Das große Spiel um Zentralasien
Deutsche Interessenpolitik, von einem Insider enthüllt
Schon mancher politische Beamte musste seinen Hut nehmen, nachdem er brisante Details der Regierungspolitik ausgeplaudert hatte. Achim Schmillen, Leiter des Planungsstabes im Außenministerium, ist dagegen immer noch im Amt - obwohl er sich eines unverzeihlichen Vergehens schuldig gemacht hat: Er hat die Grundzüge der deutschen Interessenpolitik gegenüber Zentralasien freimütig dem Publikum bekannt gemacht, und zwar in einem FAZ-Artikel, der lange vor dem angeblich epochalen 11. September erschienen ist. Im Zentrum von Schmillens Überlegungen steht Afghanistan, dessen Regime den geostrategischen und ökonomischen Interessen Deutschlands, Europas und der USA im Wege stehe. Der Westen müsse sich fit machen für ein bevorstehendes "great game": den "hegemonialen Wettlauf um die Kontrolle der gesamten Region".
Es ist ja nicht auszuschließen, dass die Damen und Herren in den hinteren Parlamentsreihen gern glauben, was ihre Vorbeter über den leider unvermeidlichen Krieg gegen den Terror von sich geben; so gern, dass sie schließlich auch bereit sind, Streubomben gegen die afghanische Zivilbevölkerung und Massaker an Kriegsgefangenen zu akzeptieren. Das geschieht dann mitunter - besonders bei Grünens - nach öffentlich zelebrierter "Zerrissenheit" und unter schrecklichen Gewissensqualen, weil man sich vor der terroristischen Gefahr nicht "wegducken" dürfe und zur Abwehr eines größeren Übels leider, leider ein kleineres in Kauf nehmen müsse.
Da es sich bei den Abgeordneten des Deutschen Bundestages immerhin um die "politische Elite" handelt - so Kanzler Schröder im Vorfeld der Vertrauensabstimmung vom 16. November - mag man allerdings so viel Naivität kaum für möglich halten. Wo doch schon die Leserinnen und Leser der FAZ wissen (können), dass Deutschland im "Krieg gegen den Terror" eigene machtpolitische Interessen verfolgt. Davon handelt nämlich Schmillens am 15. Mai 2001 erschienener Artikel - ein wichtiger Beitrag zur politischen Bildung; man kann nur hoffen dass die FAZ-Redaktion noch recht häufig Gastautoren aus den Planungsstäben ihr Insiderwissen präsentieren lässt. Schmillens Schilderung der politischen Lage in Zentralasien (1) orientiert sich noch an den vertrauten Schlagworten: Es ist von "politischer Instabilität" und einem machtpolitischen "Vakuum" nach der "Desintegration" der Sowjetunion die Rede, von der Gefahr des Nationalismus und staatlicher "Abspaltung", von der Herrschaft rivalisierender Clans und von wachsender Korruption. Auch seine Ausführungen über das, was die zentralasiatische Region für westliches Kapital "attraktiv" macht, enthalten Altbekanntes: Da gibt es Öl, Erdgas und andere Bodenschätze; aber statt diese mit Hilfe ausländischer Investoren zu nutzen, setzen die regionalen Machthaber auf Opiumanbau und Waffenhandel. Was nicht nur die schönsten Geschäfte zunichte macht, sondern auch ein Sicherheitsproblem schafft: "Die mit dem Drogengeschäft einhergehende Korruption und organisierte Kriminalität unterhöhlen die ohnehin brüchige Staatlichkeit." Kein Wunder, dass militante islamistische Gruppen, unter ihnen der "saudiarabische Millionär Ibn Ladin", sich dauerhaft in Afghanistan niedergelassen haben und dort ihre terroristischen Operationen in Tschetschenien, den zentralasiatischen Republiken sowie Teilen Chinas (Xinjiang) und Indiens (Kaschmir) vorbereiten.
Wirklich brisant wird es da, wo Schmillen sich auf das Terrain der Geopolitik begibt, um ein europäisches Interesse an der fernen Region und politischen Handlungszwang auch für die Bundesregierung zu begründen. Während das US-amerikanische "Engagement eindeutig auf ökonomische Ziele orientiert" sei, müsse die EU mit mehr Weitblick zu Werke gehen: "Es ist sehr wahrscheinlich, dass die geostrategische Bedeutung der Region künftig die politische, ökonomische und sicherheitspolitische Bedeutung übertreffen wird." Geostrategische Bedeutung? Die Antwort auf die Frage, was damit gemeint sein könnte, bleibt Schmillen nicht schuldig. Dabei fällt auf, dass er gegenwärtige und künftige geopolitische Ambitionen mit einem historischen Rückgriff in eine Epoche begründet, die in der bürgerlichen Geschichtsschreibung als "Zeitalter des Imperialismus" firmiert. Man lese und staune: "Im 19. Jahrhundert gab es einen hegemonialen Wettlauf zwischen Russland und Großbritannien um die Kontrolle der gesamten Region. Diesen Wettlauf nannte man ,great game`. Der Kampf um ökonomische Vorteile, um neue Arbeitsplätze, neue Pipelines, den Energiemarkt und letztlich um politischen und religiösen Einfluss könnte zu einem neuen ,great game` führen."
An dem "großen Spiel" des 21. Jahrhunderts sind viele beteiligt: Russland, die Türkei, China, die USA; alle verfolgen zugleich ökonomische und "sicherheitspolitische" Ziele. Die EU "und auch Deutschland" aber sollen mehr tun. Aber was genau? Schmillen schwadroniert von der "Förderung regionaler Kooperation und Unterstützung für den Zugang zum Welthandel sowie Hilfe bei der Lösung von humanitären, sozialen und ökologischen Schwierigkeiten", er will "die in der Region aktiven Unternehmen" der Öl- und Gasindustrie zur Kooperation "ermuntern". Eine Anweisung für operative Politik ist das nicht - aber die gehört auch nicht in einen FAZ-Artikel. Dass Schmillens Planungsstab sich in internen Papieren deutlicher ausdrückt, ist anzunehmen.
Eine besonders bezeichnende Aussage findet sich aber auch in der für die Öffentlichkeit bestimmten Fassung: Die Zeit drängt! "Russische Fachleute nehmen an, dass sich die Taliban noch im Laufe des Jahres 2001 gegen die Nordallianz durchsetzen", schreibt Schmillen - wie gesagt, im Mai 2001. Dann kommt der 11. September - was für eine Gelegenheit, das Taliban-Regime zu stürzen, die zentralasiatische Region zu "stabilisieren" und Machthaber einzusetzen, die den Interessen des Westens aufgeschlossener gegenüberstehen! "Die Grenzen unserer eigenen Handlungsmöglichkeiten müssen klar sein", schreibt Schmillen. Was umgekehrt auch die Empfehlung einschließt, beherzt zuzugreifen, wenn sich denn die Gelegenheit ergibt, diese Grenzen zu erweitern. Die Bundesregierung hat das getan, als sie sich den USA unaufgefordert als Kriegspartner aufdrängte, um gleich darauf als Ausrichter der Afghanistan-Konferenz den Friedensstifter zu spielen. A great game!
Js.
Anmerkung:
1) Neben Afghanistan meint Schmillen die ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.