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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 452 / 5.7.2001

Rauchende Colts im IKEA-Land

Professionelle Gewalttäter der schwedischen Polizei versuchen EU-GegnerInnen zu spalten

Auf dem EU-Gipfel vom 14. bis 16. Juni in Göteborg durfte die schwedische Polizei nun endlich einmal Wildwest spielen. Das geht in Ordnung, meinen die europäischen Staatschefs und Innenminister und erklären damit jene Anti-EU-AktivistInnen zu Freiwild, die sich nicht widerstandslos verprügeln lassen wollten.

Gegen den EU-Gipfel in Göteborg hatten im Wesentlichen jene politischen Gruppierungen mobilisiert, die auch zu Gegenaktivitäten bei anderen internationalen Gipfeltreffen wie der IWF- und Weltbank-, der WTO-Tagung oder dem G8-Treffen aufrufen und seit geraumer Zeit unter dem schillernden Begriff "Antiglobalisierungsbewegung" zusammengefasst werden: Menschenrechts- und Umweltschutzorganisationen, EU-feindliche Bauern, RegionalistInnen, reformistische NGOs, Gewerkschaften und SozialstaatsverteidigerInnen gehören ebenso zu dieser äußerst heterogenen Protestbewegung wie radikal antikapitalistische und antistaatliche Gruppen. Gemeinsam ist ihnen letztlich nur die Ablehnung der - im Wesentlichen von den führenden wirtschaftlichen Blöcken wie der OECD, der G8-Staaten oder eben der EU vorangetriebenen - weltweiten neoliberalen Deregulierung der Gesellschaften.

Um diesem breiten Widerstandsspektrum von Anfang an den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte die schwedische Regierung im Vorfeld des Gipfels geschickt versucht, das Klischeebild der skandinavischen Toleranz, die auch den EU-KritikerInnen den ihnen demokratisch zustehenden Platz einräume, zu verbreiten. Öffentlichkeitswirksam wurden den EU-GegnerInnen Schulen als Unterkünfte und die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos zur Verfügung gestellt. Ähnlich wie schon bei vorherigen internationalen Tagungen geriet auch hier die einen Tag vor der offiziellen Eröffnung des Gipfels anberaumte Diskussion des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson mit Gipfel-GegnerInnen zur perfekten PR-Show, auf die bürgerliche Medien nur allzu bereitwillig aufsprangen.

Dialogbereitschaft als PR-Show

Und auch die schwedische Polizei hatte noch im Vorfeld des Gipfels verkündet, ganz auf Deeskalation und auf den Dialog mit den EU-GegnerInnen setzen zu wollen. Doch bereits kurze Zeit später stellte sie klar, dass ihr angebliches Deeskalationskonzept in erster Linie eine geschickte Medieninszenierung war. Wenige Tage vor Beginn des Gipfels wurden zahlreiche schwedische AktivistInnen von der AntiFascistisk Aktion (AFA), die maßgeblich an der Vorbereitung des Gegengipfels beteiligt waren, ohne nähere Begründung festgenommen. Das Koordinierungszentrum für die Anti-EU-Aktivitäten, in dessen Räumen der Gegengipfel stattfinden sollte, wurde mit massiven Polizeiaufgebot geräumt, sämtliche Anwesende, im Ganzen etwa 500 Personen, die größtenteils zur skandinavischen Sektion der Tute Bianche gehörten, festgenommen und - soweit sie keine schwedische Staatsangehörigkeit besaßen - sofort abgeschoben. Die offizielle Begründung für das rigorose Vorgehen der Polizei bot die äußerst durchsichtige Behauptung, es gäbe einen Verdacht auf Lagerung von Waffen und Sprengstoff. Das Koordinierungszentrum als solches wurde unmittelbar nach der Räumung von der Polizei mit riesigen Schiffscontainern verbarrikadiert, so dass an eine weitere Nutzung nicht mehr zu denken war und der geplante Gegengipfel entfallen musste. Mit der gezielten Zerschlagung sämtlicher Proteststrukturen sollten wirkungsvolle Aktionen der EU-GegnerInnen von vorneherein unmöglich gemacht werden.

So hätte die schwedische Polizei der für Freitagvormittag geplanten Blockade des Kongresszentrums eigentlich gelassen entgegensehen können: Nach der Festnahme der Tute-Bianche sowie der AFA-AktivistInnen war von den ursprünglichen drei Blockade-Blöcken nur einer übrig geblieben, angeführt von einigen skandinavischen ML-Gruppen, die allesamt nicht gerade für ihre Militanz berühmt sind. Zu diesen gesellte sich das übrig gebliebene Spektrum an EU-GegnerInnen, das noch nicht festgenommen oder schon an den Grenzen zurückgewiesen worden war. Bei dem sich formierenden Protestzug von etwa 3.000 Personen, die sich nun zur nächstgelegenen Polizeiabsperrung aufmachten, konnte also von einer wirklichen Blockade des EU-Gipfels keine Rede mehr sein. Friedlich kam der Zug vor der Absperrung zum Stillstand, zu keinem Zeitpunkt gab es den Versuch, die Absperrung zu durchbrechen.

