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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 450 / 10.5.2001

Ungestillter Orientierungshunger

"Wie wollen wir leben?" - die taz lud zur Diskussion nach Berlin

Kloster Banz im Oberfränkischen vielleicht. Oder Tutzing am Starnberger See. Die taz wäre gut beraten gewesen, ihren ambitionierten "Wie wollen wir leben?"-Kongress an einem der klassischen bayerischen Tagungsorte statt in Berlin auszutragen. Nicht der Landschaft und des besseren Bieres wegen, sondern weil die neue Hauptstadt ein denkbar schlechter Ort ist, um über linke Zukunftsprojekte zu beraten. Berlin, so scheint es, ist im 20. Jahrhundert so oft die Avantgarde linker Bewegungen gewesen, dass die Rest-Linke nun pausenlos damit beschäftigt ist, die schönsten Momente der Geschichte zu wiederholen und an sie zu erinnern: an den 1. Mai 1987, Ostern 1968, Januar 1919. Jährlich grüßt das Murmeltier. Die Avantgarde ist anderswo: In Seattle, Mexiko, Frankreich.

Wer in Berlin dennoch eine Tagung veranstaltet, tut gut daran, sich zumindest auf Podiumsdiskussionen zu beschränken - Publikumsdebatten werden unweigerlich von denen dominiert, die sich vordringlich mit der "Sicherung linker Hauptgewissheiten" (taz-Redakteur Christian Semler) beschäftigen. Ob unbezahlte Hausfrauenarbeit, die Manipulation durch Medien (taz lügt!) und immer wieder der Krieg im Kosovo - während des taz-Kongresses wurde wenig von dem ausgelassen, was die Linke in den letzten 150 Jahren gelernt hat, um es den Podiumsteilnehmern bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit um die Ohren zu hauen. Statt das Verhältnis von Bruch und Kontinuität zu diskutieren, gehe bei vielen um die "bloße Verteidigung von seelischen Positionen", kritisierte Christian Semler. Die Kongress-Stimmung war dementsprechend ungemütlich - ein unbehauster Linksradikalismus, der seine Fähigkeit zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung eingebüßt hat, schien überall durch.

Berlin erfüllte
die Erwartungen

Angesichts dessen soll hier darauf verzichtet werden, vor allem die nahe liegenden Erwartungshaltungen bei der Berichterstattung über einen Kongress, bei dem auf nahezu jedem Podium ein grüner Parteivertreter saß, zu bedienen - Erwartungshaltungen, die selbstverständlich erfüllt wurden: Marianne Birthler etwa räsonierte munter über die "erste und zweite deutsche Diktatur" (Nationalsozialismus und DDR); Parteichefin Claudia Roth eierte herum, weil die Bundesregierung ihrer angekündigten Mitdiskutantin Madjiguène Cissé aus dem Senegal das Einreisevisum verweigert hatte: "Es ist eine Schande, dass Frau Cissé nicht hier sein kann." Immerhin hatte die taz den grünen Podiumsteilnehmern meist einen außerparlamentarischen Vertreter entgegengesetzt.

Ausgerechnet beim Thema "Als Tiger losgesprungen - Außerparlamentarische Bewegungen und institutionalisierte Politik" bewies sich, dass produktive Debatten möglich sind, wenn die erwartbaren Positionen verlassen werden. Grünen-MdB Christian Ströbele räumte das weitgehende Scheitern der rot-grünen Regierungspolitik ein: "Ich habe nicht vermutet, dass die Koalition so enttäuschend wird." Er habe feststellen müssen, dass selbst richtigste Dinge in einer parlamentarisch verfassten Gesellschaft über Parlament und Regierung nicht durchgesetzt werden könnten. Dennoch sei es aber richtig, in den Institutionen zu arbeiten, So lange die Bewegungen nicht da sind, mit denen man schneller bestimmte Ziele durchsetzen kann. "Es gibt keine Situation, die es rechtfertigt, eine Revolution zu machen."

Hermann Scheer (SPD-MdB) zog zwar eine bessere Bilanz der rot-grünen Regierung, insbesondere bei der Förderung von Alternativenergien. Die Grenze zwischen Kompromiss und Kompromittierung sei aber schmal und werde von Politikern im Moment des Handelns oft nicht mehr erkannt. "Das größte Problem ist, wenn viele, die den Kompromiss mittragen, die Kritik daran nicht mehr verstehen", sagte er unter Verweis auf den so genannten Atomkonsens. Wenn die öffentliche Bewegung einschlafe, sei die parlamentarische Linke handlungsunfähiger. "Es geht gar nicht anders, als dass die Linke mit unterschiedlichen Rollen operiert."

