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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 454 / 27.9.2001

Reflexionen einer Reise ans Ende der Welt

Referendum über die Zukunft der Westsahara weiter ausgesetzt

Die Geschichte der "Demokratische Arabische Republik Sahara" begann im Jahr 1976, als marokkanische Truppen den größten Teil der ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara besetzten und ihre BewohnerInnen, die Sahrauis, durch einen mörderischen Bombenkrieg in die menschenleere Ödnis der Hammada vertrieben. 170.000 Sahrauis leben seit ihrer Flucht in den vier Zeltstädten, die jetzt die Wilayas (Provinzen) der Flüchtlingsrepublik bilden.

I.

Im Juni diesen Jahres landet auf dem Militärflughafen Tindouf mitten in der Wüste Hammada (die Unfruchtbare) ein Charterflugzeug der Air Algerie. Die hundertdreißig Passagiere folgen einer Einladung der Hilfsorganisation medico international. Ziel der Reise ist weder die Hammada noch die triste algerische Garnisonsstadt, in der sich mehrere Karawanenwege kreuzen. Ziel ist vielmehr das von der Geröllwüste umschlossene, weltweit einzigartige Staatsgebilde, das den Namen "Demokratische Arabische Republik Sahara" (DARS) trägt und in diesem Jahr das fünfundzwanzigste Jubiläum seiner Gründung feiert.

Von Tindouf aus führt eine an ihren Rändern schon wieder zerbröselnde Asphaltstraße rund zwanzig Kilometer weiter nach Rabouni, dem Regierungssitz der DARS, einer ärmlichen Ansammlung von Gebäuden unweit eines Wasserturms. Unterwegs passieren wir in einem verbeulten Bus italienischer Herkunft eine schlagbaumbewehrte Grenzstation, die das algerische Territorium von dem der DARS trennt. Die Souveränität der DARS über das von ihren BürgerInnen gegenwärtig bewohnte Land wird durch die Gastfreundschaft Algeriens gewährt und ist nur provisorisch. Tatsächlich besteht die Einzigartigkeit dieses Staates darin, mit all seinen Institutionen und samt seiner BürgerInnen eine Republik im Exil zu bilden, eine Republik, die im strengen Sinn des Wortes über gar kein Staatsgebiet verfügt.

Die Geschichte der DARS begann im Jahr 1976, als marokkanische Truppen den größten Teil der ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara besetzten und ihre BewohnerInnen, die Sahrauis, durch einen mörderischen Bombenkrieg in die menschenleere Ödnis der Hammada vertrieben. 25.000 Menschen sollen den Napalm- und Splitterbomben und den Terroraktionen der marokkanischen Bodentruppen zum Opfer gefallen sein, die auch die Viehherden abschlachteten und die Brunnen der Siedlungen vergifteten. 170.000 Sahrauis leben seit ihrer Flucht in den vier Zeltstädten, die jetzt die Wilayas (Provinzen) der Flüchtlingsrepublik bilden. Noch einmal so viele Sahrauis sind im marokkanisch besetzten Teil der Westsahara zurückgeblieben, wo sie unter apartheidähnlichen Bedingungen zu leben gezwungen sind.

II.

Die jeweils von etwa 40.000 Menschen bewohnten Wilayas - Smara, El Ayoun, Aussert und Dakhla - sind nach Ortschaften in der Westsahara benannt und jede für sich noch einmal in vier Dairas (Gemeinden) unterteilt. Von Ziegengehegen aus rostigem Draht umstellt, tauchen sie wie eine Fata Morgana in der flimmernden Hitze auf, unter der es im Sommer tagsüber mehr als fünfzig Grad heiß wird, während nachts die Temperaturen um über dreißig Grad fallen können. Das Auge sieht ansonsten über Kilometer hinweg nichts als Sand und Geröll. Die Hammada kennt von vereinzelten Distelgewächsen abgesehen kaum Vegetation, sie war zuvor nie von Menschen und nur von wenigen Tieren bewohnt. Selbst Kamele, die in anderen Wüsten wild leben, können hier nur innerhalb der Lager überleben.

