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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 456 / 22.11.2001

Stell Dir vor, es ist Krieg - und die NATO geht nicht hin

Es war ein furioser Auftakt: Erstals in ihrer Geschichte erklärt die NATO nach den Terrorangriffen vom 11. September auf die USA den Bündnisfall - und danach kommt nichts; jedenfalls kein Kriegseinsatz des größten und stärksten Militärpakts unter der Sonne. Ist die NATO ein Papiertiger?

Nein, die NATO ist kein Papiertiger. Aber sie ist auch nicht die "global" oder "weltweit" handlungsfähige und willige Militärmacht, zu der sie in Kreisen der Friedensbewegung häufig überhöht wird. Diese Einschätzung der NATO als eines "in aller Welt" interventionsbereiten Bündnisses wurde vor allem nach den Änderungen der strategischen Konzeption im Gefolge des Endes der Ost-West-Blockkonfrontation vorgetragen. Dieser Prozess der Strategieänderung fand seinen vorläufigen Höhepunkt und Abschluss bekanntlich mit der Verabschiedung des neuen strategischen Konzepts der NATO anlässlich der Feier ihres 50-jährigen Bestehens im April 1999 (inmitten des Krieges gegen Jugoslawien).

Zentraler Punkt dieses Konzepts war die Umorientierung der NATO von einem Abschreckungsbündnis zu einem Interventionsbündnis. Die NATO beansprucht seither für sich, wenn es im eigenen Interesse geboten erscheint, auch "selbstmandatiert" (also ohne ein Mandat der UNO oder der OSZE) militärisch aktiv werden zu können - auch jenseits des Verteidigungsfalles, und vor allem auch jenseits des eigenen Vertragsgebietes. Damit hatte die jahrelange Debatte um so genannte "out of area"-Einsätze ihren Abschluss gefunden. Jetzt war klar: Die NATO ist bereit und willens, auch "out of area" zu gehen und dort "non-article 5 missions" (also Einsätze, die nichts mit dem Bündnisfall und Verteidigung zu tun haben, im Umkehrschluss: Interventionen) durchzuführen.

Papiertiger Regionalbündnis

Daraus wurde von manchen - vorschnell - auf die "weltweite" Orientierung der NATO geschlossen. Nun wird zwar im neuen strategischen Konzept sehr wohl die bisherige Festlegung auf ein bestimmtes Vertragsgebiet aufgeweicht (1), gleichwohl wurde weiterhin ein geographischer Bezugsrahmen für die Aktivitäten der NATO festgelegt, nämlich "in und um den euro-atlantischen Raum". Das ist freilich eine sehr vage Festlegung. Diese Unbestimmtheit war und ist aber ganz im Sinne der Erfinder: Sie macht es nämlich möglich, jeweils von Fall zu Fall zu entscheiden, ob eine bestimmte Situation, die ein militärisches Eingreifen erforderlich erscheinen lässt, tatsächlich im "euro-atlantischen Raum" vorliegt, also die NATO zuständig ist, oder eben nicht. Und sie macht es möglich, als Formelkompromiss unterschiedliche Vorstellungen der NATO-Partner über die tatsächliche Reichweite des NATO-Zuständigkeitsbereiches unter einen Hut zu bringen. Nordafrika, der Kaukasus oder auch die Region um das Kaspische Meer (Erdöl) kann nach Bedarf locker von der Formel "in und um den euro-atlantischen Raum" abgedeckt werden. Für Mittel- und Lateinamerika ist das ebenso unwahrscheinlich wie für Ostasien und den Südpazifik. Und in diesen Tagen zeigt sich: Afghanistan gehört wohl auch nicht dazu.

Damit blamiert sich das leichtfertige Gerede von der "globalen", "in aller Welt" interventionslüsternen - und vor allem auch: interventionsfähigen - NATO. In dieser Zeitung wurde in diesem Punkte stets vorsichtiger und differenzierter argumentiert (vgl. z.B. ak 424): Zwar habe die "neue NATO" alte geographische Beschränkungen hinter sich gelassen und sich die Optionen für räumlich weit greifende Interventionen eröffnet, doch bleibe sie weiterhin ein Regionalbündnis. Dies entspreche den Interessen der hegemonialen Macht dieses Bündnisses, den Interessen der USA. Diese nämlich wollten die NATO keineswegs in ihrem Hinterhof in Mittel- oder Lateinamerika oder in anderen US-Einflusszonen sehen. Warum sollten sie auch? Bedeutete dies für die USA doch eine unnötige Aufgabe von Machtpositionen. Für die USA ist die NATO nicht mehr als ein regionales Militärbündnis - zugegeben sicher das wichtigste. Da die USA aber wirklich eine weltweit agierende Hegemonialmacht sind, ordnet sich auch dieses Bündnis in das Geflecht ihrer weltumspannenden Interessen, Allianzen, bi- und multilateralen Beziehungen ein, die einzig dem Zwecke dienen, die globale hegemoniale Position der USA abzusichern.

