Wer kann, wandert aus
Mazedonien in der Wirtschaftskrise
Die Reste des alten Bahnhofs stehen als Mahnmal im Zentrum der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Die Uhr zeigt 17 Uhr 15, jene Minute, in der am 26. Juli 1963 ein Erdbeben die Stadt fast vollständig zerstörte. Auch der später neu errichtete Bahnhof wirkt heute funktionslos. Zwei riesige Betonröhren auf einer Brücke, ein gespenstisch leeres Gebäude, in dem der letzte Kiosk schon lange geschlossen hat. Eingeschlagene Tür- und Fensterscheiben erzählen vom wohl einzien Gebrauch der gar nicht so alten Restaurations- und Geschäftsräumlichkeiten: Obdachlose finden hier ein Dach über dem Kopf.
ZweiMal täglich fahren je zwei Waggons in die alte jugoslawische Hauptstadt Belgrad. Außer einer Roma und zwei gesetzt wirkenden Herren sind wir die einzigen Fahrgäste, die den Weg durch den albanisch besiedelten Norden Mazedoniens wagen. Mit im Waggon noch vier Soldaten in Kampfanzügen, den Finger lässig am Abzug der nach unten baumelnden Maschinenpistolen. Sie sind zum Schutz des kleinen Zuges vor etwaigen Überfällen durch die UCK abgestellt, deren radikale Teile sich seit dem Einmarsch der NATO in Mazedonien in Albanische Nationalarmee (ANA) umbenannt haben. Gleich hinter Skopje ziehen sich die mazedonischen Militärs kugelsichere Westen über und wanken wie kahl geschorene, braun-grün gescheckte Bären durch den Gang. Nun geht es die 420 Kilometer bis Belgrad, wo wir zehneinhalb Stunden später ankommen werden. Knapp zwei Stunden dieser Reise sind knapp hinter Kumanovo für den Aufenthalt an den Grenzübergängen in Tabonovce (Mazedonien) und Presevo (Jugoslawien) vorgesehen. Die Zerstörung des früheren Jugoslawien, das vermittelt einem die Abreise aus Skopje in eindrucksvoller Weise, ist perfekt gelungen.
Die offizielle Statistik weist für Mazedonien im November 2001 eine Arbeitslosenrate von 46% aus, das sind zehn Prozent mehr als vor drei Monaten. Die Gesellschaft ist nicht nur ethnisch in zwei Teile - in etwa 60% MazedonierInnen und 30% AlbanerInnen - gespalten, sondern auch sozial weitgehend zerstört. Vor allem die MazedonierInnen kommen mit der neuen Art von Armut nicht zurecht. Die Mehrheit der Bevölkerung fand sich in rasend schnellem Tempo ihrer wirtschaftlichen Grundlagen beraubt. Eine Mittelklasse mit bescheidenem Wohlstand, wie es sie im Titoismus gegeben hatte, verschwindet.
Neuer Typus von Armut
"Noch vor einem Jahr ist es vielen Leuten hier gar nicht so schlecht gegangen", meint Suzana Saveska vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpolitik in Skopje, "nun sind sie richtiggehend abgesackt". Irgendwann war das Ersparte aufgebraucht. Die Lohnzahlung aus dem Betrieb lässt oft mehr als ein halbes Jahr auf sich warten, die Arbeitslosenunterstützung beträgt etwa 90 DM, die Sozialhilfe für eine vierköpfige Familie liegt bei 110 DM monatlich. Um das Überleben zu sichern, ist der Gang in die graue Ökonomie meist unabdingbar.
Die MazedonierInnen haben mit Handel und Schwarzarbeit allerdings, anders als die AlbanerInnen, kaum Erfahrungen. "Albanische Familien sind mit der Privatwirtschaft viel vertrauter, meist befinden sich einige ihrer nächsten Verwandten im nahen Ausland, in der Schweiz, in Deutschland oder in Belgien, und helfen den Daheimgebliebenen." In den großen Fabriken, die seit Jahren ihre Belegschaften drastisch abbauen, waren vornehmlich MazedonierInnen beschäftigt. Sie, die auf die titoistische Modernisierung gesetzt hatten, fallen nun in eine soziale Depression, während die AlbanerInnen, die immer schon in staatlichen oder selbstverwalteten Betrieben diskriminiert worden waren, mit der absoluten Krise leichter zurechtkommen. Das bestätigt auch Iljaz Halimi, Vizepräsident der größten albanischen Partei DPA und Ko-Vorsitzender des mazedonischen Parlaments: "Die traditionelle Diskriminierung der Albaner am Arbeitsplatz entpuppt sich heute als gewisser Vorteil. Albaner sind ökonomische Krisen gewöhnt, viele sind emigriert. Die aktuelle Krise trifft die Mazedonier eindeutig härter." Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp zwei Millionen leben 500.000 Menschen unterhalb der Armutsgrenze.
