Holocaust und Deutschtum
Wo Gremliza und Walser sich Gute Nacht sagen
Im Sommer dieses Jahres schrieb Micha Brumlik einen nachdenklichen Artikel über die Frage, ob und inwieweit jüdische Intellektuelle in der Diaspora sich kritisch über Israel äußern sollten (FR, 22.8.01). Als Verfechter einer universalen Ethik der Menschenrechte und ausgewiesener Gegner der israelischen Besatzungspolitik gegenüber den Palästinensern kommt er dabei zu dem Schluss, dass die von Überlebenden der Massaker von Sabra und Shatila gegen Premierminister Ariel Sharon in Belgien eingereichte Klage zu Recht erhoben wurde. (1)
Ambivalenz und Vieldeutigkeit sind Brumliks ständige Wegbegleiter. Am deutlichsten wird dies, wenn er Fragen der jüdischen Identität diskutiert. Das jüdische Volk ist für Brumlik keine klar umrissene Gemeinschaft, wie eine Familie oder ein Betrieb, sondern ein diffuser ethnisch-religiöser Konnex, der je nach Kontext unterschiedliche Ausprägungen erfährt. (2) Diese Vieldeutigkeit der Existenz drückt sich auch in gebrochenen Loyalitäten vieler Jüdinnen und Juden in der Diaspora, inklusive Deutschland, gegenüber der Politik Israels aus, selbst wenn solche kritischen Stimmen in Israel und auch in großen Teilen der Diaspora auf Ablehnung stoßen, gerade wenn sie aus Deutschland kommen.
Visionen vom "deutschen Wesen"
Die Entgegnung Hermann L. Gremlizas auf Brumliks Artikel zeichnet sich durch jene antideutsche Geradlinigkeit aus, die keinen Raum für offene Fragen oder Ambivalenzen lässt: "Polemik gegen Deutschland hat das Problem, dass ihre Bösartigkeit an die ihres Objektes nie heranreicht", schreibt Gremliza (konkret 10/01). Als Beispiel dafür nennt er die angestrebte Internationalisierung des israelisch-arabischen Konfliktes, welche "das gemeinsame Ziel Arafats und der Deutschen" sei und nichts anderes bedeute als "die Mobilisierung der christlich-antisemitischen und islamischen Staatenmehrheit gegen Israel", in direkter Kontinuität der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Wer sich auf diese Ebene der Debatte einlässt, wird nicht weit kommen. Dies sind sattsam bekannte Bausteine aus dem ideologischen Grabenkrieg des israelisch-arabischen Konfliktes; sie taugen zu nichts als dem Abwürgen jedweder Kommunikation zwischen den gegnerischen Seiten. Dabei geht es Gremliza gar nicht um den israelisch-arabischen Konflikt. Er sei stets der Meinung gewesen, "dass einen Kritiker zuerst die Taten des Kollektivs zu scheren haben, dem der Zufall der Geburt ihn zugeschlagen hat". Ihm geht es also um "die Deutschen". Zwar weist Gremliza zu Recht auf seine und Brumliks unterschiedliche Perspektiven hin. Doch seine sehr statische Unterscheidung zwischen einer nur deutschen und einer doppelten jüdischen sowie deutschen Identität schafft bezüglich der Frage, was Deutschsein bedeutet, Ausschlussmechanismen, die paradoxerweise genau dem von ihm so vehement bekämpften völkischen Nationalismus entsprechen.