Ähnlich argumentierte Andreas Fanizadeh vom ID-Verlag: "Abgrenzungsrituale von der außerparlamentarischen zur parlamentarischen Linken sind wenig produktiv, nachdem klar ist, dass man die kommunistische Utopie nicht vor Augen hat." Der Legalismus der Linken müsse aber immer von links durchbrochen werden. Die Frage sei, mit welchen Mitteln Veränderungen am besten bewirkt werden könnten: "Auch die Revolutionären Zellen (RZ) haben letzten Endes nichts anderes als einen bewaffneten Reformismus praktiziert", sagte er unter Verweis auf die Berliner RZ-Anschläge auf Ausländerbehörden. Die RZ als Reformistische Zellen? Das revolutionäre Pathos der militanten Linken in den achtziger Jahren nichts als eine gigantische Selbsttäuschung? "Die radikale Linke würde über eine solche Anbindung an SPD und Grüne öffentlich nie reden, weil es kriminalisiert wird", glaubt Fanizadeh. Doch dies dürfte nicht der einzige Grund sein, nicht einmal der Entscheidende. Die angestrengten Abgrenzungsrituale der militanten Linken von reformistischen Gruppen legen jedenfalls nahe, dass die Aktivististen mehr als eine bloße Mittel-Zweck-Relation als Begründung für außerparlamentarisches Handeln brauchen, um notfalls auch Haftstrafen für ihr Handeln auf sich zu nehmen.

Alte Fronten - unerwartete Einsichten

"In den Bewegungen zu arbeiten, ist die undankbarere Rolle", räumte auch Hermann Scheer ein. Die Doppelstrategie der Jusos in den siebziger Jahre, gleichzeitig parlamentarisch und außerparlamentarisch präsent zu sein, sei auch daran gescheitert. "Viele haben im Parlament tatsächlichen Sachzwängen nachgegeben. Bei vielen war das Nachgeben aber auch nackter Opportunismus. Zu denken, dass es bei den Grünen heute anders laufen könnte, überschätzt die Leute." Die parlamentarische Arbeit sei eben professionalisiert, die außerparlamentarische nicht. "Das Problem ist aber nicht aufhebbar - schließlich kann man nicht die gesamte Arbeit auf eine professionelle Basis stellen." Wenn aber parlamentarische und außerparlamentarische Arbeit gleichberechtigt sind oder sich zumindest gegenseitig bedingen, die Parteiarbeit aber von der Bezahlung bis hin zu den Arbeitsbedingungen attraktiver - warum sollte jemand da auf die Idee kommen, außerparlamentarisch zu arbeiten? Es liegt nahe, das eigene Engagement in diesem Fall moralisch aufzuladen, ihm die Bedeutung einer grundsätzlich anderen Politik zu geben. Eine offene Diskussion der eigenen Handlungsgrundlagen in solchen Bewegungen dürfte an Grenzen stoßen, weil sie das Engagement als Ganzes in Frage zu stellen droht.

Der Vortrag Jochen Stays, Sprecher der Gorleben-Kampagne X-tausendmal quer, war bezeichnenderweise der Schwächste des Podiums. Viel mehr als in moralisierendem Unterton die Fehler der rot-grünen Koalition aufzuzählen und den Erfolg der eigenen Aktionen zu loben, hatte Stay, der sich selbst als "Bewegungsfachidiot" ankündigte, nicht zu bieten. Nachfragen blieben aus - eine Folge des aus den taz-Gründungsjahren mitgeschleppten stillschweigenden Konsens, Parteien berechtigterweise unter Generalverdacht zu stellen, Bewegungen aber als grundsätzlich gut zu betrachten und nicht einmal auf der taktischen Ebene zu kritisieren. Dabei war in Stays Vortrag noch einmal nachzuvollziehen, dass die sozialen Bewegungen daran gescheitert sind, nicht einmal die eigenen Krisensymptome wahrnehmen zu können. "Wir haben den Mut erfolgreich zu sein", sinnierte Stay. Kein Wort zu dem verschlafenen Castor-Straßentransport vom März oder dazu, dass nur dank der Hilfe der professionellen Robin-Wood-Aktivisten die bröckelnde Beteiligung an den Blockaden überspielt werden konnte. Die Gorleben-Bewegung erinnert an ein Achtziger-Jahre-Freilichtmuseum, das sich selbst durchaus sympathisierende Linke nicht mehr antun mögen: nicht die handgeklampften Lieder, nicht die Überemotionalität der Aktivisten, nicht das jede Opposition verhindernde Konsensprinzip der Bezugsgruppen, das Stay unwidersprochen als "konkrete Utopie" loben durfte. Wie, so bleibt die Frage, sollen neue, attraktive Bewegungen entstehen, wenn sie beständig die kulturellen Formen der siebziger und achtziger Jahre reproduzieren?

