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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 453 / 30.8.2001

Tute Bianche

Weiße Overalls im zivilen Ungehorsam

Für Irritationen sorgten während der G-8 Proteste in Genua Ende Juli die Gruppe der Tute Bianche, die "Weißen Overalls". Mit ihrem entschlossenen Vorhaben "defensiv-offensiv" in die Rote Zone einzudringen, um den Gipfel zu verunmöglichen, passten sie nicht so recht in die fest gefügte Vorstellungswelt, die viele aus dem Ausland angereiste DemonstrantInnen mit gebracht hatten. Die Tute Bianche kommen weder dem Militanzfetisch des "Schwarzen Block" nach, noch agieren sie vorauseilend gewaltfrei wie viele NGOs. Mit ihrer originellen Vorgehensweise und basisdemokratischen Organisationsprinzipien bilden sie einen Teil der internationalen anti-kapitalistischen Bewegung, der versucht, nach neuen Formen des Widerstandes und seiner öffentlichen Vermittlung zu suchen.

Bereits seit einigen Jahren wird in Italien von verschiedenen Gruppen die Taktik benutzt, während Aktionen und Demonstrationen einen weißen Overall zu tragen. Dies schuf im ersten Moment nicht nur größere Distanz zur Polizei, sondern auch mehr Öffentlichkeit. Den Tute Bianche gelang es, kostenlose Züge zu Demonstrationen im Ausland durchzusetzen, mit Journalisten in ein Mailänder Abschiebegefängnis einzudringen und seine vorübergehende Schließung zu erzwingen und mit 300 AktivistInnen die Delegation der zapatistischen KommandantInnen im März 2001 als Schutzgruppe auf ihrem Marsch zu begleiten.

Während der vergangenen drei Jahre entwickelten die Tute Bianche ihr Konzept einer "defensiv-offensiven" Strategie auf Demonstrationen. Sie betonten, es handele sich um "zivilen Ungehorsam". Dabei nehmen sie aber das Recht auf Selbstschutz in Anspruch. D.h. sie schützen sich und ihre Körper bei Angriffen der Polizei mit Polstern, Schilden, Helmen, Arm- und Schienbeinschützern, Handschuhen, Gasmasken und Gasschutzbrillen. Das benutzte Equipment bleibt aber immer auf der Ebene nicht-offensiver Ausrüstung. Gleichzeitig kündigen sie ihre Vorgehensweise im Vorfeld von Aktionen immer öffentlich an. Dies ermöglichte den Tute Bianche, die zunächst im Nordosten Italiens entstanden waren, große Verbreitung zu erlangen. Gerade die Einschätzbarkeit ihrer Vorgehensweise und die Offenheit ihres Konzepts machte eine Ausweitung der Bewegung möglich.

Entschlossen defensiv-offensiv

Während der Aktionstage in Genua übernachteten die AnhängerInnen der Tute Bianche und anderer Gruppen, die sich an ihrem Konzept beteiligten, im Stadion Carlini. Dort wurde nahezu eine Woche lang von zunächst Hunderten und schließlich um die 8.000 Menschen gemeinsam campiert und die Schutzausrüstung für die Demonstrationen vorbereitet.

Die auf Delegiertenplena der italienischen Städte und internationalen Gruppen entwickelten Konzepte und Entscheidungen wurden im Stadion auf Vollversammlungen präsentiert und waren für alle nachvollziehbar. Da die einzelnen Gruppen vor allem den Erfolg der gemeinsamen Aktion im Blick hatten und auf die "Reinheit" der eigenen Linie verzichteten, schlug die stark basisdemokratische Entscheidungsstruktur und die absolute Transparenz nicht in Handlungsunfähigkeit um.

Diese Transparenz ist vor allem ein Resultat der Erfahrungen der Autonomia Operaia und der Bewegung in den 70er Jahren. Damals bestimmte ein relativ kleiner Kern der Bewegung das Konfrontationsniveau bei Massendemonstrationen. Innerhalb weniger Jahre führte dies dazu, dass die Bewegung immer isolierter wurde. Einem Großteil der TeilnehmerInnen auf der Straße kam faktisch nur eine StatistInnenrolle zu. Ihnen wurde die Möglichkeit genommen, einen realen Einfluss auf das konkrete Geschehen zu nehmen.

Die Tute Bianche spielten bei der "Rückkehr der Bewegung" in Italien während der vergangenen zwei Jahre eine bedeutende Rolle. Sie erlangten eine starke Präsenz in der italienischen Öffentlichkeit. Vor dem Gipfel führten sie nach dem Vorbild der Zapatistas eine Befragung der Bevölkerung durch. Sie fragten, ob es legitim sei unter Einsatz des geschützten eigenen Körpers in die Rote Zone, das abgesperrte Gipfelgelände, vor zu dringen. So konnten sie eine breite öffentliche Debatte über ihr defensiv-offensives Vorgehen führen. Nicht ganz ohne Erfolg im Meinungskrieg: Wenige Tage vor Beginn des Gipfels hielten laut einer Umfrage der bürgerlichen Tageszeitung La Repubblica immerhin 23 Prozent der italienischen Bevölkerung ein Eindringen in die Rote Zone für legitim.

