Türkei: Zwischen Militär, IWF und Filz
Die Zinsenfalle hat jetzt auch die Türkei erreicht. Das Militär musste sich erstmalig den ökonomischen Zwängen unterwerfen und seine Offensive im Nordirak beenden. Kleinhändler und Mittelstand gehen auf die Straße. Der türkische Staat ist pleite. Die Linke ohne Konzept.
Den Zustand des türkischen Staates hat der Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung Radikal recht treffend beschrieben: "Wenn wir von Istanbul aus blicken, so neigen wir dazu, dieses Staat genannte Monstrum als ein ganzes, darüber hinaus als ein überaus seltsames Etwas zu sehen, das alles begreifen, planen, manipulieren kann und Augen und Ohren überall hat. Jedoch in Ankara kann jeder, der es versteht, den Staat von innen zu betrachten, sehen, dass der Staat in der Türkei eine Konföderation ist, die durch die Koalition von mehr als drei Kräftegruppen gebildet wird."
Filz aus Staat
und Banken
Diese drei Hauptgruppen, die den Staat lenken, sind rasch aufgezählt: das Militär, ausländische Mächte, insbesondere der IWF und die Parteiführer mit Anhang und Klientel. Gegen das Wort der Generäle geht nichts in Ankara. Sie beschließen über ihren Etat selbst, und wenn die Politik aus ihrer Sicht in eine gefährliche Richtung geht, greifen sie ein. Sei es, dass sie putschen oder den Ministerpräsidenten durch Drohungen zum Rücktritt zwingen, wie 1997 den Islamisten Necmettin Erbakan. Historisch sind das Ausland und das Militär immer die Mächte gewesen, die der Türkei Reformen beschert haben. Im Moment drängen die EU und vor allem der IWF auf Reformen. Der IWF, der als Kreditgeber weit mehr Einfluss hat als die nicht immer ernst genommene EU, regiert zur Zeit ziemlich direkt in die Türkei hinein. So weit, dass er den ehemaligen Weltbankmitarbeiter und neuen Superwirtschaftsminister Kemal Dervisch der Regierung Ecevit aufgenötigt hat.
Damit führt der IWF einerseits der immer wieder zu demokratischen Spielregeln ermahnten Türkei vor, dass diese nur einseitig gelten. Andererseits rückt er damit dem alten Filz aus Politik und Staatswirtschaft noch gefährlicher auf den Pelz. Wie dieser Filz funktioniert und warum er das Land auf Dauer in eine Katastrophe treiben muss, wird immer deutlicher. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Kontrolle bzw. Nichtkontrolle des Bankensystems durch die Politiker. Zunächst sind da die staatlichen Banken, die dazu gebraucht werden, heimlich Subventionen an Wählergruppen zu verteilen, ohne dass die Sache gleich im Etat auffällt. Ein gutes Beispiel war der Aufstand der Kleinhändler im März und April dieses Jahres. Als es der Regierung zu bedrohlich wurde, beschloss sie, den Kleinhändlern die Steuern zu stunden und den Zins für ihre Kredite auf den Satz vor dem Beginn der akuten Finanzkrise, nämlich auf 55% zu senken.
Das hat sicher viele Menschen vor dem Ruin bewahrt. Dafür muss aber der Staat für die Differenz zwischen dem allgemeinen Zinsniveau und den 55% aufkommen. Der Staat selbst zahlt derzeit für seine Anleihen zwischen 150 und 190 % Zinsen. Das ganze ist also ziemlich kostspielig. In der gleichen Weise wird die Landwirtschaft mit verbilligten Krediten subventioniert. Gleichzeitig kauft der Staat den Landwirten ihre Produkte zum Teil zu einem Preis weit über dem Weltmarktpreis ab. Was zu viel ist, wird angekauft und dem Volk mit aufwendigen Werbekampagnen aufgedrängt oder vernichtet - wie der große Kartoffelberg, der hier letztes Jahr vernichtet worden ist. Von diesem System profitieren vor allem die in der Politik gut vertretenen Großgrundbesitzer.
