Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 454 / 27.9.2001

Dead or alive

Eskalationsrisiken bei der NATO-Terroristenjagd

Vor hundert Jahren wurden mit der Haager Landkriegsordnung erstmals Regeln für die Kriegsführung zwischen staatlichen Gewaltapparaten vereinbart. Die Gründung des Völkerbunds nach dem Ersten Weltkrieg und später der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg waren der Versuch, Gewalt unter internationaler Kontrolle zu zähmen. Mit dem angekündigten US-Kreuzzug gegen den weltweiten Terrorismus sind wir wieder bei der "neue Zeitrechnung" der mittelalterlichen Gutsherrengewalt angelangt. Innergesellschaftliche Freiheiten werden eingeschränkt, die bevorstehende Gewalteskalation ist kaum absehbar und mit Sicherheit weder verhältnismäßig noch zu verantworten. Aufrichtiges Mitleid mit wehrlosen Menschen wird zum Kadavergehorsam mit Gewaltapparaten missbraucht. Was bleibt übrig vom "zivilisierten Abendland" (G. Schröder), wenn es Vergeltung zum Bündnisfall erklärt?

Die Situation des amerikanischen Präsidenten ist schnell skizziert: Den Forderungen nicht nur islamischer Extremisten entgegenzukommen, also ein US-Abzug aus Saudi-Arabien, politischer Einsatz für Palästina, substanzielle Hilfen für arabische Staaten und ein Ende der Protektion von arabischen Despoten, all das widerspräche den vitalen US-Interessen in Nahost. Demokratie, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im Süden würden den Wohlstand des Nordens gefährden. Also will Bush jr. Stärke zeigen, um den status quo, die "Zivilisation" Amerikas, zu verteidigen, schließlich haben Terroristen etwa 5.000 Menschen in den USA getötet. Bush's Problem: Sobald er den ersten Militärschlag befiehlt, offenbart er die Wirkungslosigkeit seiner Bomben gegen Terroristen.

Die horrenden Gefahren, die US-Angriffe auf fremde Länder bergen, sind dem US-Generalstab bekannt. Dass damit Terroristen kaum getroffen werden, ja hydragleich an anderen Orten erwachen werden, wissen NSA und Mossad ebenso. Auch die begonnene Aufrüstung der weltweiten Geheimdienstüberwachung schafft hier mehr Widerstände als Sicherheit. Jene "Besonnenheit", die viele Medien augenblicklich an der US-Administration rühmen, ist nicht mehr als Ratlosigkeit, in deren Schatten ein altbackener Flottenaufmarsch vorbereitet wird. Die eigene Politikunfähigkeit drängt Bush, Gewalt für Stärke zu halten. Selbst wenn Osama bin Laden ausgeliefert würde, werden die USA zuschlagen. Denn auch der Mythos von Amerikas Stärke und Unverwundbarkeit trägt religionsähnliche Züge. Er wurde verletzt und soll nun gewaltsam wiederhergestellt werden. Was also steht uns bevor? Ein Szenario des Schreckens, das möglicherweise so beginnen könnte.

Es kann nur Verlierer geben

Drei amerikanische Flugzeugträgerkampfgruppen sind im Persischen Golf aufgekreuzt (Constellation, Enterprise, Carl Vinson), die Kitty Hawk ist aus dem Pazifik unterwegs, die 6. Flotte formiert sich im Mittelmeer, aus Ramstein starten Galaxy-Transporter nach Süden, in Pakistan sind Special Forces eingetroffen. Mindestens drei Länder sollen laut Pentagon in einem ersten Überraschungsschlag angegriffen werden. Neben Afghanistan, Irak und Libyen könnten dazu auch Sudan und Jemen gehören. Doch die US-Strategie massiver "Power Projection" hat drei vernichtende "Schwachstellen":

Afghanistan kann nicht mit Bodentruppen eingenommen werden. Vielmehr droht eine Ausweitung des Taliban-Regimes auf Pakistan und damit ein nuklearer Schlagabtausch mit Indien. Israel wird Hauptziel regulärer und irregulärer arabischer Vergeltungsschläge werden und damit selbst unter Einsatz seiner Atombomben nicht zu "verteidigen" sein. Sobald die ersten Marschflugkörper einschlagen, ist der Sturz des saudischen Königshauses nur noch eine Frage von Tagen. Wie 1979 im Iran verlieren die USA damit nicht nur ihren wichtigsten nahöstlichen Öl-Liefeneranten. Eine Vertreibung der US Air Force von der saudischen Prince Sultan Air Base hätte auch Konsequenzen für die amerikanischen Stützpunkte in den Emiraten und Kuwait, insbesondere für das US-Flottenkommando (NAVCENT) in Manama/Bahrain.

