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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 451 / 7.6.2001

Darf's ein bisschen liberaler sein?

Das WTO-Abkommen GATS liberalisiert den Dienstleistungssektor

Eine gewisse Legitimationskrise des Neoliberalismus ist unverkennbar. Auch andere Ereignisse wie z.B. die Asienkrise trugen ihren Teil dazu bei. Die führenden Akteure in der WTO - die USA, die EU und dessen Sekretariat - gelobten deshalb organisatorische Verbesserungen, die Berücksichtigung der Interessen der Entwicklungsländer und größere Transparenz. Diese ist mittlerweile in einem gewissen Maße realisiert worden (vgl. www.wto.org). Gleichzeitig hält die WTO strikt an ihrem neoliberalen Kurs fest. An ihrem Sitz in Genf laufen seit Anfang 2000 Verhandlungen über die weitere Liberalisierung des Weltagrarhandels (Agreement on Agriculture) und des Dienstleistungshandels im Rahmen des General Agreements on Trade in Services (GATS).

Stop the GATS Attack now!

Die Erbringung von Dienstleistungen ist im Allgemeinen viel stärker durch Qualifikationsanforderungen, Lizenzen, staatliche Monopole usw. reguliert als der internationale Warenhandel. Deshalb gerät beim GATS auch stärker als beim GATT die innerstaatliche Politik ins Visier, wenn die Systeme der sozialen Infrastruktur vom Gesundheits- bis zum Bildungswesen betroffen sind und unter Privatisierungsdruck geraten. Weitere Sektoren sind Telekommunikation, der Finanzsektor, Tourismus, Transport, Bau, Softwareproduktion, Medien und Kultur. Der Geltungsbereich ist derartig breit definiert, dass es um die Stärkung von Investorenrechten, um Kapital- und Personenverkehr sowie weltweiten Zugang zur öffentlichen Auftragsvergabe, Subventionen, Wettbewerbspolitik und die Formulierung von Sicherheits- und Qualitätsstandards geht. Bestehende Regelungen zur "innerstaatlichen Regulierung" sollen dahingehend ausgebaut werden, dass ein Staat bei jeglichen Maßnahmen "wissenschaftlich" beweisen können muss, dass diese erstens unbedingt nötig und zweitens den Handel nur im geringst-möglichen Maße störend sind. Konsequenzen könnten sein, dass Umweltstandards im Energie- und Umweltsektor von der WTO als unzulässig handelsstörend beschieden werden. Es könnte argumentiert werden, dass die ausschließliche Lizenzierung von nicht-profitorientierten Organisationen im Bildungsbereich (so in Japan) den Handel unnötig beschränkt, weil die Schulqualität auch in privaten Schulen gewährleistet werden kann, auch wenn sich dadurch soziale Ungleichheiten verstärken.

Das GATS enthält Regeln zu Investitionen, die ausgebaut und auf immer mehr Sektoren bezogen werden sollen und in die Richtung des gescheiterten Abkommens MAI gehen. Dabei geht es darum, den Transnationalen Konzernen (TNC) weltweit freien Zugang zu Anlagemöglichkeiten (z.B. bei der Privatisierung staatlicher Infrastruktur) und Schutz vor staatlichen (z.B. entwicklungspolitischen) Steuerungsinstrumenten zu verschaffen. Ggf. könnte die Einführung von Mindestlöhnen oder Umweltschutzgesetzen als "schleichende Enteignung" gewertet werden, die den Staat zu Schadensersatzleistungen an Konzerne verpflichtet (wie real sich so etwas auswirkt, ist an der Diskussion über den Atomausstieg in der BRD zu sehen).

Das Thema Dienstleistungen wurde von den USA bereits 1982 mit Nachdruck auf die Tagesordnung des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) gebracht. Dies stieß auf Widerstand einer Reihe von Entwicklungsländern, die über dieses Thema zunächst gar nicht verhandeln wollten. Sie fürchteten, bei einer Öffnung der Märkte der übermächtigen Konkurrenz durch TNC aus den westlichen Ländern nicht standhalten zu können und entwicklungspolitische Handlungsspielräume aufgeben zu müssen. Nach schwierigen Verhandlungen wurde mit dem GATS 1994 das erste multilaterale Handelsabkommen über Dienstleistungen beschlossen. Die Struktur des Vertrages ist überaus komplex. Allgemeine Regelungen, die für alle Mitgliedsstaaten gelten, überlagern sich mit Verpflichtungen, die Staaten "individuell" und "freiwillig" eingehen und die in Listen rechtlich bindend niedergelegt werden. Viele Artikel sind (noch) schwammig. Damit hängt die Beurteilung der Reichweite zunächst auch von ggf. entstehenden Handelsstreitigkeiten und der verbindlichen Rechtsinterpretation durch die Gerichtsbarkeit der WTO ab.

