne man verhandeln, um den eigenen Markt für lateinamerikanische Agrarprodukte zu öffnen. Man einigte sich in einer abschließenden Erklärung auf 2005 als Startjahr für das kontinentale Freihandelsabkommen und vereinbarte zudem als faulen Kompromiss, zwar Sozialklauseln in das Vertragswerk aufzunehmen. Wer sie nicht einhalte, habe allerdings auch nicht mit Sanktionen zu rechnen, versicherte der ecuadorianische Ministerpräsident und derzeitige FTAA-Präsident Heinz Moeller.

Die ungewohnte Kompromissbereitschaft der USA weist darauf hin, dass es Bush gar nicht schnell genug gehen konnte, das Vertragswerk für die FTAA unter Dach und Fach zu bekommen. Ein Grund dafür ist das von der EU unterstützte Wiedererstarken des lange schwächelnden südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses Mercosur, wobei Brasilien zunehmend als südlicher Gegenpol zu den USA auftritt. Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso ist allerdings kein Altruist, sondern forciert die regionale wirtschaftliche Integration Südamerikas auf Grund nationaler ökonomischer Eigeninteressen. Brasilien ist beispielsweise weltgrößter Produzent von Orangensaft und damit der schärfste Konkurrent der USA auf diesem Sektor.

Noch gewichtiger für die Eile der USA dürfte allerdings der Wettlauf mit der EU um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt sein. So heißt es in einem Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung zur FTAA: "Eine aktive Führungsrolle bei der Gestaltung einer künftigen FTAA würde die USA mit Blick auf zukünftige Märkte und Investitionen in Lateinamerika zweifellos in eine bessere Position gegenüber seinem Hauptrivalen EU versetzen."

Der südamerikanische Wirtschaftsraum spielt dabei eine besondere Rolle. Die vier Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay bringen zusammen 54 Prozent des gesamten lateinamerikanischen Bruttoinlandsproduktes auf. Der Mercosur ist das wichtigste regionale Handelsbündnis in Lateinamerika. Ein starker Mercosur mit der regionalen Exportgroßmacht Brasilien im Rücken schadet den Interessen der USA. Denn Brasilien folgt der Strategie, das wirtschaftliche, politische und institutionelle Integrationsmodell der EU zu adaptieren, die ihrerseits gerne ebenfalls möglichst bald ein Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Wirtschaftsbündnis schließen würde und deshalb auf dessen Harmonisierung drängt.

Neuordnung unter US-Hegemonie

Offenbar trug auch der wachsende Widerstand gegen die Enterprise of the Americas zur Hektik des US-Präsidenten bei, das Megaprojekt in Quebec zügig absegnen zu lassen, obwohl nach wie vor viele Punkte völlig ungeklärt sind. Die Interessen der Kritiker sind dabei zwar höchst unterschiedlich, aber nicht mehr zu ignorieren. So monieren linke Parteien, dass die Verhandlungen über die FTAA bislang diskret zwischen Regierungschefs und großen Wirtschaftsunternehmen unter Ausschluss der nationalen Parlamente geführt wurden.

Dass die Verhandlungen für den Vertragskorpus der FTAA mehr als ein Jahrzehnt lang hinter verschlossenen Türen stattfanden, hat einen guten Grund. Denn was Bush in Quebec als "Export von Demokratie und Freiheit" bezeichnete, bedeutet eine umfassende sicherheits- und wirtschaftspolitische Neuordnung des gesamten Kontinents unter der Hegemonie der USA. Teil dessen ist der umstrittene Plan Colombia, ein von den USA stark forciertes und maßgeblich finanziertes militärisches Projekt, das unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung Kolumbien befrieden und - wie es auf den gemeinsamen Landesinformationsseiten aller deutschen Entwicklungsdienste heißt - das "Investitionsklima in Kolumbien verbessern" soll. Der erweiterte Plan America sieht auch die Umstrukturierung und Aufrüstung der Streitkräfte anderer lateinamerikanischer Länder gegen das neue Bedrohungsszenario des Drogenhandels vor.

