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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 453 / 30.8.2001

Vom Staatsterror zum Faschismus?

Die Orgie staatlicher Gewalt in Genua markiert eine Zäsur. Viele befürchten, dass den Demonstrierenden im Dezember beim EU-Gipfel in Belgien noch Schlimmeres drohen könnte. Die besonderen italienischen Verhältnisse kommen in solchen Kommentaren kaum vor. Gerade sie muss man aber kennen, um die Bedeutung und die Folgen des blutigen Wochenendes von Genua zu verstehen.

Es sah aus wie abgesprochen. Auf die gezielten Schüsse von Göteborg folgte die Eskalation staatlicher Gewalt in Genua; die breiter werdende Protestbewegung ist geschockt und eingeschüchtert. Auf Wandzeitungen zum Tod Carlo Giulianis wurde die Gewalttätigkeit der Herrschenden auf den schlichten Nenner gebracht: "Für die Macht der Reichen gehen sie über Leichen." Aber war die Gewaltorgie von Genua wirklich das Ergebnis internationaler Absprachen; ist also die weitere Eskalation - unabhängig vom Ort der Auseinandersetzung - unabwendbar, weil "die Herrschenden" sie wollen, um die Opposition gegen ihre Politik auf lange Sicht zu zerschlagen? Als Anhaltspunkte für eine "Globalisierung" der Repression nennt Angela Klein u.a. die Mehrsprachigkeit der polizeilichen Provokateure in Genua und die Ausbildung italienischer Elite-Einheiten in den USA. (SoZ, 16.8.01) Ist Genua also "überall"?

Bei genauerer Betrachtung scheint eher das Gegenteil der Fall: Der in Genua wütende Staatsterror war - zum jetzigen Zeitpunkt und in diesem Ausmaß - nur in Italien möglich. Und das nicht, weil dort seit Berlusconis Amtsantritt der Faschismus an der Macht wäre. Dass Luca Casarini, der Sprecher der Tute Bianche, von der "faschistischen Regierung" und dem "Polizeistaat" Italien sprach, mag als unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse von Genua legitim sein. Es ersetzt aber keine Analyse. Denn tatsächlich kann derzeit von einem faschistischen Regime in Italien keine Rede sein - allerdings könnte, ohne massive demokratische Gegenwehr, Genua zum Beginn einer Entwicklung werden, die zum Faschismus hinführt. Zwar ist - in Italien oder in anderen europäischen "Demokratien" - "alles schon mal da gewesen", was Genua zum Albtraum werden ließ: tödliche Schüsse auf DemonstrantInnen, Knüppelorgien gegen friedliche Demos, Einsatz von Provokateuren, Misshandlung von festgenommenen DemonstrantInnen. Aber der Umfang und die Systematik, mit der in Genua der "Rechtsstaat" seine eigenen Normen außer Kraft setzte, haben eine neue Qualität erreicht.

Die faschistische Tradition der Carabinieri

Die in den Tageszeitungen La Repubblica und Il Manifesto abgedruckten Fotos belegen, dass die Polizei gleich in mehreren Fällen mit gezogener Schusswaffe hantierte. Das deutet auf einen entsprechenden "Wink" (wenn nicht Befehl) von oben hin. Die Erschießung Carlo Giulianis ist schon deshalb nicht der Einzelfall, bei dem ein junger Polizist in Panik zur Waffe gegriffen hat. (Hinzu kommen die Zeugenaussagen, welche eher die Mordthese stützen; vgl. nebenstehenden Artikel.)

Das polizeiliche Vorgehen insgesamt kann nur als Ergebnis eindeutiger politischer Vorgaben verstanden werden: die Nachsicht gegenüber dem Black Block, der Angriff auf friedlich Demonstrierende, die Überfälle auf die Diaz-Schule und das Pertini-Institut, schließlich die systematische Misshandlung und Demütigung der Festgenommenen. Die Aussage eines anonymen Polizei-Offiziers, abgedruckt in La Repubblica, macht deutlich, dass die römische Spezialeinheit in der Polizeikaserne von Bolzaneto mit Rückendeckung von ganz oben wütete. Als er Einspruch gegen die Brutalitäten einlegte, wurde ihm geantwortet: Keine Angst, uns und dir kann nichts passieren, alles was wir tun, wird politisch gedeckt.