Im GATS ist eine Dynamik eingebaut, die periodische Verhandlungen mit dem Ziel fortschreitender Liberalisierung zwingend vorschreibt. Dies könnte geradezu als eine neoliberale Unumkehrbarkeitsklausel bezeichnet werden (abgesehen davon, dass ohnehin von Regierungen einmal eingegangene Liberalisierungsverpflichtungen später nur noch bestenfalls gegen Kompensationszahlungen zurückgenommen werden können). In der Tat wurde das GATS inzwischen durch mehrere Zusatzabkommen angereichert (z.B. zu Telekommunikation und Finanzdienstleistungen). Seit Februar 2000 laufen nun allgemeine Verhandlungen zur Revision (d.h. Ausbau) des Vertragswerks und Erweiterung der konkreten Liberalisierungspflichten. Dabei haben manche scheinbar technische, klassifikatorische und sprachliche Veränderungen eine große Tragweite. (1) Dies begünstigt die von Entwicklungsländern kritisierte Asymmetrie in den Verhandlungen: Wer über viele finanzielle, wissenschaftliche und personelle Ressourcen verfügt, kann die Ergebnisse im eigenen Interesse bestimmen, auch ohne direkten Druck auszuüben. Andere Länder können dagegen nicht einmal eigene Vertretungen in Genf unterhalten.

In den Verhandlungen gibt jeder Staat Angebote für und Forderungen nach konkreten Liberalisierungsverpflichtungen ab, die für einzelne Zielländer und Dienstleistungen konkretisiert werden. In allen offiziellen Verlautbarungen wird ein genereller Wohlfahrtsgewinn durch freien Handel propagiert. Es zeigt sich jedoch, dass jede Regierung i.d.R. nur dann daran glaubt, wenn sie die Gewinne durch zunehmende Exportmöglichkeiten in einem Sektor höher einschätzt als die Verluste durch Importe. Unbeschadet des multilateralen Charakters der Verhandlungen, den manche für sich schon als Fortschritt gegenüber einem tatsächlich oder vermeintlich rabiateren Bilateralismus erklären (2), setzen alle Staaten ihre - höchst ungleich verteilte - Macht auf allen ihnen zur Verfügung stehenden Ebenen ein, um ihre Ziele durchzusetzen, d.h. in relevanten Sektoren Marktöffnungen, Investitionsschutz und eine möglichst günstige Regulierung für "ihre" Konzerne zu erreichen. Die EU-Kommission schreibt die Beteiligung der "Zivilgesellschaft" an der Ausarbeitung der eigenen Ziele groß. Dies drückt sich vor allem in der äußerst engen Kooperation mit den europäischen Konzernen der Dienstleistungsbranche und ihren Lobbyorganisationen wie dem European Services Forum (ESF; www.esf.be) aus. Dabei wurde die Kommission keineswegs von den Lobbyisten belagert und genötigt, sondern initiierte diesen Prozess selbst. (3)

Der Fortgang der Entwicklungen in der WTO und beim GATS wird von den Basisbewegungen, die nach Seattle zu anderen Großereignissen wie den IWF/Weltbank-Gipfel 2000 in Prag mobilisierten, relativ wenig zur Kenntnis genommen. Eine Reihe von NGOs arbeitete unterdessen an der Akkumulation von Detailwissen. Folgerichtig versuchten sie z.B., bei von der EU-Kommission organisierten Treffen, ihre vorsichtig warnenden Statements in den politischen Willensbildungsprozess der Exekutive einzubringen. Allerdings zeichnen sich mittlerweile auch die Konturen einer internationalen Kampagne ab. Bis Anfang April unterzeichneten 430 Organisationen aus 53 Ländern die Erklärung "Stop the GATS Attack now!" (die Erklärung und Links zur Anti-GATS-Kampagne gibt es unter www.xs4all.nl/~ceo/gatswatch/).