Der Reihe nach: Gehen wir vom "harmlosesten" Szenario gegen zunächst "nur" drei Länder aus:

1. Afghanistan: Amerikanische Marinekampfbomber F-14 und F/A-18 bombardieren Kandahar und Kabul mit luftgestützten Marschflugkörpern, unterstützt von Harriern des britischen Flugzeugträgers Invincible. US-Kommandounternehmen dringen von Pakistan nach Afghanistan vor. Die Taliban reagieren mit einer Guerillaoffensive gegen Pakistan, Freiwillige aus Tadschikistan kommen hinzu, die pakistanische Regierung stürzt, die indische Armee mobilisiert. Die USA stehen vor der Alternative abzuziehen oder 2.000 Ledernacken ihrer 24th Marine Expeditionary Unit (USS Kearsage) wie einst die "ruhmreiche Rote Armee" in Afghanistan "zu verheizen". Triumphieren werden in jedem Falle die Taliban. Der Fall der pakistanischen Regierung könnte Indien zu einem Angriff auf Kaschmir ebenso verleiten wie ein Sieg die Taliban in Islamabad. Ein nuklearer Schlagabtausch wäre die Folge. Ebenso unkalkulierbar ist die Haltung der russischen und chinesischen Nachbarn, die beide mit dem pakistanischen Militärregime sympathisieren. Bei dessen Sturz kann zumindest eine chinesische Intervention nicht ausgeschlossen werden, denn wenn die chinesische Führung eines fürchtet, dann sind es parteifremde Glaubensgemeinschaften mit einer Atombombe.

Eine Katastrophe in jedem Land

2. Irak: Vom Mittelmeer und vom persischen Golf starten seegestützte Marschflugkörper (USS Benfold, USS Thach), um den Krieg von George Bush sen. zu beenden. In einer zweiten Welle marschieren türkische Truppen in Kurdistan ein, B-52, F-15, F-16, F-117A starten aus Incirlik und Saudi Arabien, A-10 Thunderbolt aus Kuwait und verbündete Tornados schießen das Baath-Regime in die Flucht. Die Gegenwehr dürfte "lediglich" aus vereinzelten Scud-Raketen gegen Israel bestehen. Es wäre möglich, dass iranische Truppen einen Regierungssturz in Bagdad zum Einmarsch nutzen. Folge wäre ein erneuter "Bruderkrieg" zwischen Sunniten und Schiiten, wobei dem Waffenarsenal des Iran nichts entgegen stünde, als die Empörung einzelner arabischer Nachbarn. In jedem Fall hätte eine Vertreibung des Baath-Regimes hohen Symbolgehalt in der arabischen Welt und würde von Marokko bis Syrien für mobilisierenden Aufruhr sorgen.

3. Libyen: Auch hier haben die USA noch eine Rechnung offen, die ohne direkte Gefährdung Israels mit seegestützten Marschflugkörpern auf Tripoli, eventuell auch Bengasi, mit F-14 und Eloka AV-8B "chirurgisch" verfolgt werden könnte. Doch Colonel Gaddafi hat bisher noch jeden Anschlag im Wüstenzelt überlebt. Er besitzt ältliche Raketen, MiGs und Mirages, die wahrscheinlich nicht nur die 6. US-Flotte angreifen würden, sondern auch NATO-Basen auf Sizilien und Kalabrien, nicht zuletzt das NATO-Südkommando in Neapel. Die Mehrzahl solcher Angriffe könnte die NATO wahrscheinlich abwehren, doch die Unruhe in Italien und Griechenland wäre beträchtlich. Da Libyen wenig statische Ziele bietet, würden bei anhaltendem Widerstand die NATO-Angriffe massiver. Damit stiege die Wahrscheinlichkeit, dass Libyen seine Raketen mit chemischen Gefechtsköpfen ausrüsten könnte. Bei einem C-Waffenangriff etwa auf Palermo oder C-Kamikazeangriffen auf die USS America kann mit dem Abwurf einer "Smart Nuke" auf Tripoli gerechnet werden. Damit wäre nicht nur Nordafrika im Ausnahmezustand, auch in der NATO wäre der Burgfrieden vorbei, für Russland und China wäre es das letzte Signal zur Generalmobilmachung.

So viel zur ersten Stufe des "harmloseren" Drei-Ziele-Szenarios, bei dem immerhin in zwei Fällen schnell ein nuklearer Einsatz erreicht werden kann. Sollten die USA auch Sudan und Jemen mit seegestützten Marschflugkörpern angreifen, wäre keine nennenswerte militärische Gegenwehr zu erwarten. Allerdings würde der Mobilisierungsgrad in arabischen Ländern gegen Israel verstärkt, Freiwillige würden nach Ägypten bzw. Saudi-Arabien ziehen, Tankeranschläge im Roten Meer bzw. gegen US-Nachschub im Golf von Aden wären wahrscheinlich. Entscheidend ist aber spätestens die zweite Reaktionsstufe im Nahen Osten, besonders in den stark gerüsteten Ländern Saudi-Arabien, Ägypten, Syrien und Iran.

