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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 454 / 27.9.2001

",Pearl Harbour` dient dazu, das Kriegsfieber hochzutreiben."

Interview mit der US-Aktivistin Leslie Cagan zur Lage in den USA

Leslie Cagan ist Mitglied des Koordinierungsrats der linken "Committees of Correspondence", einer Abspaltung der US-KP. Sie war eine der Hauptorganisatorinnen gegen den Vietnam-Krieg und nationale Koordinatorin des Bündnisses gegen den Krieg am Persischen Golf 1990/91. Sie ist in der linken Lesben- und Gewerkschaftsbewegung aktiv.

ak: "Krieg", "Rache" und "Vergeltung" tönt es in den gesamten USA seit den verheerenden Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon rund um die Uhr. Wo ordnen Sie diese Rhetorik auf einer Skala ein, wenn diese bei Säbelrasseln anfängt und bei Massenmord aufhört?

Leslie Cagan: Es war anfangs nicht 100-prozentig zu sagen, wie die Gehirne der Herren im Pentagon und im Weißen Haus funktionieren. Die militante Rhetorik sollte Menschen und Regierungen zunächst einschüchtern, um sie zur Unterstützung der Marschrichtung zu veranlassen, die die USA vorgeben. Es geht um reale Vorbereitungen für einen Krieg, wie Bush in seiner Rede vor dem Kongress eindeutig gesagt hat. Der Begriff "Krieg" trifft dabei die Sache nicht ganz. "Massive militärische Angriffe" wäre genauer. Denn "Krieg" impliziert eine Abfolge von Angriff, Gegenangriff, erneutem Angriff und so weiter, eine Schlacht also. Es wird sich aber eher um einen einseitigen Angriff durch das US-Militär, unter Beteiligung der NATO-Staaten und wahrscheinlich auch anderer Länder, handeln. Die Herren bereiten die Welt darauf vor, die riesigen militärischen Kapazitäten, die sie über die Jahre angesammelt haben, auch massiv einzusetzen, was fast zwangsläufig Massenmord bedeutet.

Denken Sie, die Angriffe werden ein Ausmaß wie beim Golfkrieg gegen den Irak vor über zehn Jahren annehmen?

Ich gehe davon aus, dass sie sehr viel größer werden. Die Kriegskoalition wird umfassender sein, Afghanistan ist Hauptangriffsziel. Außenminister Colin Powell, Vizepräsident Dick Cheney und eine Reihe weiterer entscheidender Figuren aus der herrschenden Polit-Elite zogen tagelang durch die Talk-Shows, und den Interviews zufolge war schon vor der Bush-Rede klar, dass nicht nur Afghanistan gemeint ist. Bluternst zu nehmen ist auch die Ankündigung, alle diejenigen Länder anzugreifen, die den mutmaßlichen Hintermännern der Angriffe sowie jeglichem "internationalen Terrorismus" Schutz gewähren. Dieser ominöse "Krieg zur Ausrottung der Terroristen" soll Jahre dauern, das wird offen ausgesprochen.

Immer wieder wird von Regierung und Medien die Analogie mit Pearl Harbour von 1941 bemüht. Welche Bedeutung haben die Terroranschläge vom Dienstag tatsächlich psychologisch und für die politische Kultur in den USA?

Die Analogie mit Pearl Harbour ist hoch interessant. Viele Japaner sind bestürzt darüber. Denn der japanische Angriff auf Pearl Harbour war ein Angriff auf eine amerikanische Militäreinrichtung, und die New Yorker Twin Towers sind das ja nicht. Aber die Analogie wird in den USA immer wieder bemüht, da es seit dem Bürgerkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich keinen militärischen Angriff auf US-Eigentum auf US-Territorium gegeben hatte. Zum Verständnis der politischen Psychologie hier zu Lande ist es wichtig zu wissen, dass es direkte Erfahrungen oder Erzählungen von Eltern und Großeltern von Kriegsschäden, Flucht, Niederlage im eigenen Land als nationale Geschichtsschreibung und kollektives Gedächtnis nicht gibt. Amerikaner fühlen sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte in ihrem eigenen Land physisch verletzlich, was als nationale Krise empfunden wird.

"Pearl Harbour" dient dazu, das Kriegsfieber nach oben zu treiben zu Gunsten des Blankoschecks, den die Bush-Regierung zum "Kampf der Guten gegen die Bösen" einlösen will. "Pearl Harbour" war schließlich das Ereignis, das direkt zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg führte.

Wie schätzen Sie die Reaktionen von liberal und links denkenden Amerikanern ein, sowohl was die Terroranschläge als auch das Kriegsgeschrei angeht ?

Ich habe kein Gespräch und keine Diskussion erlebt und auch keinen Artikel in der linken Presse gelesen, aus dem nicht das völlige Entsetzen über die Anschläge gesprochen hätte. Es geht ja nicht nur um die vielen Tausend Toten, sondern auch um die vielen lebenden Menschen, die davon materiell betroffen sind. 5.000 Tote - das heißt auch Hunderttausende von Angehörigen, Kollegen, Freunden und Bekannten, die trauern und dafür eine Erklärung haben wollen. Allein in New York sind auf einen Schlag 150.000 Arbeitsplätze verloren gegangen, nicht zu sprechen von der unglaublichen Zerstörung. Die Linke trauert nicht weniger als die Rechte.

Was "Vergeltung" und "Krieg" angeht, sind die progressiven, linken Amerikaner allerdings ziemlich einhellig dagegen. Schockiert sind wir darüber, dass der US-Kongress bis auf eine einzige Stimme dem Präsidenten einen Blankoscheck für Krieg ausgestellt hat.

Gibt es erste Anzeichen für eine Antikriegsbewegung in den USA?

Angesichts der lauten Kriegstrommeln sind wir erst in der Anfangsphase von Diskussionen. Zunächst geht es darum, die progressiven, die auf sozialen Wandel orientierten und die linken Kräfte zusammenzubringen, die gegen Krieg und Militarisierung sind. Wir müssen gemeinsam eine Strategie entwickeln, wie wir die Menschen erreichen und ihnen eine Alternative zur Marschrichtung des Weißen Hauses bieten können.

Ein Beispiel: In New York hatten wir bisher zwei Koordinierungstreffen von Organisationsvertretern - am ersten nahmen 200 Leute teil, am zweiten 500. Der Konsens lautet "Gerechtigkeit, nicht Rache". Auf nationaler Ebene finden Mobilisierungen statt, die an die erste Phase der "No-blood-for-Oil"-Bewegung gegen den Golfkrieg heranreichen. Das ist angesichts der kurzen Zeit, die erst verstrichen ist, sehr überraschend - die Teach-Ins an Universitäten und Colleges werden inzwischen von Tausenden besucht. An 105 Colleges in 30 US-Staaten hat es inzwischen Friedensdemonstrationen gegeben. Der nationale Kirchenrat mit seinen 1.200 Mitgliedern hat sich inzwischen gegen die militärische Intervention gestellt. Die Bewegung könnte größer werden als die vor zehn Jahren.

Das Interview führte Max Böhnel, New York