Bänker
machen Politik
Man könnte nun meinen, die Privatisierung der Banken würde dem Missbrauch ein Ende setzen, doch das ist keineswegs so. Zunächst entscheidet die Politik darüber, wer eine staatliche Bank erwerben darf. Die Bankaufsicht verbleibt allerdings unter ihrer Kontrolle. Die drückt dann eben mal beide Augen zu, wenn sie bemerkt, dass ein frisch gebackener Bankier das ganze Geld seiner Kunden ohne Sicherheit an die eigenen Firmen verleiht. Das geschieht entweder offen oder oberflächlich getarnt über extra zu diesem Zweck gegründete sogenannte Off-Shore-Banken im türkischen Teil Zyperns. Nebenbei bemerkt, wird der Chef der Zentralbank des nur von der Türkei anerkannten türkischen Staates in Nordzypern von Ankara eingesetzt. Die Opfer der auch auf der Insel virulenten Bankenpleiten werden ebenfalls von Ankara in Raten entschädigt, wodurch die ökonomische Abhängigkeit der Inseltürken weiter zementiert wird.
Hat man nicht genug Geld in der eigenen Bank oder will die Sache noch besser kaschieren, so bürgt die eigene Bank lediglich für Kredite anderer Banken an die eigenen Firmen. Murat Demirel, der Neffe des gleichnamigen Staatspräsidenten, brachte es sogar fertig, eine Bank mit ihren eigenen Bürgschaften zu kaufen, d.h. mit nichts - außer seinem guten Namen. Mit diesen Methoden werden große Firmenimperien aufgebaut, und wenn es der Eigentümer nicht übertreibt und seine Firmen auch noch gute Gewinne abwerfen, so mag das auch mal gut gehen. Wenn nicht, so bricht das ganze mit lautem Knall zusammen und der Staat muss einspringen, weil er für die Bankeinlagen haftet.
Mit der Privatisierung der Banken einher ging die Übernahme der Medien durch die Inhaber von Privatbanken. Ende der neunziger Jahre hatte diese Entwicklung seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Neun landesweite Fernsehkanäle waren in der Hand von Bankiers, zwei von ihnen gaben nebenher noch rund 80% der türkischen Zeitungen heraus.
Die Banken machen ihre Gewinne hauptsächlich mit staatlichen Anleihen. Ein Jahrzehnt lang lieh sich der Staat sein Geld zu Zinsen, die im Schnitt 32% über der Inflationsrate lagen. So machte er die Banken und solvente Privatleute immer reicher. Weil die horrenden Zinsen nur noch zum Teil mit den Einnahmen zu bezahlen waren, wurde und wird der Schuldenberg, den der Staat vor sich her schiebt, immer größer. Machten die Zinszahlungen des Staates 1990 noch 32% der Steuereinnahmen aus, waren es 1999 bereits 72% und seither ist die Quote weiter gestiegen. Wenn 100% erreicht sind, wird dieser Kreislauf endgültig zum Circulus vitiosus, in dem der Staat, selbst wenn er sein gesamtes Personal entlässt und nichts mehr investiert, aus dem Bezahlen der Schulden nicht mehr herauskommen. Dass es bisher nicht ganz so weit gekommen ist, liegt daran, dass es noch ein Ventil gibt, nämlich staatliche Monopolbetriebe, die ihre Preise ohne Konkurrenz erhöhen können, was allerdings Inflationsdruck erzeugt. Auf diese Weise wird ein Teil der Last wieder auf die Allgemeinheit abgewälzt. Dies führt dazu, dass nicht nur die Zinsen, sondern auch die Realzinsen, d. h. der Abstand zwischen Zins und Inflation kräftig ansteigt, denn in den Zins muss ein höheres Inflationsrisiko eingespeist werden.
Dieses System aus Politik und Wirtschaft, zu dem auch noch die weit verbreitete Vetternwirtschaft und Korruption zu rechnen wäre, ist extrem krisenanfällig. Solche Krisen gab es 1994, 1999 (damals verstärkt, aber nicht ausgelöst durch zwei schwere Erdbeben) und jetzt wieder. Dabei sind solche Krisen zugleich der Augenblick, in dem die Umverteilung intensiviert und die Rechnung denen präsentiert wird, die nicht von dem System profitieren.