Mythos
der Sozialen Marktwirtschaft

Die Aktivitäten dieser Kampagne(n) werden von WTO und Konzernen aufmerksam verfolgt. Die Angst geht um, das GATS könne eine solch negative Öffentlichkeit bekommen, wie einst das MAI. WTO-Generaldirektor Mike Moore sagte, angesichts der von NGOs verbreiteten Irrtümer, erfundenen Schreckgeschichten und Lügen über das GATS werde ihm übel. Im März 01 sah sich die WTO genötigt, ein 19-seitiges Pamphlet "GATS - Facts and Fiction" zu veröffentlichen, in dem sie die Kritik zu diskreditieren versucht. Zu der GATS-Tagung "Zu wessen Diensten?" vom Forum Umwelt & Entwicklung Mitte Mai in Bonn zog es auch Vertreter von EU-Kommission, ESF, BDI, BMWi und OECD.

Die NGO-Erklärung hebt sich einerseits positiv von primär technokratischen Forderungen wie der zur Einführung der Tobin-Steuer ab, indem sie sich für soziale und wirtschaftliche Grundrechte stark macht. Mit der Privatisierung sozialer Sicherungs- und Versorgungssysteme, der Verankerung des Verbots handelsstörender innerstaatlicher Regulierungen im internationalen Recht und der brachialen Öffnung von "Märkten" des Südens werden durchaus abzulehnende Entwicklungen thematisiert. Andererseits ist der überaus positive Bezug auf das, was als bedrohte "demokratische Regierungstätigkeit" bezeichnet wird, nicht zu übersehen. Wieder wird der bürgerliche Fetisch des Staates als neutraler Mittler der gesellschaftlichen Interessen angebetet. Die Politik befindet sich so scheinbar nur auf einem Irrweg, fehlgeleitet von den Konzernen. Entsprechend wird die aktive Rolle der demokratischen Institutionen im nationalistischen "Standortkrieg" ausgeblendet, während die Beschränkung der Handlungsoptionen von Regierungen und die Aushöhlung "der Demokratie an sich" beklagt wird. Dann wundert es nicht, wenn am Ende an "unsere Regierungen" appelliert wird, im Rahmen des GATS [sic!] und unter Beteiligung der Bürgergruppen aller Mitgliedsländer wieder alles zum Guten zu richten. Diese Kritik speist sich nicht aus einer Verkennung der Rolle von und Fixiertheit auf Kampagnenpapiere. Ohne ein Freund der von Inhalten unterbrochenen Dauerwerbung privater Sender zu sein: Der tosende Beifall, den WDR-Chef Fritz Pleitgen auf der genannten Tagung für seine Vergötterung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens (4) erhielt, spricht Bände. Der "Bürgerrundfunk" garantiere gegenüber dem Einheitsbrei amerikanischer Mediengiganten kulturelle Nachhaltigkeit, d.h. gleichzeitig Pluralität und deutsche Identität (!). Wenn die Anti-Globalisierungsproteste im Juli in Genua in ARD und ZDF wieder auf Gewalt reduziert werden, erinnern wir uns.

Die mangelnde Staatskritik der Kampagne hat etwas gestriges - wer wünscht sich schon Fremdbestimmung durch autoritäre Behörden? - und transportiert den Mythos der Sozialen Marktwirtschaft. Dabei könnte in Bezug auf die Forderung, die Rolle und Verantwortung der Regierungen in der neuen globalen Ökonomie für die Garantie von umfassenden Grundrechten gemäß älteren UN-Deklarationen erneut festzuschreiben, gegengefragt werden: warum hamse denn nich', als se noch konnten, d.h. vor dem definitiven Sozial-staatsverbot des WTO-Abkommens?

Heiko Wegmann

Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft

des BUKO, www.buko24.de

Anmerkungen:

1) Wenn beispielsweise in die Definition von Finanzdienstleistungen neuartige "Produkte" aufgenommen werden, steigt automatisch das Niveau der Liberalisierung bei den Ländern, die Verpflichtungen in dem Sektor eingegangen sind.

2) So auch Christoph Scherrer bei der Eröffnungsdiskussion zum BUKO 23 im Oktober 2000 in Berlin. Damit wird verkannt, dass in diesen Multilateralismus institutionell die Bedingungen der sozialen Polarisierung und ökologischen Zerstörung eingeschrieben sind. Viele multilaterale Verhandlungen finden überhaupt erst auf Grund unilateraler Drohungen statt, wie die Entstehungsgeschichte des GATS beweist.

3) Dieser Prozess wurde mit Nachdruck vom vormaligen EU-Handelskommissar Leon Brittan vorangetrieben, der auf die Kommission heute selbst als Lobbyist eines britischen Finanzkonzerns einwirkt.

4) Dessen Privileg der Gebührenfinanzierung könnte im GATS früher oder später als wettbewerbsverzerrende Subvention angegriffen werden, ebenso wie die Beschränkung von Werbezeiten als Verhinderung von Marktzugang gelten könnte.