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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 455 / 25.10.2001

Einflugschneise gegen die Atomlobby

Der nächste Tag X steht unmittelbar bevor

Es bedarf keiner Neubewertung der Situation, um nach den Anschlägen vom 11. September die Forderung nach der sofortigen Stilllegung aller Atomanlagen zu stellen. Es ging in der Debatte um die vermeintliche Sicherheit von AKWs auch vor dem 11. September schon immer um das nicht tragbare Risiko unwahrscheinlicher Störfälle und deren Folgen. Das Kalkar-Urteil, in dem auch die Berücksichtigung nur entfernt wahrscheinlicher Störfälle festgeschrieben wurde, erhält allerdings neue Relevanz.

Der Countdown für den nächsten Castortransport aus La Hague nach Gorleben läuft. Noch ist nicht klar, ob der Castor in der Woche ab dem 5. November oder erst ab dem 12. November rollen wird. Dass Polizei und BGS angesichts der welt- bzw. innenpolitischen Situation für den Objektschutz benötigt werden könnten, kommt dem niedersächsischen Innenminister Heiner Bartling (SPD) nicht in den Sinn, er plädiert unbeirrt für die Einhaltung des Transporttermins Anfang November. Die Vorstellung, dass Atomanlagen ebenso wie das World Trade Center oder das Pentagon Ziel von Terroranschlägen sein können, kann der Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) nicht ausschließen. Über eine vorübergehende Stilllegung hätten die Bundesländer zu befinden, meint Trittin. Eine Neubewertung des Reaktorrisikos weisen die Regierungsgrünen weit von sich. Grünen-Fraktionschef Rezzo Schlauch warnt gar vor Hysterie. Dabei sind Atomkraftwerke ein geradezu ideales Ziel für Terrorgruppen, um mit geringst möglichen Mitteln das größtmögliche Leid und Chaos zu erzielen. Umweltverbände und Anti-Atom-Initiativen appellieren dieser Tage an die Bundesregierung, diese Unsicherheitsaspekte endlich anzuerkennen und die Atomanlagen unverzüglich stillzulegen. Die gesetzliche Grundlage bietet das Atomgesetz, das ausdrücklich den Widerruf von Betriebsgenehmigungen vorsieht. Reaktorsicherheitsexperten bezweifeln, dass ältere deutsche Atomkraftwerke gezielte Abstürze überstehen könnten, selbst Heinz-Peter Butz, der Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln, gestand ein, dass es in der Frage, bis zu welchem Maße ein AKW einem Angriff standhalten würde, "eine Grenze gibt, die wir nicht so genau kennen".

Am 11. September ist etwas geschehen, was angeblich rein hypothetischer Natur sei. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl resultierte aus einer Verkettung menschlichen und technischen Versagens - mit Tschernobyl verbindet sich in erster Linie andauerndes menschliches Leid und außerdem der Nachweis, dass die Atomkraft eine unbeherrschbare Technologie ist. Jetzt wurde mit den gezielten Flugzeugabstürzen in den USA ein Szenario Wirklichkeit, was man eigentlich nur im Bereich der Phantasmagorie angesiedelt hätte. Angesichts dieser "morbiden Fantasie" warnt der Hamburger Professor für Technologiebewertung Arnim von Gleich: "Bei einem Atomkraftwerk potenziert sich das Risiko. Es droht nicht nur eine räumliche und zeitliche Explosion, die Folgen sind - siehe Tschernobyl - praktisch global und über sehr lange Zeiträume hinweg spürbar".

In einem gemeinsamen Appell erinnern die Umweltinitiativen deshalb an die Formulierung des BVG-Urteils vom 8.8.1978 ("Kalkar-Urteil"), in dem ein schwerer Störfall jenseits der Schwelle "praktischer Vernunft" angesiedelt wurde. Allerdings "muss bereits eine entfernte Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts genügen, um die Schutzpflicht auch des Gesetzgebers konkret auszulösen", formulierten die Verfassungsrichter. Diese Situation ist spätestens jetzt gegeben.

Bereits die Sicherung der Atommüllabfuhr durch 18.000 Uniformierte im März 2001 setzte die Demokratie teilweise außer Kraft: Versammlungsverbote und Polizeigewalt in der "Sonderzone" Wendland sind die augenfällige Begleiterscheinung. Was sagte doch Sigmar Gabriel in einem lichten Moment in seinem SPIEGEL-Interview unmittelbar nach den letzten Castortransport nach Gorleben? Gabriel: "Ich bin nicht Ministerpräsident geworden, um permanent Belagerungszustände zu organisieren. Bei zwei bis drei Castor-Transporten im Jahr sieht die Bevölkerung dort ständig Blaulicht und Polizeipanzer. Weitere Transporte nach Gorleben gefährden den Landfrieden und lassen die früheren Mahnungen von Robert Jungk wahr werden, dass ein solcher Atomstaat die Demokratie zerstört".

Ein bemerkenswert visionärer Satz angesichts der Überreaktion seines sozialdemokratischen Parteifreundes und Bundesinnenministers Schily, der gar für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren des Landes plädiert und dabei von der CDU-Spitze sekundiert wird. Wie sollen wir das verstehen? Wird demnächst die Bundeswehr zur Sicherung von Atommülltransporten eingesetzt und werden Flugabwehrstellungen installiert, um den Reaktorbetrieb zu sichern? Wie viel sicherer wäre es, endlich Schluss zu machen mit dem atomaren Abenteuer, denn mit Sicherheit droht weniger Freiheit.

Setzt sich die Unvernunft durch, bleibt es bei dem Kotau vor den profitorientierten Interessen der Atomlobby, stellen wir uns selbstverständlich wieder quer. Die Politik setzt offensichtlich auf unsere Verunsicherung und die Angst, wir setzen auf die Vernunft und Besonnenheit. Lässt sich der Transport politisch nicht verhindern, legen wir nicht paralysiert die Hände in den Schoß. Es wird in den Novembertagen tagelang Dauerdemonstrationen gegen den Zynismus der Macht, für die Stilllegung der Atomanlagen und gegen die Spirale der Gewalt, die jeder Krieg darstellt, geben. Wir laden bundesweit alle Kriegsgegner/innen ein, sich unseren Protesten anzuschließen.

Wolfgang Ehmke,
Sprecher der BI Umweltschutz
Lüchow-Dannenberg e.V.