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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 454 / 27.9.2001

Zivilisierte dieser Erde wachen auf

Was Feuilletons und Kommentare nach dem 11. September umtreibt

Am 13. 9. schrieb Theo Sommer in der Zeit: "Selbst im besten Fall markiert dieser 11. September eine weltpolitische Zensur." Die verpasste Korrektur, die statt der Zäsur die Zensur stehen ließ, könnte man auch als freudschen Fehler lesen. Dann hätte man einen guten Aufhänger, um zum Beispiel zu erklären, dass seit dem 11. September alle Medien gleichgeschaltet sind und die Wahrheit verboten ist. Nur stimmt das gar nicht.

Denn es können ja alle Meinungen geäußert werden. Und sie werden auch geäußert. Titelseitentexte und Feuilletonbeiträge geraten bisweilen in sogar regelrechte Widersprüche zueinander. Dass heißt aber nicht, dass es gar keine Selektion von Aussagen gibt. Denn in der Masse der Wörter tauchen einige Bilder sehr regelmäßig auf und gruppieren sich ebenso regelmäßig mit anderen Bildern; und wie das mit Bildern so ist, fotografierten oder beschriebenen, sie produzieren Gefühle und geben diesen Gefühlen eine Form. Eine Zensur arbeitet mit Verboten, hier arbeitet man mit Produkten; Gefühlsprodukten eben, die man sich, kaum hat man sie gesehen, gehört oder gelesen, irgendwie einverleiben muss, bis man selber eines Tages, wenn man nicht aufpasst, ein einziges Gefühlsprodukt ist. Was ein bisschen ähnlich wie Zensur ist, bloß dass Zensur den Text und das Gefühlsprodukt die Lesenden kontrolliert.

Jedenfalls sprach Schily kürzlich bei Christiansen sinngemäß vom Feldzug auf drei Ebenen, der jetzt ins Haus steht, wobei die dritte Ebene bestimmt die wichtigste ist, zumindest war sein Gesicht bei diesem Teil am feldherrlichsten: die geistig-moralische. So ein geistig-moralischer Feldzug ist eine Art Beglückungsprogramm für die arabische Welt, zumindest, wenn man nochmal auf Theo Sommer hört, der weiß: "Dass jedermann nach seiner Fasson selig werden möge, dieses Prinzip ist den Taliban, den bin Ladens, den Hizbullahi, den Hamas-Selbstmördern so fremd, wie es uns bis zum Dreißigjährigen Krieg gewesen ist." (Die Zeit, 13.9.) Und damit all diese Seligen (also wir alle seit 1648) gut gerüstet in den Feldzug ziehen, dafür braucht es eben diese ganz verschiedenen Gefühlsprodukte.

Die natürlich bei aller Verschiedenheit auch was Gemeinsames haben. Man kann sich sogar zu der etwas albernen Bemerkung versteigen, ihr Gemeinsames ist das Gemeinsame. Ja, weil es nämlich verschiedene Sorten von Gemeinsamen und von Gemeinsamkeiten sind, die alle gemeinsam haben, dass sie etwas gemeinsam haben, und das hat letztlich was mit wirklich emotionalen Angelegenheiten zu tun.

Da gibt es zunächst die Gemeinsamkeit der Opfer. Das sind die Leute, die im World Trade Center waren, und wir alle und unsere Kinder. Was die gemeinsam haben, ist das Trauma. Wer das anmaßend findet, der ist dann bestimmt "ein Gefangener von Ideologien". Wie die "tanzende Palästinenserfrau" die "so gespenstisch" war, weil bei ihr das "Mitgefühl so abwesend war". (taz 19.9.) Wie auch immer: Für die im World Trade Center kommt das jetzt zwar zu spät, aber unseren Kindern sollte man zeigen, dass man zu seinen Gefühlen stehen muss. Nein, das heißt nicht, dass man nicht Kindergeburtstag feiern darf. Man soll nur den Kindern gegenüber die eigene Betroffenheit nicht verbergen. Dann kann da was richtig Heilsames entstehen, eine schöne, gemeinsame Familientragödie; vorm Fernseher, oder, am besten, vorm Konsulat. Da freut sich auch das Fernsehen, das vorbeikommt und eins von diesen gemeinsam-tragischen Familienmitgliedern fragt, was es empfindet, wenn es dann so gänzlich authentisch rüberkommt: "Ich bin unfassbar!"