Zu Beginn ihres Exils hausten die Sahrauis in notdürftigen Zelten aus Stofffetzen und dünnen Decken. Die Zelte, in denen sie heute leben, sind von besserer Qualität und eigens auf ihre Lebensbedingungen zugeschnitten, viele Familien verfügen zudem über ein oder zwei kleine Lehmziegelhäuser. Die meisten Zelte sind in einfachster Weise mit Strom versorgt, abends dringt der bläuliche Schimmer von Fernsehgeräten ins Freie. Zwischen den Anwesen führen Sandpisten hindurch, an einzelnen Kreuzungen sind Wassertanks aufgestellt. In einzelnen Höfen stehen uralte, klapprige Fahrzeuge, ein alter Renault, ein VW-Bus, in deren Schatten magere Ziegen lagern.

Die vier Zeltstädte gelten als die am besten organisierten Flüchtlingslager der Welt, ausgestattet mit einem eigenem Schul- und Gesundheitssystem, für das eine im Ansatz basisdemokratisch organisierte Selbstverwaltung aufkommt. An deren Spitze stehen diverse Ministerien und eine Präsidentschaft, die von der sahrauischen Befreiungsbewegung Frente Polisario gestellt und einem frei gewählten Nationalkongress kontrolliert wird. In ihrer Verfassung anerkennt die DARS die allgemeinen Menschenrechte und die bürgerlichen Grundrechte; deren Einhaltung soll wie in anderen bürgerlichen Staaten auch durch eine Teilung der Gewalten garantiert werden.

Es ist klar, dass der politisch beanspruchten partizipativen Demokratie sowohl von der Exilsituation wie vom fortdauernden Kriegszustand Grenzen gesetzt sind, die nur bedingt vom Willen der Sahrauis abhängen. Das liegt vor allem an ihrer vollständigen Angewiesenheit auf ausländische Hilfe. Nichts kann hier aus eigener Kraft produziert, alles muss von außen herangeschafft werden: Lebensmittel, Medikamente, Kleidung, Baustoffe, Werkzeuge, Maschinen und Wissen. Von Anfang an haben die Sahrauis vor allem auf Letzteres gesetzt. Deshalb stand neben der Gesundheitsversorgung der Auf- und Ausbau des Schulwesens im Mittelpunkt ihrer Anstrengungen. Betrug die Analphabetenrate unter der bis 1975 andauernden spanischen Kolonialherrschaft 90%, können heute nahezu alle Sahrauis Lesen und Schreiben, die meisten sprechen eine oder gar zwei Fremdsprachen. Viele der Kinder und Jugendlichen durchlaufen einen Bildungsweg, der sie von den Schulen in den Lagern über Internate in Algerien auf spanische und kubanische Universitäten führt, von wo aus sie als Mediziner, Agraringenieure, Radiotechniker und was immer auch zurückkehren, um wie alle anderen im öffentlichen System der gesellschaftlichen Arbeit tätig zu werden. Diese Arbeit wird entsprechend der gegebenen Nöte, Bedürfnisse und Möglichkeiten von funktional differenzierten "Komitees" organisiert, die sich auf der Daira-, der Wilaya- und schließlich der nationalen Ebene über einen Stufenbau gewählter Räte koordinieren.

Während einerseits niemand für seine Arbeit entlohnt wird, übernehmen DARS und Polisario umgekehrt die Versorgung eines und einer jeden mit den notwendigen Mitteln des Überlebens. Den allergrößten Teil der dabei umgeschlagenen Güter liefern Hilfsorganisationen wie medico international; finanziert wird die humanitäre Hilfe vom Welternährungsprogramm, von der Europäischen Union und aus Spendenmitteln. Nirgendwo trifft die auswärtige Hilfe unmittelbar auf ihre direkten Empfänger, alle Hilfsgüter werden in zentralen Magazinen eingelagert und von sahrauischen Stellen verteilt. Vor allem die Versorgung mit Nahrungsmitteln, aber auch die mit Medikamenten ist stets zu knapp bemessen und unterliegt strengster Rationierung, bei den regelmäßigen Verzögerungen im Nachschub droht stets Hunger. Alle Sahrauis leiden an Erkrankungen, die von Mangelernährung verursacht sind.