Ein deutsches Volk hat es aber im herkömmlichen Sinn nie gegeben. Idee und soziale Wirklichkeit stimmten nie überein. Dies wurde in Deutschland besonders im Zuge der Emanzipation der jüdischen Minderheit und der Auseinandersetzung um ihre Integration in die deutsche Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sichtbar, als die mehrheitlich christlich geprägten "Deutschen" sich durch ihre schiere Unfähigkeit auszeichneten, die jüdische Minderheit als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft zu akzeptieren, sie nicht für die scheinbare Stabilisierung des halluzinierten "deutschen Wesens" zu instrumentalisieren, was seitens der jüdischen Minderheit u.a. auf hinhaltende wie explizite Gegenwehr stieß. (3) Dies mündete letztlich in den Versuch, das europäische Judentum, dessen nie vollständig zu assimilierende Anwesenheit permanent an die Vielschichtigkeit und Komplexität der eigenen Existenz erinnerte, abzuspalten und sich so als stabiles nationales Subjekt selbst zu erschaffen. Dass eine große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland diese Abspaltung in aktiver oder passiver Mitwirkung im Sinne einer bürokratisch organisierten und industriell durchgeführten physischen Auslöschung der Juden betrieb, macht die monströse Einmaligkeit des Holocaust aus. Die Vernichtungsmaschinerie der Nazis und die Tatsache, dass fast alle mitgemacht, wider besseres Wissen geschwiegen oder bewusst die Augen verschlossen haben, widersetzt sich letztlich jeder rationalen Erklärung. (vgl. Double Critique, ak 452) Man kann den Holocaust als die Summe des katastrophalen Scheiterns aller Versuche lesen, ein nach völkischen Kriterien stabiles nationales "Wir" zu schaffen. Die Erinnerung daran, die immer noch offene Wunde, sowie die Gegenwart einer Einwanderungsgesellschaft inklusive einer dadurch gewachsenen jüdischen Minderheit strafen alle heutigen deutschen Nationalisten und Leitkulturler Lügen. Die Konsequenz daraus ist das Projekt einer pluralen Rechtsnation, die Gleichberechtigung aller hier dauerhaft lebenden Menschen.
Negatives Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen taugt nicht ohne weiteres für nachträgliche Sinnstiftungen. Es kann allenfalls die radikale Unselbstverständlichkeit von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie etc. in diesem neuerdings wieder ach so zivilisierten Land verdeutlichen und als Katalysator dienen für die Entwicklung der Fähigkeit zu kritischer Selbstreflexion in Bezug auf die eigene Geschichte und die Verfassung der eigenen Gesellschaft. (4) Wenn heute die Teilnahme der Bundeswehr am Kosovo-Krieg als eine Folge des kategorischen Imperativs "Nie wieder Auschwitz" dargestellt wird, wenn die Bemühungen von Außenminister Fischer um einen Waffenstillstand in Israel/Palästina und die Teilnahme am Afghanistan-Krieg als gelungene Premiere des durch die "Aufarbeitung" des Holocaust geläuterten "neuen Deutschlands" auf dem diplomatischen Parkett der Großmächte verstanden werden, so wird die Erinnerung an den Holocaust zur politischen Sinnstiftung missbraucht.
Holocaust und nationale Sinnstiftung
Es handelt sich dabei um einen Legitimationsdiskurs im Zusammenhang mit der Genese eines neuen deutschen Nationalbewusstseins in der Berliner Republik. Während die politische Elite der Berliner Republik ihre "aufgeklärte" Großmachtpolitik, Kriegspolitik eingeschlossen, mit den aus dem Holocaust angeblich gelernten Lektionen zu legitimieren sucht, gibt es gleichzeitig die Tendenz, die Erinnerung an Auschwitz als Teil einer fortlaufenden und insgesamt positiv konnotierten deutschen Nationalgeschichte einzuebnen, in der der Nationalsozialismus nicht mehr als ein Tiefpunkt ist. (siehe Karl-Heinz Bohrer, FR vom 16.6.01). Von hier bis zur Leitkultur ist es nur noch ein Schritt. Solch missbräuchliche Aneignungen der Geschichte für heutige politische Zwecke, ob innen- oder außenpolitisch, müssen mit allen Mitteln bekämpft werden.