Aber was ist das eigentlich, ein Trauma? Im Lexikon steht, beim Trauma handelt es sich um eine plötzliche seelische Belastung, die unterschwellig derart auf ein Individuum einwirken kann, dass sie von ihm nicht bewältigt werden kann. Wenn das Individuum versagt, wer muss dann ran? Die gemeinsame Gemeinschaft natürlich. Und von unseren Kindern können wir auch was lernen! Die verarbeiten nämlich "das Gesehene in einem ,traumatischen Spiel`", und davon dürfe man sie praktisch aus gesundheitlichen Gründen keinesfalls abhalten. (FAZ, 19.9.) In diesem Sinne ist Bushs unendlicher Gerechtigkeits-Feldzug eine regelrechte Traumatherapie. Ein Trauma heilen, das geht eben mit Argumenten nicht und auch nicht mit Demonstrationen. Nein, man muss sich entscheiden, ob man es tapfer bearbeiten oder ängstlich verdrängen will.

Die Anschläge haben uns aber neben dem Trauma auch noch was ganz Wunderbares beschert, nämlich eine Katharsis. Das ist auch wieder was Plötzliches, aber eher eine plötzliche psychische Selbstreinigung. Der Schock sitzt zwar tief, denn: "Die ganze westliche Welt ist erschüttert in ihrer Selbstgewissheit, in ihren psychologischen Grundfesten." Aber diese Grundfeste freizulegen, das transzendiert den Westen gleichsam, führt ihn seinem eigenen Urgrund zu: "Es ist greifbar, auf schreckliche Weise erfahrbar geworden, dass wir nicht nur eine Gesellschaft miteinander konkurrierender Individuen, Unternehmen oder Staaten sein können, sondern dass, bei allem Wettbewerb und gerade wegen seiner Bedeutung, auch Solidarität und gegenseitige Hilfe nötig sind, mit einem altertümlichen Wort: Gemeinschaft." (FAZ, 13.9.) Das sind wir! Wir! Eine wirkliche Gemeinschaft! Es ist so bewegend.

Ja und diese Gemeinschaft ist sozusagen die Gemeinsamkeit der Zivilisation. Wir sind ja jetzt alle Amerikaner, weil Kennedy ein Berliner war, und die, denen das zu simpel ist, die sind noch was viel Besseres, und auch, damit da keine Missverständnisse aufkommen, was sehr Gemeinsames, die sind nämlich Europäer. Vorneweg übrigens Scholl-Latour, der "große alte Mann" (taz), dem sind die Amerikaner eigentlich zu blöd, und am liebsten hätte er eine zivilisierte europäische Armee ohne diese Trampel, die nicht wissen, wie man die Orientalen anfassen muss. Sowieso ist den meisten AutorInnen klar, dass nur die Amis einen Dämlack wie Huntington mit seiner platten These vom Kulturkampf hervorbringen können, die sind eben so gefesselt an simple Schwarz-weiß-Schemata, während die Europäer sich ja auf was berufen können, im Gegensatz zu den Amerikanern, auf Literatur zum Beispiel, und zur Zeit zitiert man speziell in Deutschland gerne Thomas Mann, weil der so tiefgründig auf dem Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation besteht: "... und Deutschthum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur". (FAZ, 19.9.) Und weil wir Deutschen jetzt auch so richtig gemeinsam sind, deshalb liest die taz-Kommentatorin Kerstin Decker grad von allen Bestsellern am liebsten die Erinnerungen von Olaf Henkel, dem früheren Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, auch ein Thomas-Mann-Leser übrigens, weil der nämlich eins so schön auf den Punkt bringt, "die zivilisatorische Zauberformel: Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft!" (taz, 19.9.)

Jedenfalls ist dieser Unterschied zwischen uns Europäern und den Amerikanern der einzig echte Unterschied unter den Zivilisierten. Und der Kapitalismus ist nicht mehr was Rohes, das sicherheitshalber ein bisschen humanisiert werden sollte, der Ruhe wegen, wie manche vielleicht vor einigen Wochen, nach Genua, noch dachten, sondern jetzt wissen wir: Der Kapitalismus, das ist die Bedingung und der letzte Grund der Zivilisation, oder, warum es nicht deutlich sagen, des Humanen.

Und all das, was wir Zivilisierte im Kern sind, was wir jetzt durch das Trauma in New York erstmal so richtig gemerkt haben, das ist nun in Gefahr wegen dieser anderen Gemeinsamkeit der Unzivilisierten. Das sind jetzt nicht nur die Araber. Da gibt es nämlich auch noch Leute, die nun die Gelegenheit hätten, sich als bekennende Zivilisierte zu outen, die das aber ausschlagen. Die gebildeten brasilianischen FreundInnen des Spiegel-Schreibers aus Rio de Janeiro zum Beispiel, die stemmten sich gegen den "solidarisierenden Sog" der TV-Bilder und steigen einfach zusammen mit den brasilianischen Tageszeitungen "aus der gemeinsamen Trauerarbeit aus" - und das, obwohl sie in Hollywood-Filme gehen, Frank Sinatra hören und Häagen-Dasz-Eis essen. Es sei fast so, überlegt der Spiegel-Mann, "als hätten die irren Fanatiker auf die brutalste Weise artikuliert, was an dunklen Widerständen selbst im kultiviertesten Lateinamerikaner lebt." Herrje, wie, wie dunkel mag es wohl erst in den zahllosen unkultivierten Lateinamerikanern aussehen?! Dazu hat auch Henryk M. Broder im Spiegel was zu sagen, nämlich, dass Huntington wohl doch Recht hat, weil es einen Kampf der Kulturen gibt, wo die andere Kultur sich hervortut durch "die reine Lust am Morden, die inzwischen nicht einmal einen Vorwand braucht." (Spiegel 38/2001). Und wenn dann zum Beispiel so ein zivilisiertes Gefühlspaket auf so einen pseudokultivierten Antizivilisierten trifft, dann kann der sich aber mal auf was gefasst machen.