Darauf hätte auch die Diskussion "Mit wem wollen wir teilen? Globalisierung und Strategien der Solidarität" eine Antwort finden können - wenn nicht die taz der groben Fehleinschätzung unterlegen gewesen wäre, Claudia Roth habe dazu etwas Substanzielles zu sagen. Die neue Parteivorsitzende gab lieber ihre Paraderolle als grüne "Königin der Herzen", sprach über Migrationspolitik statt über Globalisierung und redete die Ökofeministin Vandana Shiva und den nicaraguanischen Ex-Vizepräsidenten Sergio Ramírez an die Wand. Der Streit zwischen Ramírez, der eine nachholende Modernisierung für Lateinamerika befürwortet und Shiva, die ein Denken in Fortschrittskategorien ablehnt - eine der ungelösten Grundfragen der Globalisierungsgegner - ging unter. Die taz-Moderatorin Daniela Weingärtner erwies sich als völlig überfordert, ließ Roth reden und schnitt dem einzigen Nicht-Prominenten auf dem Podium, dem Berliner ATTAC-Aktivisten Philipp Hersel, in Oberlehrerinnenmanier das Wort ab.

Hier zeigten sich deutlich die Grenzen eines taz-Kongresses. Die taz ist zwar nicht, wie befürchtet, zum Amtsblatt der Bundesregierung geworden. Journalisten wie die Parlamentskorrespondentin Bettina Gaus, der Migrationsspezialist Eberhard Seidel oder Christian Semler, der mehr und mehr zum "elder statesman" der taz wird, halten ausreichend Distanz zur neuen Mitte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass alle drei der mittleren bis älteren Generation angehören. Für viele Jüngere ist sie eher eine der bestbezahlten Journalistenschulen der Welt, ein Sprungbrett in besser zahlende Blätter von der Süddeutschen Zeitung über Max bis zur Welt, für andere eher ein angenehmer, weitgehend hierarchiefreier Arbeitsplatz. Die taz ist, wie viele andere Initiativen und Zeitungen auch, kein linkes Projekt, sondern eines, in dem Linke linke Positionen vertreten können. taz kann, muss aber nicht sein. Das macht die Organisation eines Kongresses schwierig, wie nicht nur bei der Globalisierungsdebatte deutlich wurde. taz-mag Redakteur Jan Feddersen beispielsweise, der sich sonst gerne mit dem Schlager-Grand-Prix beschäftigt, war als Moderator des Themas "Für welchen Sozialismus lohnt es sich noch zu kämpfen?" schlicht fehl am Platz. Und die Diskussionsrunde "Was ist uns Versöhnung wert?" entbehrte Sinn und Verstand. Marianne Birthler, Grünen-MdB Volker Beck (als Experte für Zwangsarbeiterfragen), Ex-RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo und der Ex-Mescalero Klaus Hülbrock sollten über Versöhnung zwischen der Gesellschaft und früheren Tätern zu sprechen - und der diffuse Einladungstext ließ die Interpretation zu, dass es dabei auch um die Versöhnung zwischen Nazis und ihren Opfern gehen könne.

taz kann, muss aber nicht sein

Dennoch - wer anders sollte die Organisation eines solchen Kongresses übernehmen? Christian Semler konstatierte am Ende des Kongresses ein wachsendes Interesse an linken Grundsatzdebatten, geradezu einen "Orientierungshunger". Weil die desolate Berliner Linke dieses Bedürfnis nicht befriedigen kann, kümmert sich inzwischen vor allem die linksliberale Presse darum. Im März beispielsweise war auf Einladung der Süddeutschen Zeitung der britische Marxist Eric Hobsbawm in Berlin zu Gast, im Mai wird die Feministin Judith Butler erwartet. Publikumsdebatten gibt es dort nicht. Wer unbedingt zu einer von Linken organisierten Tagung will, dem bliebt nur der Linksruck-Kongress an Pfingsten: Dort steht die Aktualität des Leninismus im 21. Jahrhundert auf der Tagesordnung.

M.R.