Der Export der Freiheit soll selbstverständlich nicht für Migrationswillige aus dem Süden gelten. Seit dem Inkrafttreten von NAFTA ist nicht nur die Grenze zwischen den USA und Mexiko hochgerüstet worden. Im guatemaltekischen Grenzgebiet zu Mexiko wurde auf Initiative der USA und in Abstimmung mit den zentralamerikanischen Regierungen ein "Sicherheitskordon" von 20 Kilometern Breite eingerichtet, in dem eine neu geschaffene Grenzpolizei Reisende aus ganz Zentralamerika kontrollieren und gegebenenfalls abweisen kann.

Wirtschaftspolitisch ist geplant, die NAFTA-Bestimmungen, die weitaus rigider sind als das vorgesehene Modell der WTO, auf den gesamten Kontinent auszuweiten. Geschützt werden sollen vor allem die Interessen multinationaler Konzerne. Das heißt, die in vielen lateinamerikanischen Ländern noch stark staatlich protegierten nationalen Märkte zu liberalisieren, die teilweise verfassungsmäßig verankerte Bevorzugung staatlicher Unternehmen bei der Auftragsvergabe abzuschaffen und die Privatisierung des öffentlichen Dienstleistungssektors voranzutreiben. Dies soll durch das Gleichbehandlungsprinzip für ausländische und inländische Produkte und Unternehmen gewährleistet und mit der Anwendung der so genannten Nichtdiskriminierungsklausel auf Dienstleistungen, Märkte und Investitionen durchgesetzt werden. Kern dieses normativen Rahmens ist Kapitel elf der NAFTA-Verträge, mit Hilfe dessen ein ausländischer Konzern gegenüber einer Regierung seine Gleichbehandlung mit einheimischen Unternehmen oder sogar Entschädigung für potenzielle Gewinnverluste einklagen kann.

Die bisherigen Erfahrungen mit NAFTA haben gezeigt, dass FTAA, von Clinton seinerzeit als "Partnerschaft für den Wohlstand" bezeichnet, auf dem lateinamerikanischen Subkontinent unter anderem das Ende der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und der kleinen und mittelständischen Industriezweige bedeutet. Zudem ist mit einem weiteren Sinken der Löhne und einer Ausweitung der transnationalen Billiglohnindustrie in Lateinamerika zu rechnen.

Mehr als 3.000 Basisgruppen, Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften aus allen Teilen des amerikanischen Kontinents und aus Europa hatten zu Protestaktionen gegen den Gipfel in Quebec aufgerufen. Zum Schutz des Megatreffens, zu dem neben den amerikanischen Staatschefs 4.000 offizielle Delegierte und 2.500 Journalisten anreisten, hat die kanadische Regierung ein derartiges Aufgebot an Sicherheitskräften bestellt wie seit 1759 nicht mehr, als die Invasion der englischen Truppen erwartet wurde. Über 6.000 Polizisten und die königliche Leibgarde waren rund um die Uhr im Einsatz. Um die Altstadt, wo das Enterprise-Treffen stattfand, wurde ein drei Meter hoher, vier Kilometer langer Schutzwall errichtet. Die Anwohner befanden sich in einer Art Belagerungszustand und durften sich nur mit einer speziellen Genehmigung hinaus- und hineinbewegen. Trotzdem gelang es den FTAA-GegnerInnen, mehr als 25.000 DemonstrantInnen nach Quebec zu mobilisieren und den Beginn des Treffens immerhin für eine Stunde zu verzögern.

Mit ihrer Unterschrift unter den Entwurf für die FTAA haben sich die 34 amerikanischen Präsidenten verpflichtet, dem Schutz des individuellen Privateigentums auch politisch oberste Priorität einzuräumen. Die von den Unterzeichnern zugesagte Aufnahme von Demokratie-, Sozial- oder Umweltklauseln in das Vertragswerk dagegen kann da nicht mehr sein als eine kosmetische Korrektur.

Stefanie Kron