Und damit kommen wir zu den beiden richtig interessanten Gemeinsamkeiten. Da gibt es erstens die Gemeinsamkeit des Verbrechens. Also: "Die Übergriffe in den Vereinigten Staaten auf Menschen orientalischer Abstammung (...) demonstrieren: dass das Teufelswerk der Todesflieger in den Köpfen der Menschen weitertickt." (FAZ, 18.9.) Denn mit dem Rassismus verhält es sich nämlich so, dass er die Unzivilisierten praktisch untereinander beschäftigt. Denn es ist ja das Teufelswerk der Todesflieger, das solche Leute mit einer orientalischen Abstammung in der Zivilisation auf der Straße überfällt. Es tickt und tickt, und die Zivilisierten stehen daneben und sind unfassbar. Der Rassist und der Terrorist, die sind jedenfalls beide dem Zivilisierten richtig fremd.

Zweitens gibt es die Gemeinsamkeit der Emotionen. Das ist eine Art von Gemeinschaft über die Grenzen der Gemeinsamkeiten hinweg, also eine Koalition nicht unbedingt von Personen, sondern eher von Gefühlen und Gefühlspaketen, wenn man so will. Regelrecht angewidert ist der FAZ-Autor Lerch am 13.9., weil er was schreiben muss darüber, wie die arabischen Zeitungen jetzt agitieren, zum Beispiel mit Überschriften wie "Tag des jüngsten Gerichtes in Amerika" und so weiter. So sind sie aber nunmal, die Unzivilisierten, religiös, fanatisch, vormodern, hetzerisch. Die Zivilisierten müssen das bekämpfen, weil sie ja ein Trauma und eine Katharsis erfahren haben. Und wie sie dagegen kämpfen, darüber informiert uns nützlicherweise ein Kollege des FAZ-Autors gleich in derselben Ausgabe - nämlich mit einer "Vision vom Endkampf zwischen Gut und Böse vor dem Tag des jüngsten Gerichts" und einer Ahnung davon, "was der biblische Ortsname ,Armageddon` bedeuten könnte." (FAZ, 13.9.) Heißt: Das Wesen der Unzivilisierten und das Wesen von unserm Feldzug, die sind eigentlich deckungsgleich. Und weil es da diese Gemeinsamkeit der Gefühle und der Wesen gibt, deswegen steht uns ein echter Gefühlskrieg bevor. Also nicht mehr so technokratisch wie noch beim Kosovo-Krieg, hier geht es nicht bloß um die praktisch-militärische Anwendung von Menschenrechten, hier geht es um die Menschheit. Und wenn es um alles geht, um den Kern, um das in uns und außer uns, wenn also alles im Menschheitskampf aufgeht, dann gibt es keine politischen Gegner mehr, dann gibt es nur noch Gefahren. Die man ausmerzen muss, im Inneren wie im Außen. Deswegen zitiert die Welt Herrn Direktor Laqueur vom Center for Strategic and International Studies in Washington, der weiß, wie es eigentlich hätte laufen müssen: "Die Vereinigten Staaten hätten sofort brutal zuschlagen müssen." Und zwar "einen oder zwei Tage nach dem Anschlag wahllos und mit Gewalt gegen irgendeine Regierung oder ein Land".(18.9.) Was nicht ist, kann ja noch werden. Die geistig-moralischen Voraussetzungen für diesen unendlichen Anti-Trauma-Kampf, den die Menschheit gegen das Außermenschliche führen will, sind jedenfalls da.

Falls es doch noch irgendwie einen Rest gibt, muss der schweigen, erläutert am 13.9. die FAZ: "Daß davon auch Völker oder Gruppen getroffen werden, die unter staatlicher Unterdrückung und Terror leiden, ist die Konsequenz eines welthistorischen Ereignisses, dessen Wucht komplizierte Abwägungen auf absehbare Zeit verstummen lassen wird."

Stefanie Gräfe