In Saudi Arabien besteht eine ungeliebte Symbiose aus Saud-Regime und US-Schutzmacht. US-Angriffe auf islamische Staaten, insbesondere wenn sie von der saudischen Prince Sultan AB ausgehen, würden umgehend zu Anschlägen gegen Regierungsstellen und US-Stützpunkte führen. Ein Volksaufstand könnte in wenigen Wochen zum Bürgerkrieg und dem Sturz des Königshauses führen. In dessen Folge verlören nicht nur die USA wichtige Stützpunkte, das moderne saudi-arabische Kriegsgerät käme auch bald gegen Israel zum Einsatz.

In Ägypten wären vereinzelte US-Kommandounternehmen gegen radikale Kräfte wahrscheinlich. US-Schläge gegen arabische "Bruderstaaten" würden das Land in eine Polarisierung stürzen, die in unkontrollierte Anschläge im Land und gegen Israel münden würde. Sollte darüber die Regierung stürzen, radikale Kräfte den Suezkanal für US-Nachschub sperren und das umfangreiche Waffenarsenal gegen Israel in Stellung bringen, wären massive US-Luftangriffe zu erwarten, auch eine israelische Atombombe auf Kairo wäre nicht auszuschließen.

Keine falsche Bewegung!

Die syrische Regierung wäre durch amerikanische Drohgebärden (Flugzeugträger) und ökonomische Verheißungen wahrscheinlich zu anfänglicher Neutralität zu gewinnen. Nicht so allerdings bewaffnete Gruppen wie Hamas und SPLA in Syrien und Libanon. Da ein US-Angriff - egal wo - sofort zu schweren Gefechten in den von Israel besetzten Gebieten führen würde, wäre deren Ausweitung auf Libanon und Jordanien nur eine Frage von Stunden. Selbst wenn die USA zum Schutze Israels im Libanon landen würden, könnte sich Syrien dem Druck der "Bruderstaaten" nicht dauerhaft verweigern. Syrische MiG-Angriffe auf Tel Aviv hätten US-Luftangriffe zur Folge. Wie gegen Ägypten würde das Ausmaß der US-Zerstörungen darüber entscheiden, ob Israel eine Atomrakete gegen Damaskus zünden würde.

Um den Iran werden die USA nach Möglichkeit einen Bogen machen, um Israel wenigstens einen starken Gegner zu ersparen. Umgekehrt setzt die iranische Regierung auf Abstandhalten nach beiden Seiten. Die Grenzen sind für Flüchtlinge geschlossen, verhaltene Sympathiebekundungen für die USA erlaubt. Doch ob sich die iranische Bevölkerung in einem panarabischen Krieg langfristig neutral verhalten wird, allenfalls die Schwäche des Irak zu einem Einmarsch nutzt, ist ungewiss.

Bleibt schließlich das Epizentrum der Gewalt: Israel. Das kleine Land befindet sich mit Zündung des ersten US-Marschflugkörpers im Vielfrontenkrieg. Angriffe aus den besetzten Gebieten, aus Libanon und Jordanien mögen anfänglich noch zu parieren sein. Allerdings dürften die Angriffe zunehmend von kleinen Kommandounternehmen und unorganisierten Freiwilligen kommen, denen militärisch kaum zu begegnen ist. Sobald jedoch Raketen und Kampfflugzeuge aus Syrien, Libanon und Jordanien, evtl. sogar Ägypten und Saudi-Arabien angreifen, wird Israel mit Nuklearwaffen drohen. Auch US-Unterstützung wird nicht verhindern können, dass israelische Stellungen von allen Seiten blutig überrannt würden. Atomraketen auf Kairo oder Damaskus würden Pogrome zur Folge haben. Ob weitere nukleare Drohungen seitens Israels und der USA einen Waffenstillstand erzwingen könnten, wäre ungewiss.

Nur so viel zu den Eskalationsrisiken der NATO-Terroristenjagd. Vor diesem Hintergrund ist es müßig zu spekulieren, wann die ersten Bomben in London, Rom oder Berlin gezündet werden, wann Giftgasanschläge in den USA oder anderswo folgen, wann die Türkei die Fronten wechselt oder die NATO auseinanderfliegt. Wer all dies für übertriebenen Alarmismus hält, soll gerne widersprechen. Wer weiterhin einen US-Vergeltungsschlag für notwendig hält, muss allerdings den Unsinn jedes der skizzierten Szenarien begründen, denn bereits eine falsche Bewegung genügt für eine Katastrophe.

Stefan Gose, 19.9.2001

Redakteur der Zeitschrift ami

www.antimilitarismus-information.de