Neben dem geldfreien öffentlichen Sektor hat sich in den letzten Jahren ein privater Sektor des Kleinhandels etabliert, der aus einmaligen spanischen Pensionszahlungen an Sahrauis, die früher für die Kolonialverwaltung tätig waren, und aus Mitteln der individuellen Arbeitsmigration finanziert wird. Mit dem privaten Sektor begann eine begrenzte ökonomische Differenzierung, die durch eine funktionale Differenzierung je nach dem im Staat beziehungsweise in der Polisario eingenommenen Rang verstärkt wird. Obwohl die 1973 von linken StudentInnen gegründete und ideologisch an den Ideen Frantz Fanons und Amilcar Cabrals ausgerichtete Frente Polisario mit einem anti-tribalistischen Programm angetreten ist und den Bildungsprozess einer sahrauischen Nation gegen tradierte clangesellschaftliche Strukturen gerichtet hatte, sollen sich diese Strukturen in ihren inneren Machtverhältnissen reproduziert haben.

III.

Am Regierungssitz Rabouni vorbei schaukelt uns der Bus bis nach Smara, wo wir jeweils zu fünft auf Gastfamilien verteilt werden. In etwas größeren Gruppen bereisen wir in den folgenden Tagen alle vier Wilayas und den Teil der Westsahara, den das Militär der Polisario kontrolliert. In allen Begegnungen mit Sahrauis fällt auf, in welchem Maß das soziale, ökonomische und politische Leben von den Frauen bestimmt wird. Während die Männer die militärischen Stellungen an der Front halten, organisieren sie den Alltag in den Lagern. Das gilt nicht nur für den einzelnen Haushalt, sondern auch und gerade für das öffentliche Leben: Frauen wirken in allen Institutionen mit, arbeiten in den Schulen, den Gesundheitszentren, den wenigen Werkstätten, den kleinen Gemeindegärten, in denen mühselig Gemüse gezogen wird, das den Alten und den Kindern zukommt. Aus dieser Arbeitsteilung resultiert ein Geschlechterverhältnis, das nicht nur im arabischen Raum außergewöhnlich ist: Männer und Frauen streiten in aller Öffentlichkeit gleichberechtigt um die "Dinge des Lebens" nicht weniger als um die die Angelegenheiten der Republik. In der inneren Organisation der DARS wie der Polisario hat sich das begrenzt auch institutionell niedergeschlagen; den gleichwohl weiter notwendigen Kampf um Emanzipation führen die Frauen in einer eigenständigen Organisation, die sich aus den "Frauenkomitees" der Dairas und Wilayas aufbaut. Von zentraler Bedeutung ist dabei die sogenannte "Frauenschule", eine aus mehreren öffentlichen Gebäuden und einer Zeltsiedlung bestehende Institution, die eigentlich ein fünftes Lager bildet. Hier befindet sich neben einigen Schulen eine große Werkstatt, in der Frauen andere Frauen in handwerklichen Tätigkeiten ausbilden. Hier besuchen wir auch ein spärlich ausgestattetes "Nationalmuseum", in dem nebst traditionellem Arbeitsgerät eine Chronologie des sahrauischen Befreiungskampfs präsentiert wird.

Was zum Geschlechterverhältnis zu sagen ist, gilt ähnlich auch für das Verhältnis der Generationen. Nicht, dass hier wie dort von einer schon erreichten Überwindung patriarchaler Verhältnisse gesprochen werden könnte; nachhaltig aber beeindruckt eine offenbar tief eingeübte und deshalb unbestrittene Kultur des freien Worts, die jeder und jedem Rederecht gewährt und gerade in der Begegnung mit Fremden zum Ausdruck kommt. Dem entspricht das für eine Guerilla im Befreiungskampf auffällig unmartialische Auftreten sowohl des Militärs wie der politisch-militärischen Führung. Dass die Polisario in den Dairas und Wilayas breit verankert ist, steht außerhalb jeden Zweifels. Tatsächlich waren gerade die etwa dreißig Zeitungs-, Radio- und TV-JournalistInnen, die der Reisegruppe angehörten, äußerst hellhörig für etwaige Widersprüche zwischen der Befreiungsbewegung und "ihren" Leuten. Doch sofern oppositionelle Äußerungen überhaupt vernehmbar waren, bezogen die sich auf eine zu große Verhandlungsbereitschaft der Regierung gegenüber den Marokkanern: Ginge es vor allem nach vielen jüngeren Leuten, dann sollte die Polisario eher heute als morgen erneut zu den Waffen greifen.

IV.