Das entsprach ganz offensichtlich der Wahrheit. Nicht nur, dass Berlusconi, Innenminister Scajola (Forza Italia) und der Rest der Regierungsbande die Polizei pauschal in Schutz nahmen - Justizminister Castelli (Lega Nord), in der "chilenischen Nacht" in der Kaserne von Bolzaneto vor Ort, machte sich gar zum willfährigen Zeugen der Verteidigung: Von Misshandlungen habe er nichts bemerkt; die Gefangenen müssten sich ihre Verletzungen schon bei den Auseinandersetzungen auf der Straße zugezogen haben.

Die politische Entscheidung, in Genua "hart durchzugreifen", um den reibungslosen Ablauf des G8-Gipfels zu gewährleisten, wurde von der Polizei dankbar aufgegriffen. Es waren keineswegs nur die Spezialisten für "organisierte Kriminalität", die sich durch besondere Brutalität auszeichneten, sondern auch Beamte der Finanzpolizei (Guardia di Finanza), der Polizia und der Carabinieri - keineswegs bloße Befehlsempfänger, sondern eifrige und für ihre Taten voll verantwortliche Täter. Dass sich in der Polizei, insbesondere bei den Carabinieri und in den Geheimdiensten, neofaschistische Kader und Sympathisanten tummeln, ist kein Geheimnis. Auch in den vergleichsweise mageren "Jahren" zwischen 1946 und 1992 hatte die neofaschistische Partei MSI, die bei Wahlen kaum über fünf Prozentpunkte hinaus kam, in Polizei und Armee ihre stärksten Bastionen. In einzelnen Kasernen erzielte sie Traumergebnisse von über 90 Prozent. Die Zusammenarbeit von Staatsdienern und rechten Terroristen ist spätestens seit dem als "Staatsmassaker" in die Geschichte eingegangenen Bombenanschlag von Mailand (Dezember 1969: 16 Tote) allgemein bekannt. Hinzu kommt die Verwicklung von hohen Polizisten in klassische rechte Putschvorbereitungen. Der prominenteste Verschwörer war der Carabinieri-General Giovanni De Lorenzo, dessen Umsturzplan Piano Solo 1964 aufgedeckt wurde. De Lorenzo blieb straffrei und beendete seine Karriere als MSI-Abgeordneter. Eine Entfaschisierung der Polizei und der Geheimdienste hat es bis heute nicht gegeben, deren "demokratische Kontrolle" durch Parlament und Öffentlichkeit scheint in Italien noch weniger realisierbar als in anderen europäischen Ländern.

Nicht nur spezialisierte Elitetruppen zur "Aufstandsbekämpfung", auch maßgebliche Teile der Carabinieri sind in hohem Maße politisiert. Wenn auch nicht eindeutig "faschistisch", so doch zumindest im Sinne einer klaren Frontstellung gegen alles, was entfernt mit Aufruhr und Kommunismus zu tun haben könnte. Hinzu kommt die systematische Verhetzung durch Schauermärchen über Bewaffnung und Terror der DemonstrantInnen. Ausgerechnet Italiens prominentester politischer Gefangener, Adriano Sofri, in den 70er Jahren Führer der linksradikalen Gruppierung Lotta Continua, fühlte sich nach Genua bemüßigt, die Polizisten als "Opfer" der Politik in Schutz zu nehmen. Sie seien "brave Jungen, die aus Angst schlimmer werden als die spezialisierten Schläger". (L'Espresso, 16.8.01) Das trifft offensichtlich nicht einmal für den 20-jährigen Marco Placanica zu, der Carlo Giuliani erschossen hat; als generelle Aussage über die Aktivitäten der Polizei in Genua ist es eine krasse Verharmlosung. Denn die Polizei agierte in Genua nicht nur auf Anweisung, sondern im Einvernehmen mit "der Politik", genauer: mit namentlich bekannten Politikern.