"Die Europäer" sind in diesem Kontext nicht allein nützliche Bündnispartner, sondern auch potenzielle Konkurrenten. Sie in die US-geführte NATO einzubinden dient nicht nur dazu, sie dann, wenn es von den USA als opportun erachtet wird, militärisch einzuspannen, sondern auch dazu, sie zu kontrollieren. Für europäische Militärs und Sicherheitspolitiker mag die NATO zwar der Nabel der Welt(militär-) ordnung sein (weil sie nur in deren Rahmen mitspielen dürfen), nicht aber für US-Militärs und Sicherheitspolitiker. Nicht mehr und nicht weniger wird mit dem Krieg gegen Afghanistan demonstriert.

Die USA haben im Falle des Krieges gegen Afghanistan das getan, was sie auch im Fall Irak und anderen Fällen getan haben: eine Ad-hoc-Koalition jener Kräfte zu bilden, die willens waren und sind, unter US-Führung in den Krieg zu ziehen - und die den USA dabei auch nützlich sein können. Diese Koalition ist diesmal ziemlich umfassend geraten. Die NATO gehört nur in sehr begrenztem Maße dazu. Die Proklamation des Bündnisfalles nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags (2) hätte die Möglichkeit eröffnet, dass die NATO als Militärorganisation militärisch aktiv wird - zur Verteidigung des angegriffenen NATO-Partners USA (3). Eine Verpflichtung bestand dazu allerdings nicht. Und die USA haben das auch nicht verlangt. So blieb denn die Proklamation des Bündnisfalls ein politisch-symbolischer Akt. Auch der ist nicht unwichtig, demonstriert der doch den allerengsten denkbaren Schulterschluss der NATO-Staaten mit ihrer Führungsmacht: Wir alle sind angegriffen, wir alle befinden uns in einem gerechten Verteidigungskrieg (gegen wen auch immer).

Kein Fall
für die NATO

Was die militärische "Hardware" anbelangt, hat dieser Zustand allerdings keine Konsequenzen. "Die" NATO ist als Organisation am Krieg gegen Afghanistan nicht beteiligt. Afghanistan wird offensichtlich von der Formel: "im und um den euro-atlantischen Raum" nicht abgedeckt. Und diese Formel greift jetzt auch für den Bündnisfall: Da es sich nicht um einen Krieg im Gebiet "im und um den euro-atlantischen Raum" handelt, bleibt die NATO als Organisation untätig. Das heißt aber nicht, dass die USA nicht doch im Kontext ihrer Ad-hoc-Koalition auf einzelne NATO-Staaten und deren militärische Fähigkeiten zurückgreifen sowie sich die NATO-Infrastruktur zu Nutze machen.

Zuallererst ist hier selbstverständlich der NATO-Staat Großbritannien zu nennen. Großbritannien hält sich bekanntlich sehr viel auf seine "special relationship" mit den USA zu Gute. Diese besondere Beziehung wird nun einmal mehr auf dem Schlachtfeld gehärtet. Die britische Regierung brüstet sich damit, als engster Waffenbruder der einzig verbliebenen Weltmacht USA mitkämpfen zu dürfen. Und auch andere NATO-Staaten stellen ihre Soldaten und ihre militärischen Fähigkeiten zur Verfügung. Diese picken sich aus diesem Angebot das heraus, was sie gebrauchen können. Zugleich greifen sie - wie auch in früheren Kriegen (angefangen beim Vietnamkrieg) - auf NATO-Infrastruktur in Europa zurück (Nachschubbasen, Flughäfen, Versorgungseinrichtungen usw.). Und die westeuropäischen NATO-Staaten übernehmen zusätzliche Aufgaben, um so US-Kräfte zu ersetzen, die für den Afghanistan-Krieg benötigt werden. Auf diese indirekte Weise ist "die NATO" sehr wohl in den Krieg einbezogen. Aber das war auch bei früheren Kriegen so, bedeutet also keine neue Qualität wie sie angesichts der Proklamation des Bündnisfalles hätte erwartet werden können.