Tatsächlich hat die Polisario ihren Kampf jahrelang auch mit Waffengewalt geführt. Unter Vermittlung der UNO haben Polisario und marokkanisches Regime 1991 ein Friedensabkommen geschlossen, das den völkerrechtlichen Bestimmungen zur Dekolonisierung entspricht und die Abhaltung eines von der UNO überwachten Referendums vorsieht, in dem die Sahrauis frei über ihre Zukunft befinden sollen. Durch die diplomatische Anerkennung der DARS bestätigen mehr als siebzig Staaten vornehmlich der südlichen Kontinente ihre ausdrückliche Unterstützung des Friedensplans. Doch seit nunmehr zehn Jahren blockiert Marokko die Durchführung des Referendums, offen von Frankreich und den USA unterstützt und mit stillschweigender Duldung durch die anderen europäischen Staaten. Dabei ist es dem Regime in Rabat und seinen Verbündeten gelungen, fünf Referendumstermine platzen zu lassen. Ihre Motivation liegt auf der Hand: Das marokkanische Regime war über Jahrzehnte der verlässlichste Bündnispartner des Westens in Nordafrika, es spielt heute eine zentrale Rolle in der Abwehr der afrikanischen Migrationsbewegung und, nicht zuletzt, die marokkanische Besatzung garantiert westlichem Kapital den freien Zugriff auf die reichen Bodenschätze der Westsahara und die Fischgründe vor der Küste. Offizieller Stein des Anstoßes ist marokkanischerseits die Frage, wer am Referendum teilnehmen darf. Die Polisario beschränkt die Zahl der Wahlberechtigten auf diejenigen, die in einer von der UNO überwachten Ermittlung als "Sahrauis" identifiziert wurden, Marokko möchte möglichst alle 300.000 MarokkanerInnen, die in der Westsahara (zwangs-)angesiedelt wurden, an der Wahl teilnehmen lassen. Für die Polisario ist diese Lösung inakzeptabel, weil sie just die Bedingungen sanktioniert, die mit der marokkanischen Kolonialherrschaft und ihrer Vertreibung in die Hammada erst geschaffen wurden. Die sahrauische Position war bis vor kurzem auch die offizielle Position der UNO, sie ist Grundlage der letzten, in Houston ausgehandelten Fassung des Friedensplans. In den vergangenen Monaten aber mehrten sich die Zeichen, dass die UNO unter vereintem Druck aus Rabat, Paris und Washington von ihrer eigenen, völkerrechtlich bindenden Position abrücken wird.

Diese mehr als prekäre Situation war der unmittelbare Anlass für den Flug nach Tindouf, mit dem die Polisario und medico international MitstreiterInnen gewinnen wollten, die den Sahrauis nach der Rückkehr in Deutschland Öffentlichkeit schaffen würden. Wie notwendig das war, erfuhren wir unmittelbar nach der Rückkehr. Zwischenzeitlich hat die UNO einen Plan ihres Sonderbotschafters Baker akzeptiert, der vorgeblich einen "Dritten Weg" eröffnen soll, den Sahrauis in Wirklichkeit aber die marokkanische Position aufzwingt. Im Austausch gegen eine kümmerliche "Autonomie" in kulturellen Fragen und in Angelegenheiten lokaler Verwaltung soll das Referendum um fünf Jahre verschoben werden. Nach dieser Frist sollen dann alle, die zu dieser Zeit seit wenigstens einem Jahr in der Westsahara leben, über die politische Zukunft des Landes entscheiden dürfen: gleichgültig, ob jemand (zwangs-)angesiedelte MarokkanerIn oder aus dem Exil zurückgekehrter Sahraui ist. Das aber heißt: die Entscheidung über die Zukunft der Westsahara wird de facto von den MarokkanerInnen getroffen werden, die Sahrauis sollen das abgekartete Spiel durch Abgabe eines Minderheitsvotums legitimieren.