Viel zu wenig beachtet wurde bisher, dass neben den zuständigen Ministern für Inneres und für Justiz, Scajola und Castelli, ein weiteres Regierungsmitglied die Polizei bei ihrer blutigen Arbeit "unterstützte": Der stellvertretende Ministerpräsident Gianfranco Fini, Sekretär der neofaschistischen Partei Alleanza Nazionale, hatte zusammen mit einigen Vertrauten direkt im operativen Zentrum der Polizei Quartier bezogen. Mit welchem Auftrag er dort war und was er dort tat, ist bis heute unklar geblieben. Die Vermutung liegt nahe, dass er vor Ort die Einhaltung der politischen Generallinie überwachte und der Polizeiführung etwaige noch verbliebene Skrupel ausredete. Fini war auch der Rammbock, der sich nach dem 20. Juli der internationalen Kritik entgegenstellte. Während Berlusconi Ausflüchte suchte (die überforderten Polizeiführer seien noch von der Mitte-Links-Regierung eingesetzt worden), wich Fini keinen Zentimeter zurück. Damit sei er zum "ideologischen Kopf des Regierungslagers" und zum maßgebenden "Interpreten des Law&Order-Blocks" geworden, kommentierte Edmondo Berselli in L'Espresso. Während Berlusconi vor allem den sozialen Frieden brauche, bevorzuge Fini ein Klima des Konflikts und der Rebellion, in dem er sich als hart durchgreifender Garant der inneren Sicherheit profilieren könne.

Rückkehr zur Strategie der Spannung?

Es wäre falsch, in Berlusconi Finis Marionette zu sehen. Aber nach Genua haben die Scharfmacher Oberwasser. Neben Gianfranco Fini war es vor allem Umberto Bossi, der Anführer der Lega Nord, der die von internationaler Kritik bedrängte Rechtsregierung aus der Defensive zu reden versuchte. Ohne auch nur ein einziges Indiz nennen zu können, lastete er den Bombenanschlag auf das Gericht von Venedig am 9. August Teilen der Geheimdienste an, die "mit der Linken verbündet seien". Ihr Kalkül sei es gewesen, mittels Terror Bedingungen für eine Regierung der "nationalen Solidarität" zu schaffen - eine Anspielung auf die 70er Jahre, als die kommunistische Partei, die PCI, in eine informelle große Koalition mit der Christdemokratie eingebunden wurde. Tatsächlich haben Teile der parlamentarischen Opposition sich nach der Bombe von Venedig demonstrativ auf die Regierung zubewegt - namentlich der linksdemokratische Fraktionsvorsitzende Luciano Violante, der schon direkt nach Genua mit einer Ehrenrettung für die "diffamierten" Sicherheitskräfte aufgefallen war.

Die wirkliche Opposition findet auf der Straße statt. Ihr gilt auch offenbar die Bombe von Venedig. Das Bekennerschreiben der "Nuclei territoriali antimperialisti" hält der ermittelnde Staatsanwalt Felice Casson für nicht überzeugend, zumal die rechte "Falange armata" ebenfalls die Bombe für sich reklamiert. Für andere Vertreter der Justiz scheint eine linke Urheberschaft festzustehen. Es passt doch - scheinbar - alles so schön zusammen: "Das Bekennerschreiben ist glaubwürdig, weil es sich auf die Thematik des G8-Gipfels bezieht, die das Schlachtross der neuen Subversion sein wird", erklärte der venezianische Richter Mastelloni. Es passt tatsächlich, aber augenscheinlich zu gut: Denn dass breite linke Oppositionsbewegungen alsbald von Bombenanschlägen begleitet werden, ist in Italien Teil der politischen Tradition - einer Tradition von Staatsterror und Faschismus. Seit 1969, dem "heißen Herbst" der rebellierenden ArbeiterInnen und StudentInnen, wird diese rechtsterroristische Kriegführung gegen die Linke Strategie der Spannung (strategia della tensione) genannt. Im Unterschied zu damals sitzen heute die Neofaschisten mit in der Regierung.

Js.