Nehmen wir als Beispiel die letzte große Krise, die am 19. Februar diesen Jahres begann. Der Anlass war relativ zufällig, ein Streit zwischen Ministerpräsident Bülent Ecevit und Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer. Sezer bestand darauf, dass Korruptionsaffären untersucht werden, die Ecevit, um seine Koalition nicht zu gefährden, unter den Tisch kehren wollte. Schließlich warf der gelernte Jurist Sezer sogar die Verfassung durch den Raum in Richtung Ecevit. Dieser rächte sich wie ein kleiner Junge, trat vor die Presse, erzählte, was hinter verschlossenen Türen geschehen war und sagte, es gäbe nun eine große politische Krise. Innerhalb von Stunden wurden riesige Lira-Beträge in Dollar eingetauscht. Nachdem die Leute ihr flüssiges umgetauscht hatten, begann man sich Geld für den Umtausch zu leihen und so wurden die Zinsen in astronomische Höhen getrieben. Der IWF glaubte, die Lage sei nicht mehr zu retten und wollte, dass der starre Wechselkurs der Lira aufgegeben und diese so abgewertet würde. Die türkische Regierung weigerte sich, und die Zentralbank bot an, durch Ausgabe von mehr Lira die Zinsen zu senken und so die auf der politischen Ebene bereits entschärfte Krise langsam abzukühlen. Angesichts der katastrophalen Folgen, die die Abwertung dann hatte, war der Vorschlag der türkischen Seite wohl vernünftiger, zumindest aber einen Versuch wert. Allerdings ist die Frage, ob es alle Vertreter der türkischen Seite mit ihrem dreitägigen Widerstand gegen die Forderung des IWF ernst meinten. Zumindest der Chef der Zentralbank Gazi Ercel hatte sofort sein eigenes Geld ebenfalls in Dollar getauscht. Das zeigt, dass derjenige, der in einem solchen Moment die richtigen Informationen hat, auch den größten und sichersten Gewinn einfährt, weil er weiß, wann er auf Devisen und wann auf Zinsen setzen soll. Und vielleicht hätte sich die Lage ja auch nach dem Streit zwischen Ecevit und Sezer wie nach einem Sturm im Wasserglas wieder beruhigt, wären ein paar Leute weniger sicher gewesen, dass die Abwertung tatsächlich kommt.
Die Zinsenfalle
ist zugeschnappt
Die Situation ist nun noch verfahrener als vorher. Zum einen stößt das Umverteilungssystem, das zwischen der Politik und ihren Nutznießern in der Türkei filzt, allmählich an Grenzen. Die Schulden des Staates und der Banken sind zu hoch. Im Ausland kann kein Geld mehr geliehen werden, denn die Kreditwürdigkeit der Türkei ist nur noch eine Stufe über den sogenannten Junkbonds. Ohne neue Kredite muss aber jede 7. Lira, die dieses Jahr in der Türkei erwirtschaftet wird, alleine für Rückzahlungen und Zinsen im Ausland bezahlt werden. In dieser Rechnung sind die Auswirkungen des Dollarkurses, der seit Februar um 80 % gestiegen ist, noch nicht einmal berücksichtigt und ebenso wenig die enormen internen Schulden.
Vielleicht nicht weniger schlimm ist der verborgene Machtkampf zwischen zwei der in Ankara regierenden Mächte, dem IWF und dem Filz. Die Reform des Bankensektors und anderes, was der IWF will, gehen dem Filz entschieden an seine Quellen, und gleichzeitig wäre ein Erfolg des Wirtschaftsministers Kemal Dervisch auch eine zu große Blamage für die beim Volk ohnehin in Ungnade gefallenen Politiker. Was liegt da näher, als öffentlich Ja zu den Reformen zu sagen, sie aber zu verschleppen und zu hintertreiben, sozusagen "Politik nach Vorschrift" zu machen, bis das Volk den erfolglosen Minister zurück nach New York oder zum Teufel wünscht? Unterdessen beginnt man schon mal ein bisschen weiter am Nationalismus zu köcheln, die Suppe gibt es dann sehr heiß, aber mit wenig Brot.
Jan Keetmann