In Genua beteiligten sich am Freitag, dem Tag der Blockade, 10.-15.000 Menschen an dem von den Tute Bianche initiierten Demonstrationszug. Eine Größenordnung, die den Rahmen aller bisherigen Tute Bianche Aktionen sprengte und mit der sie selbst nicht gerechnet hatten. Die Militanz konzentrierte sich auf das öffentlich angekündigte Durchbrechen der Polizeiketten und der Stahlmauer auf dem Weg in die Rote Zone. Um einer breiten Öffentlichkeit ein politisch gezieltes offensives Vorgehen vermitteln zu können, sollte kein Sachschaden in der Stadt angerichtet werden. Der "zivile Ungehorsam" der Bewegung zielt auf eine Verbreiterung der Aktionsformen der Anti-Globalisierungs-Bewegung nach dem Vorbild der Zapatistas. Vermittelbarkeit und Transparenz gehören so zu den wichtigsten Maximen.

Die Ausrüstung, die sie zum Selbstschutz mit sich tragen Helme, Körperschutz aus Schaumstoff und Plastik, Plexiglasschilde und sogar die Flex-Geräte, die sie mitsamt Dieselgeneratoren mitschleppten, um den Zaun aufzuschneiden ist im Rahmen der italienischen Gesetze weder explizit legal noch illegal. "Es ist im wesentlichen eine politische Frage was durchsetzbar ist", so Federico Martelloni von den Tute Bianche aus Bologna. Die Legalität wird also auf fantasievolle Art bis an ihre äußersten Grenzen ausgereizt und der Rahmen ständig weiter gespannt. So konnten die Tute Bianche im Bündnis des Genova Social Forum (GSF) auch durchsetzen, dass nicht nur diese Formen der Selbstverteidigung sondern auch der Bau von Barrikaden zum Schutz gegen Polizeiangriffe als Aktionsform getragen wurde. Lediglich angezündet werden sollten sie nicht.

Transparenz der Entscheidungen

Dennoch oder gerade deshalb war der Demonstrationsblock der Tute Bianche den härtesten Angriffen der Polizei ausgesetzt. Es sollte ein Exempel am radikalsten Teil des GSF-Bündnisses statuiert werden. So war es auch kein Zufall, dass Carlo Giuliani am Rande dieser Demonstration erschossen wurde, als ihre Spitze an das Innenstadtgebiet angrenzte und sie von einem massiven Polizeiaufgebot gestoppt und zurückgeschlagen wurde.

Eine Massenpanik während der nahezu vier Stunden andauernden Tränengas- und Knüppelattacken der Polizei, die Tausende von Personen, in einer Situation in der sie sich weder nach vorne noch zurück bewegen konnten, in Atemnot brachten, wurde wahrscheinlich nur durch die enorme Disziplin der Teilnehmer und die gute Organisierung des Zuges verhindert. Im Verlauf des Freitags entschied ein siebenköpfiges Gremium, bestehend aus Delegierten verschiedener Bündnisse und Gruppen, die aus dem Delegiertenplenum des Stadion Carlini ernannt wurden, über das gemeinsame Vorgehen. Die einzelnen Schritte und Stufen des Aktionskonzept waren schon vorher fest gelegt worden, so dass dem Gremium lediglich die Aufgabe zukam, über Zeitpunkte zu entscheiden, bzw. in Absprache mit der Demospitze über Rückzug, Ruhepausen oder Vorrücken zu beschließen.

Die Entscheidungen wurden bis zum Ende der Aktion in mehreren Sprachen über den (allerdings zu leisen) Lautsprecherwagen an die gesamte Demonstration vermittelt. Zusätzlich gab es innerhalb der Demonstration ein Informationssystem über Funk. Spezielle Gruppen wurden gebildet, die die Gasgranaten in mit Wassern gefüllten Mülleimern ablöschten, andere fuhren mit Einkaufswagen voller Wasserflaschen durch die Demo und spülten Augen, vom Lautsprecherwagen aus wurden hunderte Wasserflaschen verteilt. Durch das große Vertrauen, das so in die Leitung der Demonstration hergestellt werden konnte, gelang es die Demonstration kompakt zu halten. Ein Gefühl der Sicherheit vermittelte DemonstrantInnen auch die Tatsache, dass die Geschlossenheit des Demonstrationszuges, das zusammen bleiben und gemeinsam zurück kehren während der gesamten Zeit im Vordergrund stand.