Die Polisario hat diesen "Dritten Weg" zuletzt am 16. September ausdrücklich verworfen und erneut erklärt, dass sich ihr Mandat allein darauf bezieht, mit allen Mitteln den Weg zum Referendum zu öffnen: Die letzte Entscheidung kann dann nur von den Sahrauis selbst getroffen werden. Während Marokko triumphiert, haben sich viele südliche Länder - voran Algerien - an die Seite der Polisario gestellt. Die USA und Frankreich wirken hinter den Kulissen zu Gunsten Marokkos, die anderen EU-Staaten verweisen auf ihre "Neutralität". Die UNO wiederum hat den Baker-Plan mittlerweile zur bloßen Verhandlungsgrundlage relativiert. Gleichzeitig bleibt das Welternährungsprogramm weit hinter seinen Verpflichtungen zurück und übt dergestalt - willentlich oder nicht - massiven Druck auf die Sahrauis aus, deren Position durch die leeren Lebensmittel- und Medikamentenmagazine weiter geschwächt wird.

V.

In dieser von offenem Zynismus bestimmten Lage sollte sich eine solidarische Unterstützung der Sahrauis eigentlich von selbst verstehen. Tatsächlich haben viele der Mitreisenden nach der Rückkehr mehr unternommen, als die Polisario und medico international sich erhofft hatten. TV- und Radiosendungen haben über die Lage der Sahrauis berichtet, in überregionalen und lokalen Zeitungen sind eine Vielzahl von Artikeln erschienen, öffentliche Solidaritätsveranstaltungen wurden organisiert, die PDS-Bundestagsfraktion hat sich eingeschaltet, ein Protestbrief an das Auswärtige Amt ist verfasst worden. Dennoch sind auch aus unserem Kreis Zweifel an einer uneingeschränkten Solidarität angemeldet worden. Weil sie meines Erachtens von exemplarischer Bedeutung auch jenseits des Sahara-Konflikts sind, möchte ich meinen Bericht mit einem Kommentar dieser Zweifel abschließen.

In jungle World 32/01 hat Christian Y. Schmidt seinen Reisebericht publiziert und dabei ausführlich dargelegt, warum es "schwer fällt, im von der Weltöffentlichkeit vergessenen Westsahara-Konflikt nicht für die Befreiungsfront Polisario Partei zu ergreifen." Was Christian dazu anführt, deckt sich weithin mit meinen Beschreibungen. Im Resultat aber distanziert er sich von der zuvor in ihrer Plausibilität begründeten Parteinahme. Die Distanzierung begründet sich in der Qualifizierung der Polisario als einer "nationalistischen Befreiungsbewegung" mit einem wenigstens teilweise "völkischem" Programm. Spätestens nach den "völkischen Exzessen auf dem Balkan" aber komme Solidarität mit solchen Bewegungen "nicht mehr in Frage". Im Kern entspricht dies der antinationalen Kritik an der klassischen Solidaritätsbewegung, wiederum "im Kern" kann ich dieser Kritik nur beistimmen. Die Tücke aber steckt wie immer im Detail. Um mit dem weniger wichtigen Problem zu beginnen: Zunächst einmal ist der Sahara-Konflikt kein Sezessions-, sondern ein Dekolonisierungskonflikt und insofern nicht den jugoslawischen, sondern den Auseinandersetzungen um Ost-Timor zu vergleichen. Ein Verzicht der Sahrauis auf ihr Selbstbestimmungsrecht käme einer weiteren Modifikation geltenden Völkerrechts und realpolitisch der Hinnahme der kolonialen Aggression Marokkos und des fortdauernden marokkanischen Terrors gleich. Zweitens aber ist die Polisario zwar eine befreiungsnationalistische, doch keine "völkische" Organisation. Der historische Prozess der Nationenbildung - und auch die Sahraui-"Nation" ist natürlich eine soziale, d.h. eine ideologische Konstruktion - ist nicht überall derselbe. Bei den Sahrauis resultiert er aus der Zerstörung ihrer niemals völkisch definierten nomadischen Lebens- und Produktionsweise durch den spanischen und marokkanischen Kolonialismus. Konsequenterweise war und ist der sahrauische Befreiungsnationalismus direkt auf die Verteidigung, Bewahrung und Transformation (!) ihrer spezifischen Lebens- und Produktionsweise gerichtet, mithin ein originär soziales und eben kein "ethnisches" Projekt: Die Sahrauis kämpfen um ihre Form partizipatorischer Demokratie, ihre (clan-)genossenschaftliche Ökonomie, ihr vergleichsweise egalitäres Geschlechterverhältnis, ihren nach unseren Begriffen "protestantischen", d.h. hochgradig individuierten und in moralischer Hinsicht toleranten Islam, und sie kämpfen dabei nicht nur gegen den klerikalfeudalistischen marokkanischen Staat, sondern auch und gerade gegen die zutiefst "königstreue" marokkanische Gesellschaft und deren Lebens- und Produktionsweise. Man kann nun einmal nicht davon absehen, dass die koloniale Doktrin eines "Groß-Marokko" selbst von den linken Fraktionen der unterdrückten marokkanischen Opposition geteilt wird. Daraus folgt zweierlei. Erstens ist eine Lösung des Sahara-Konflikts im marokkanischen Staat undenkbar: Den Sahrauis ist ganz realpolitisch weder die Unterwerfung unter diesen Staat, noch ein von diesem Staat dominiertes Zusammenleben mit dieser marokkanischen Gesellschaft zuzumuten. Zweitens ist umgekehrt der sahrauische Staat nicht einfach ein bürgerlicher Nationalstaat mehr, - und wer wollte, da hat Christian ganz recht, nach Bosnien und dem Kosovo deren Neubildung unterstützen -, sondern die unter den konkret gegebenen Bedingungen singuläre politische Form, unter der allein die Sahrauis ihre Lebens- und Produktionsweise verteidigen und selbstbestimmt verändern können. Wo sie alle Nationalstaaten politisch untereinander gleichmacht, fällt die antinationale Staatskritik notwendig abstrakt aus und droht ungewollt in Zynismus, mindestens aber in Metropolenliberalismus umzuschlagen.