"Ein Markt mit zwei Millionen Einwohnern braucht keine Industriestruktur", bringt Vladimir Glogorov, mazedonischer Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) die Strukturkrise des Landes auf den Punkt. Die mazedonische Industrie, die noch 1989 80% ihres Absatzes innerhalb Jugoslawiens gefunden hatte", verlor nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens ihre Märkte. "1991 ist unser Markt mit einem Schlag weggebrochen", meint auch Miroslava Mimorska-Marjanovic von der Ökonomischen Fakultät in Skopje. Zum Zusammenbruch Jugoslawiens kamen noch das anfänglich von Griechenland gegen Skopje betriebene EU-Embargo sowie das zehn Jahre aufrechterhaltene UN-Embargo gegen Jugoslawien, das für Mazedonien eine Katastrophe bedeutete. 1999 setzte dann die NATO die kleine Republik unter Druck und zwang sie zur Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge aus dem Kosovo, bis Anfang 2001 der von außen ins Land getragene Bürgerkrieg jede wirtschaftliche Aktivität erlahmen ließ. Auf über eine Milliarde DM schätzt die Vize-Präsidentin der regierenden VRMO, Dosta Dimovska, allein den wirtschaftlichen Verlust, der in den letzten Monaten durch die Schließung der Grenze zum Kosovo entstanden ist.
Kompensationen für all diese wirtschaftlichen Ausfälle, für die Mazedonien so gut wie nie irgendeine Schuld traf, wurden von der sogenannten "internationalen Gemeinschaft" häufig versprochen; gekommen ist bislang so gut wie nichts. Die USA haben noch nicht einmal für die Benutzung des stark in Anspruch genommenen "Autoput", der Autobahn, die den griechischen Hafen Thessaloniki mit Pristina verbindet und auf dem seit dem Sommer 1999 täglich mehrere KFOR-Kolonnen ihre Militärgüter transportieren, irgendeine Zahlung getätigt.
Ökonomie ist paralysiert
Statt versprochener Entschädigungen erhöhte der Westen im Frühsommer 2001 seinen Druck auf die Administration in Skopje. Die Anfang des Jahres noch von allen Seiten - inklusive der größten albanischen Partei in Mazedonien, der DPA - als Terrororganisation bezeichnete UCK, die vom Kosovo kommend am 23. Januar 2001 ihre Offensive startete, wurde Schritt für Schritt von NATO und EU unterstützt und in den politischen Prozess Mazedoniens integriert. Damit gelang es dem Westen, die im Kern ökonomischen Probleme mit der nationalen Frage zu überlagern. Nationales Konfliktpotenzial und das entsprechende Krisenmanagement kommt dem Begehren der neokolonial agierenden Mächte entgegen, lässt sich doch mit der ethnischen Karte Volksgruppe gegen Volksgruppe leicht gegeneinander ausspielen, während sich bei der Beschäftigung mit sozio-ökonomischen Problemen immer wieder die Frage der Verteilung stellen würde, die seit dem Beginn der Transformation systematisch tabuisiert wird. Heutzutage spricht folgerichtig niemand in Skopje oder Tetovo von der wirtschaftlichen Krise; alle sind mit Formulierungen einer neuen Konstitution, mit der Verbesserung von allerlei Minderheitenrechten, die der EU noch im Jahr 2000 als mustergültig galten, und mit der Wiederherstellung einer interethnischen Vertrauensbasis beschäftigt.
"Die ganze Ökonomie ist paralysiert", gibt sich Miroslava Mimorska-Marjanovic von der ökonomischen Fakultät in Skopje keiner Illusion hin. "Seit zehn Jahren wurde keine einzige größere industrielle Investition getätigt, die Produktion sank um 50%". Dementsprechend sieht es auch um die Beschäftigtenzahlen aus. Heute sind in der Industrie um 40% und in der Landwirtschaft um 48% weniger Arbeitskräfte tätig als 1990. Ein diese Verluste kompensierender Aufbau des tertiären Sektors hat nicht stattgefunden. Metall- und chemische Industrie, der Abbau von Zink und Ferrosilizium sowie der agroindustrielle Sektor sind am Zusammenbrechen.
Die Maßgaben der Weltbank verschärfen die katastrophale Lage am Arbeitsmarkt weiter: Seit 1999 beharrt sie auf einem Kündigungsprogramm bei den öffentlich Bediensteten, um im Gegenzug budgetäre Sanierungsmaßnahmen zu unterstützen. 45.000 der insgesamt 90.000 Staatsangestellten sollen in fünf Jahren abgebaut werden. Gleichzeitig drängen NATO, EU und ausländische NGO-Gruppen darauf, vermehrt AlbanerInnen in den Staatsdienst aufzunehmen. Die politische Reaktion auf diese ökonomische Schere, in die die staatlich Bediensteten zwangsweise kommen, kann man sich unschwer vorstellen. Eine nationalistische, anti-amerikanische Stimmung nimmt unter der mazedonischen Mehrheitsbevölkerung überhand.