Was den Einsatzleiter der schwedischen Polizei anschließend dazu bewog, den Protestzug mit gezogenen Schlagstöcken, berittenen Einheiten und scharfen Hunden ohne Vorwarnung anzugreifen, wird wohl auf ewig sein Geheimnis bleiben. Vielleicht rechnete er in völliger Verkennung der Situation damit, durch hartes und schnelles Vorgehen auch die letzten Reste der ursprünglich geplanten, nicht genehmigten Blockade zerstreuen zu können. Ein Teil der AktivistInnen vertraute jedoch nach den Ereignissen der Vortage der angeblichen Deeskalationsstrategie schon längst nicht mehr, sie hatten das aggressive Vorgehen der schwedischen Polizei erwartet und sich dementsprechend vorbereitet. Was folgte war eine mehrstündige Straßenschlacht, wie sie Schweden bis dahin noch nicht erlebt hatte. Die schwedische Polizei zeigte sich in dieser Situation, die sie selbst hervorgerufen hatte, vollkommen überfordert. Göteborgs Innenstadt lag über Stunden vollkommen in der Hand der militanten Anti-EU-AktivistInnen, die die Polizei mit massivem Steinhagel in Schach hielten und Banken, Nobelhotels und Fast-Food-Restaurants zertrümmerten. Erst gegen Nachmittag beruhigte sich die Lage vorerst wieder.

Doch schon am frühen Abend bewies die schwedische Polizei, dass sie aus den Ereignissen des Vormittags nichts gelernt hatte. Als etwa 1.000 GlobalisierungsgegnerInnen eine Reclaim-the-City-Party mit Musik und Tanz feiern wollten, sah die "Ordnungsmacht" anscheinend ihre Chance gekommen, sich für die so empfundene Niederlage vom Vormittag zu rächen. Die bis dahin vollkommen friedliche Party wurde kurzerhand gestürmt, Beamte schlugen mit offensichtlicher Genugtuung teilweise minutenlang auf wehrlos am Boden Liegende ein. Unbeteiligte, die derartige Polizei-Übergriffe fotografieren wollten, erging es nicht anders.

Polizei provoziert Gewalt

Doch auch diesmal hatte sich die Einsatzleitung verkalkuliert, eine größere Gruppe von militanten AktivistInnen hatte mit diesem Vorgehen der Polizei gerechnet. Wie schon am Vormittag kam es nun auch am Abend zu stundenlangen Straßenschlachten, während deren die Polizei die Lage nicht unter Kontrolle bekam. Ein für den Abend geplantes Abendessen der Gipfel-TeilnehmerInnen wurde abgesagt, einige Staats- und Regierungschefs mussten fluchtartig ihre Hotels räumen und sich auf das abgeriegelte Kongress-Gelände zurückziehen, was einer Ausgangssperre gleichkam. Den militanten Anti-EU-AktivistInnen gelang es immer wieder, einzelne Polizei-Einheiten zurückzutreiben. In dieser Situation ließ die schwedische Polizei endgültig alle rechtsstaatliche Prinzipien fallen, zog die Pistolen und schoss wahllos in die Menge, später dann ganz gezielt auf einzelne AktivistInnen. Ein 19-jähriger Abiturient wurde am Bein verletzt, ein anderer 19-jähriger schwebte nach einem Leber- und Nierendurchschuss tagelang in Lebensgefahr, eine dritte Person soll in die Brust getroffen worden sein. Fotos und Videoaufnahmen der Vorfälle beweisen ganz klar, dass von einer Notwehrsituation, wie sie von der Polizei eilig vorgeschoben wurde, nicht die Rede sein kann.

Nur durch Glück keine Toten

Noch in der selben Nacht stürmten schwedische Sondereinsatzkommandos eine Unterkunft der Anti-EU-AktivistInnen. Alle Anwesenden wurden mit im Anschlag befindlichen Maschinenpistolen gezwungen, sich nachts im Freien bei strömendem Regen mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zwei Stunden lang auf den Boden zu legen. Die anwesenden Frauen mussten sich anschließend eine Leibesvisite von männlichen Polizisten gefallen lassen, jedes Protestieren wurde sofort durch einen Schlag mit dem Gewehrkolben beantwortet. Obwohl die Durchsuchung der Schlafräume den angeblichen Verdacht auf Besitz von scharfen Waffen bei den AktivistInnen nicht erhärten konnte, wurden viele von ihnen festgenommen und noch am selben Abend aus Schweden ausgewiesen.