Bleibt allerdings der konkrete Einwand Christians, dass die Sahrauis im Fall einer Rückkehr in eine unabhängige Westsahara den dort lebenden ca. 300.000 MarokkanerInnen zwar kulturelle und religiöse Autonomie, Aufenthaltsrecht und Unantastbarkeit des Privateigentums, nicht aber das volle BürgerInnenrecht garantieren wollen. Ich muss zugeben, dass auch ich mich hier äußerst unwohl fühle und meine Solidarität deshalb auch nicht als uneingeschränkte verstehe. Die Forderung auf ein universelles BürgerInnenrecht, auf das Recht einer jeden und eines jeden auf gleiche Rechte an jedem Ort, richtet sich deshalb auch an den sahrauischen Staat. Der hier sich abzeichnende Konflikt aber wird zu seiner Zeit und an seinem Ort geführt und kann nicht vorweg zum Argument werden, den Sahrauis die Unterwerfung unter das marokkanische Regime zu empfehlen. Auch bleibt im Konkreten zweierlei zu relativieren: Eine bedeutende Zahl der MarokkanerInnen in der massiv militarisierten Westsahara sind Angehörige von Geheimpolizei, Polizei und Armee, sie waren und sind unmittelbar an den Repressionen beteiligt, die den Sahrauis zugefügt wurden und immer noch zugefügt werden. Eine mehr oder minder freiwillige "Repatriierung" marokkanischer Polizei- und Armeeverbände hat nichts mit einem "völkischen" Wahn der Polisario zu tun und wird mich jedenfalls nur bedingt mit Trauer erfüllen. Darüber hinaus wollen tatsächlich nicht wenige der zwangsangesiedelten MarokkanerInnen an den Ort zurückkehren, von dem sie vertrieben wurden: Auch dies ist ein Moment des marokkanischen Kolonialismus und nicht Folge des Widerstands der Polisario.

Die von Christian zu Recht benannte Prekarität der sahrauischen Position ist damit nicht ausgeräumt - scheint mir aber der unvermeidlichen Prekarität des Politischen selbst anzugehören, die in antinationaler Perspektive bisweilen unterbelichtet wird: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden" (Marx). Die Prekarität des Politischen, die die Sahrauis zum Ausgangspunkt ihres Handelns nehmen, resultiert aus der mörderischen Feindschaft, mit der der marokkanische Staat, die marokkanische Gesellschaft und deren Verbündete ihnen gegenüberstehen. Wer sie in dieser Lage zum Verzicht auf ihr Selbstbestimmungsrecht auffordert - das nach Lage der Dinge nur über ihren Anspruch auf nationalstaatliche Unabhängigkeit artikuliert werden kann - fordert sie, wiederum nach Lage der Dinge, zur Unterwerfung auf.

Thomas Seibert,

medico international