In den Regalen der Supermärkte von Skopje stehen Joghurt aus Deutschland, Olivenöl aus Griechenland und Tomaten aus der Türkei. Die heimische Landwirtschaft koppelt sich Schritt für Schritt vom Markt ab und wird zum Rückzugsgebiet für subsistente Lebensformen. Der ehemalige südslawische Gemüsegarten Mazedonien mit seinen auf dem ganzen Balkan bekannten Agrarbetrieben muss für seine Städte Tomaten, Zucker und Speiseöl importieren. In der negativen Handelsbilanz schlägt sich dann diese nationale Demütigung auch in Ziffern nieder.
Für die neuen Kolonialherren aus dem Westen ist freilich die mazedonische Industrie nur von untergeordnetem Interesse. Investitionen in größerem Umfang sind auch nach einem etwaigen Ende des Bürgerkrieges nicht zu erwarten. Einzig die Textilproduktion weckt westeuropäische und US-amerikanische Begehrlichkeiten. Die billige Arbeitskraft und der ausgereifte Charakter der Produktion machen verlängerte Werkbänke im Textil- und Bekleidungssektor für westliche Auftraggeber und Investoren interessant. So arbeitet bereits eines der großen Textilunternehmen, Tetex in Tetovo, ausschließlich für den US-amerikanischen Markt.
Migrationslotto und Brain-drain
Der Aufbau von Kapazitäten für eine Produktion auf der Basis von verlängerten Werkbänken beinhaltet freilich eine strategische industriepolitische und regionalpolitische Entscheidung, die weit über den mazedonischen Staat hinausgeht. Denn wer seine Kapazitäten auf Basis billiger Arbeitskraft für entfernte Märkte aufbaut bzw. rettet, der hat mittelfristig kaum die Möglichkeit, eine wirtschaftliche Integration des umliegenden Raumes zu Stande zu bringen. Bulgarien, Serbien, Albanien und Mazedonien müssten jedoch für den Aufbau zukunftsweisender Produktionsstätten zusammenarbeiten, statt jedes Land für sich unter den für EU-Europa günstigsten Bedingungen den Marktpreisen im fernen Brüssel, Berlin oder Paris auszuliefern.
Starkes Interesse haben westliche Öl- und Gaskonzerne an der mazedonischen Politik. Schon heute laufen eine Reihe von Pipelines durch das Land. Mit der irgendwann geplanten Ausweitung der Förderung von Öl und Gas am Kaspischen Meer stellt sich die Frage, über welche Route der Energieträger in das Mittelmeer bzw. in die Ägäis gelangen soll. Zur Zeit sind zwei Projekte in Ausarbeitung. Die eine Pipeline würde über den bulgarischen Schwarzmeerhafen Burgas nach Alexandropolis, die andere ins albanische Vlore führen. Die Strecke Burgas-Vlore, vom Multi AMBO forciert, müsste über mazedonisches Territorium laufen, wofür eine politische Stabilität, hergestellt durch NATO-Truppen, die Voraussetzung wäre.
Doch die meisten MazedonierInnen sehen ihre eigene wirtschaftliche Zukunft weit weg. Wer kann, wandert aus. Als vor einigen Wochen die kanadische Botschaft in Skopje angekündigte, 5.000 EinwandererInnen für ein Besiedlungsprojekt in der Prärieprovinz Manitoba aufnehmen zu wollen, meldeten sich binnen kürzester Zeit 80.000 InteressentInnen. Nun kann man sich in Winnipeg die 5.000 besten Kräfte, vornehmlich TechnikerInnen aller Sparten, aussuchen. Die USA haben den Brain-drain aus der mazedonischen Peripherie ins amerikanische Zentrum gleich als "lottery" organisiert. An jedem Zeitungskiosk in Skopje konnten Auswanderungswillige Formulare kaufen, mit denen sie sich an der großen Lotterie um ein paar tausend "Green Cards" beteiligen. Demnächst werden die SiegerInnen bekannt gegeben. Die Demütigung durch einen solchen Vorgang ist den US-Behörden offensichtlich gar nicht bewusst. Wie auch? Ihre Soldaten stehen doch angeblich deshalb in Mazedonien, um dort die Menschenrechte zu verteidigen.
Hannes Hofbauer
Von Hannes Hofbauer ist gerade eine erweiterte und aktualisierte Auflage seines Buches "Balkankrieg. Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens 1991 - 2001" im Wiener Promedia Verlag erschienen.