Am Rande der Demonstration kam es allerdings auch zu Auseinandersetzungen zwischen DemoteilnehmerInnen - auf einen Ordnungsdienst war ausdrücklich verzichtet worden - und mit Stangen Bewaffneten, die sich in den Zug zurück ziehen wollten, um dann wieder los zu schlagen. Bereits im Vorfeld war verkündet worden, dass im Demozug der Tute Bianche keine Stangen mit geführt werden sollten und so wurden Personen mit Eisenstangen angesprochen, entweder die Stangen weg zu legen oder wo anders hin zu gehen. Die Demonstration verteidigte so ein vorher von allen gemeinsam beschlossenes und öffentlich bekannt gemachtes Konzept. Die Reaktionen darauf waren sehr unterschiedlich. Einige Vermummte akzeptierten die Vorgabe, andere reagierten mit Gewalt und brachen demjenigen, der sie angesprochen hatte das Nasenbein. Wiederum andere wurden von DemoteilnehmerInnen als Zivilpolizisten ausgemacht und verjagt.

Eine Distanzierung vom imaginären "Schwarzen Block" hat es seitens der Tute Bianche bisher dennoch nicht gegeben. Sie betonen, dass der Widerstand breiter war und nicht als "Schwarzer Block" abgestempelt werden kann, üben aber deutliche Kritik: "Die sogenannten ,schwarzen Overalls` sind eine Erscheinung die nicht kriminalisiert werden sollte. Es sind Leute, die glauben, dass es reicht eine Scheibe einzuschlagen, um den Kapitalismus zu treffen. Das ist ihr smash capitalism. Wir denken anders. Wir haben einen Prozess der gesellschaftlichen Transformation im Kopf, bei dem das ,Netz der Netze` zum attraktiven Pol wird, sich ausbreitet und die Entstehung weiterer gesellschaftlicher Netze begünstigt."

Weitere Schwierigkeiten in der Demonstration tauchten an der Stelle auf, an der die Demo von der Polizei aufgehalten wurde. Die Konfusion in der Demoaufstellung (teilweise befanden sich Personen in den vorderen Reihe, die nicht über genügend Schutz verfügten und bei den Gasangriffen zurück weichen mussten) sowie die enge Straße führten dazu, dass ein Teil der Demonstration in einem bestimmten Moment zwar die erste Polizeiblockade durchbrechen, dem massiven Gegenangriff der Polizei jedoch nicht lange stand halten konnte und sich wieder zurück zog, um sich der restlichen Demo anzuschließen.

Das Recht
auf Barrikaden

Im vorderen Teil der Demonstration konnte das Konzept des zivilen Ungehorsam ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr aufrecht erhalten werden. "Wir haben uns solange daran gehalten wie wir konnten", so Tute Bianche Sprecher Luca Casarini. "Aber als der Walzer mit den Panzerwagen anfing, als man die ersten Schüsse hörte, haben wir reagiert, indem wir uns hinter Müllcontainern verschanzt und Steine geworfen haben." Angesichts der Eskalation von Seiten der Polizei stehen die Tute Bianche auch zu einer weiteren Ausdehnung des Selbstschutzes, erklärt Luca Casarini: "Wir wurden aus heiterem Himmel angegriffen, wo unser Block sich völlig friedlich verhalten hat. Wir wurden erst mit Tränengas beschossen, dann sind Panzerwagen in uns rein gefahren, ohne uns Fluchtwege zu lassen. Am Freitag nachmittag ging die Hölle los, und die Leute haben Angst gehabt, sie sterben. In dieser Situation haben wir uns das Recht herausgenommen, Barrikaden zu bauen."

Die Bewegung der Tute Bianche ist in Genua mit ihrem Konzept auf der Straße - gemessen an ihren Vorgaben - gescheitert. "Sicherlich müssen wir über den zivilen Ungehorsam als Aktionsform und über die politischen Strategien auch anderer Teile der Bewegung nachdenken. Keiner hatte damit gerechnet, dass uns in Genua nicht nur ein Konflikt, sondern ein regelrechter Krieg erwartet. Normalerweise schieben wir Tute Bianche uns ja nur als Masse mit unseren Schutzanzügen vor. Die haben aber nicht mehr ausgereicht, als die Polizei uns mit Panzerwagen attackiert hat", so Luca Casarini in einer kurzen Analyse. "Sie wollten beweisen, dass sie stärker sind und haben es geschafft. Aber wir werden sie weiterhin bekämpfen. Aber wir dürfen uns nicht in eine Spirale der Gewalt ziehen lassen. Unsere Geschichte lehrt uns, dass in diesem Spiel nur der Staat gewinnt."

Dario Azzellini