Zudem ist diese vermittelte Beteiligung wenig sichtbar, eher unspektakulär und daher für NATO-Militärs und -Bürokraten wohl eher unbefriedigend. Doch den USA passt eine solche Hiwi-Rolle der NATO und einzelner NATO-Staaten genau ins Konzept. Denn sie - und nur sie allein - behalten dadurch Kontrolle und Führung des Krieges. Mühselige Abstimmungsprozesse mit irgendwelchen "Partnern" sind nicht nötig. Die USA führen einmal mehr aller Welt - und damit auch ihren NATO-Verbündeten - vor Augen, dass sie allein in der Lage sind, wirklich überall auf dem weiten Erdenrund Krieg zu führen. Beteiligung der "Partner"? Kann, muss aber nicht sein.

Angesichts dieser klaren Verhältnisse ist das Gezappel der rot-grünen Bundesregierung um so widerwärtiger. Da werden dem US-Präsidenten deutsche Soldaten als Hilfstruppen angeboten - und der nimmt die Offerte nur äußerst missmutig und zögerlich an. Die Erwartung, dass man durch derartiges Anschleimen doch das Ohr des großen Präsidenten geliehen bekommen könnte, dass man also "Einfluss" auf die US-Politik nehmen könnte, ist frommer Wunsch und/oder Taktik, um das kritische Publikum zu Hause zu beruhigen. Motto: Nur wenn wir mitschießen, können wir auch mitreden. Das wird so nicht laufen. Im Gegenteil: Der Afghanistan-Krieg hat den europäischen NATO-Staaten einmal wieder die Grenzen ihrer militärisch gestützten Einflussmöglichkeiten aufgezeigt - und damit auch die Grenzen "der" NATO. Die NATO ist und bleibt ein - wichtiges - Regionalbündnis unter Führung der Hegemonialmacht USA, die dieses Bündnis einsetzt, wenn sie es braucht - und es eben bleiben lässt, wenn es nicht nötig ist.

Anbiederung
als Programm

Daher wird sich auch in Hinblick auf die NATO die Blödheit des Spruches, dass nach dem 11. September nichts mehr sei wie vorher, alsbald erweisen: Die NATO wird auch künftig "im und um den euro-atlantischen Raum" militärisch intervenieren - wenn die USA ihr "okay" geben. Sie hat unter friedenspolitischen Gesichtspunkten nichts an Gefährlichkeit eingebüßt, auch wenn sie jetzt im Falle Afghanistan als Organisation nicht in vorderster Front dabei ist. Und in der NATO wird es auch künftig Auseinandersetzungen um eine "mehr europäische" oder "mehr atlantische" Ausrichtung geben.

Vorerst ist die "atlantische" Orientierung mit dem Afghanistan-Krieg massiv gestärkt worden, doch haben sich ja durchaus unterschiedliche Intensitäten des Anbiederns bei den USA gezeigt (in Frankreich war von "uneingeschränkter Solidarität" jedenfalls keine Rede), und künftig wird es wohl - auch und gerade angesichts der Erfahrungen der NATO-Europäer in diesem Krieg - wieder verstärkte Bemühungen zur Stärkung der eigenständigen europäischen militärischen Fähigkeiten geben. Das Projekt der Militarisierung der EU ist zwar durch den gegenwärtigen Krieg in den Hintergrund geraten, aber keineswegs aufgegeben. Die deutsche Regierung wird auch für künftige Kriege, seien sie nun US-, NATO- oder EU-geführt, wieder einen deutschen militärischen Beitrag wie Sauerbier anbieten. Denn eine Führungsrolle "im und um den euro-atlantischen Raum" erfordert nun einmal auch militärische Spitzenleistungen. Und dafür müssen die Deutschen noch viel üben.

Vo

Anmerkungen:

1) Das NATO-Vertragsgebiet ist in Artikel 6 des Nordatlantikvertrags bestimmt als Europa und Nordamerika sowie die "der Gebietshoheit einer Partei unterstehenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses".

2) Artikel 5 des Nordatlantikvertrags legt fest, dass "ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere" der Vertragsparteien "in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten".

Diese Formulierung macht deutlich: Eine automatische militärische Beistandsverpflichtung gibt es nicht; ebenso wenig eine Verpflichtung der NATO als Organisation, im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen NATO-Staat militärisch aktiv werden zu müssen.

3) Hier wird davon abgesehen, dass bereits die Erklärung des Bündnisfalls sachlich nicht gerechtfertigt war: Bei den Terroranschlägen vom 11. September handelte es sich um einzelne schwerstkriminelle Akte, nicht aber um einen "bewaffneten Angriff" seitens eines Krieg führenden Staates - schon gar nicht Afghanistans. Die NATO ist mithin ohnehin "eigentlich" nicht zuständig - aber wen schert das schon in der Welt der Realpolitik.