Zu den bestürzenderen Ereignissen der vergangenen Jahre gehört die mit stehenden Ovationen bedachte Rede Martin Walsers in der Paulskirche. In der öffentlichen Debatte wurde sie vor allem als missverständliche Ermunterung Walsers an die alten und neuen Verfechter eines Schlussstriches unter die Beschäftigung mit der "deutschen Schande" wahrgenommen. Seine Rede war ein Plädoyer für das Recht auf ein freies und ungebundenes Gewissen, das für sich selbst entscheiden müsse, ob und wie es dieser "nationalen Schande" gedenken wolle. Zur gleichen Zeit war Ignatz Bubis auf einer einsamen Suche nach einer Erinnerungskultur an die nationalsozialistischen Verbrechen, in dem Juden und Nicht-Juden, ethnische Deutsche und MigrantInnen zu einer gemeinsamen Sprache finden würden. Walser hingegen beharrte auf einem besonderen nationalen Schicksal "der Deutschen", das eben in der "Schande" des Holocaust gründe: "Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen", sagte er in seiner Paulskirchenrede. Damit steht er für eine besonders unausstehliche Art der nationalen Sinnstiftung, die ausgerechnet im zentralen Verbrechen gründet, das im Namen dieser Nation begangen wurde: "Wo das Ich das Höchste ist, kann man Schuld nur verdrängen. Aufnehmen, Behalten und tragen kann man nur miteinander (...), was wir in Auschwitz begangen haben, haben wir als Nation begangen, und schon deshalb muss diese Nation weiter bestehen als Nation" (Walser in der FAZ, 14.12.98). Ein solches Verständnis der deutschen Nation schließt all jene aus, die der deutschen "Schicksalsgemeinschaft" nicht angehören, weil ihnen die "deutsche Schande" nicht vorgehalten werden kann. Dies bedeutet eine Ontologisierung der deutschen Schuld, die "die Deutschen" auf besondere Weise auszeichnet und sie durch eine unüberbrückbare Kluft von allen "Fremden" - Juden, ArbeitsmigrantInnen Flüchtlingen, - trennt. (5)
Die These vom unwandelbaren "Nationalcharakter"
Gremliza scheint mit derartigem Gedankengut nichts zu tun zu haben, plädiert er doch ganz im Gegensatz zu Walser für ein radikal gebundenes Gewissen, in dem es keinen Raum für Entscheidungsfreiheit gibt. Beide allerdings leiten ihren Standpunkt aus der Erinnerung an den Holocaust her. Gremliza steht in diesem Kontext für eine spezifische Denkschule, die "den Deutschen" eine "historisch erworbene Immunschwäche gegen völkischen Koller" unterstellt und daraus eine Politik ableitet, die dem zeitgenössischen Deutschland kollektiv einen seit 1945 ungebrochen handlungsleitenden imperialen Größenwahn und antisemitischen, bzw. rassistischen Mordinstinkt unterstellt. Damit aber plädiert auch Gremliza für eine Ontologisierung der deutschen Schuld, mit deren Implikationen er unmöglich sympathisieren kann: Er unterstellt dem "deutschen Volk" eine historische Materialität und Kontinuität, die es so nie gab. Die Erinnerung an Auschwitz verkommt dabei zu einem historischen Bezugspunkt, der die Rede vom "deutschen Kollektiv" als nationalem Subjekt im zeitgenössischen Deutschland erst ermöglicht. Vollwertige Deutsche können demnach nur die Angehörigen der Tätergesellschaft und ihre direkten Nachkommen sein. Daraus folgt wie bei Walser, wenn auch aus einer denkbar anderen Motivation, ein "Wir", das einmal mehr auf völkischen Kriterien basiert, das vielfältige und komplexe Identitätsstrukturen und Loyalitäten nicht akzeptieren kann, das Juden, MigrantInnen und Flüchtlinge automatisch ausschließt, selbst wenn diese einen deutschen Pass besitzen. So basteln Gremliza & Co. ironischerweise an der Konstruktion ex negativo eines deutschen Nationalcharakters mit, den sie doch eigentlich abschaffen wollen. Auch wenn er das nicht sein will, ist Gremliza unterm Strich ein deutscher Leitkulturler, sind Gremliza und Walser die helle und die dunkle Seite ein und desselben Mondes.
Achim Rohde
Anmerkungen:
1) Während des Libanonkrieges im Jahr 1982 überfielen christliche Falangisten diese beiden palästinensischen Flüchtlingslager bei Beirut und richteten unter den Augen der diese Gegend kontrollierenden israelischen Armee ein furchtbares Massaker an. Sharon war damals Verteidigungsminister.
2) Vgl. Lawrence J. Silberstein und Robert L. Cohn (eds.), The Other in Jewish Thought and History (New York & London 1994).
3) Für das 19. Jahrhundert siehe z.B. Susannah Heschel, Revolt of the Colonized: Abraham Geigers Wissenschaft des Judentums as a challenge to Christian Hegemony in the Academy, in: New German Critique 77/1999, S. 61-86
4) Volkhard Knigge, Abschied von der Erinnerung - Zum notwendigen Wandel der Arbeit der KZ-Gedenkstätten in Deutschland, in : Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.), Gedenkstättenrundbrief 100/2001, S. 136-148.
5) Ursula Apitzsch. Ein deutsches Gewissen. Oder: Wie Martin Walser missverstanden wurde. Betrachtungen nach einem Jahr Kontroverse, in: Fechler/Kößler/Lieberz-Groß (Hrsg.), "Erziehung nach Auschwitz" in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen (Weinheim und München 2000), S. 31-46.