Obwohl die Polizeitaktik von Anfang an darauf ausgerichtet war, wirkungsvollen Protest mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und - im weiteren Verlauf der Proteste - ohne die geringste Rücksicht auf rechtsstaatliche Grundsätze zu unterbinden, wollten viele gemäßigte EU-KritikerInnen die Schuldigen für die Eskalation lieber bei den militanten AktivistInnen im eigenen Lager sehen. Durch deren gewalttätiges Vorgehen seien ihre Absprachen mit der Polizei für einen friedlichen Protest zunichte gemacht und dem politischen Anliegen der "Antiglobalisierungsbewegung" schwerer Schaden zugefügt worden. Ein schöner Beweis, welchen Realitätsverlust die ständige Verhandlungstaktik mit der staatlichen Gegenseite mit sich bringt und wie sehr die im Vorfeld betriebene Deeskalationspropaganda mit der damit beabsichtigten Spaltung in "gute" und "böse" GegendemonstrantInnen gefruchtet hat. Ein Deeskalationskonzept hat de facto nie existiert, die schwedische Polizei hatte zu keinem Zeitpunkt die Absicht, sich an irgendwelche Absprachen mit naiv rechtsstaatsgläubigen NGOs zu halten.

Doch auch die militanten EU-GegnerInnen müssen sich die Frage nach dem Erfolg ihres Vorgehens gefallen lassen. Auch wenn mit dem faktischen Verbot des Gegengipfels die Formulierung politischer Ziele wesentlich erschwert wurde, wären weitere Versuche zur inhaltlichen Unterfütterung der Aktionen notwendig und möglich gewesen. Auf diese Weise machten sie es den PressesprecherInnen der EU-Staaten nur allzu einfach, die Proteste als kriminellen "Polit-Hooliganismus" abzutun und damit zu entpolitisieren. Auch wenn die militanten Aktionen mit dem gezielten Angriff auf den friedlichen Protestzug durch die schwedische Polizei ausgelöst wurden, war insbesondere die Verwüstung der Göteborger Innenstadt mit Sachschäden von über 20 Millionen Mark für große Teile der EinwohnerInnen nicht zu vermitteln. Bereits am Freitagnachmittag war die Reaktion auf die AktivistInnen unterkühlt bis offen gereizt, wodurch die schwedische Polizei teilweise sogar mit Verständnis für das gezielte Abschießen von Menschen rechnen durfte.

An diesem Negativ-Image änderte auch die Großdemonstration am Samstagvormittag mit über 25.000 TeilnehmerInnen nichts mehr, die auf Grund der Zurückhaltung der Polizei vollkommen friedlich blieb. Allzu tief saßen die - durch schwedische Presse und Fernsehen reichlich ausgeschlachteten - Bilder von den Straßenkämpfen vom Vortag, wogegen die wenig spektakulären Aufnahmen von der Großdemonstration nur sehr spärlich an die Öffentlichkeit kamen.

Die Bilanz von Göteborg mit weit über 100, z.T. lebensgefährlich Verletzten ist erschreckend und lässt für zukünftige Proteste gegen die neoliberale Politik der mächtigsten Länder nichts Gutes erwarten. Göteborg machte deutlich, in welchem Ausmaß die EU-Staaten inzwischen bereit sind, demokratische Grundrechte zu missachten, um den eingeschlagenen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kurs auch gegen massiven Widerstand durchzudrücken. Alles in allem wurden während des Gipfels weit über 1.000 Personen festgenommen, fast alle willkürlich, ohne konkreten Verdacht oder Vorwurf und weit abseits des eigentlichen Geschehens. Noch immer befinden sich 52 von ihnen in Haft, darunter auch sieben Personen aus Deutschland.

Nicht selten handelt es sich bei den verhafteten angeblichen "Krawallprofis" um Jugendliche, die überhaupt das erste Mal an derartigen Protestaktionen teilnahmen. Ihnen kommt nun die Rolle des Sündenbocks zu, um das brutalisierte und dabei völlig misslungene polizeiliche Vorgehen im Nachhinein zu rechtfertigen. Obwohl gegen viele der Festgenommenen keinerlei Beweise vorliegen, werden sie weiterhin für unabsehbare Zeit in Untersuchungshaft bleiben müssen, solange die Polizei versucht, doch noch Material gegen sie zusammenzutragen. Die Inhaftierten unterliegen einer völligen Kontaktsperre, weder ihre FreundInnen und Eltern noch ihre deutschen Anwälte durften mit ihnen telefonieren, geschweige denn sie in ihren Einzelzellen besuchen. Ihnen steht weder Hofgang noch der Zugang zu öffentlichen Medien oder medizinischer Versorgung zu. Die von Seiten der Polizei betriebene Gewalteskalation ist dagegen weiterhin kein Thema, obwohl es letztlich nur ein glücklicher Zufall ist, dass niemand erschossen wurde.

Joachim Kolb, 26.5.2001

Für die Inhaftierten wurde inzwischen ein Spendenkonto eingerichtet:
Rote Hilfe e.V., Kto-Nr. 71 89 590 600, Berliner Bank, BLZ 100 200 00, Stichwort Göteborg