Krieg schlägt Castor
Die Anti-Atom-Bewegung stößt im Wendland an ihre Grenzen
Ähnlich wie VertreterInnen der BI Lüchow-Dannenberg und der gewaltfreien Sitzblockade WiderSetzen, zog auch DSe in der letzten Ausgabe (ak 456) ein durchaus positives Fazit aus dem Widerstand gegen den Castor-Transport nach Gorleben. Die Anti-Atom-Bewegung sei keineswegs erlahmt: "Von Frust und Aktionsmüdigkeit war im Wendland jedenfalls kaum etwas zu spüren. Trotz des martialischen Polizeiaufgebotes gelang es DemonstrantInnen immer wieder, Straßen und Gleise für mehrere Stunden zu besetzen." Angesichts des massiven Einbruchs in der überregionalen Unterstützung klingen solche Statements ein bisschen wie das berühmte Pfeifen im Walde. Schlagzeilen wie "Castor-Transport erreicht Gorleben in Rekordzeit", "Krieg schlägt Castor" oder die hämische Bemerkung von Einsatzleiter Hans Reime "wir waren Herr der Straße und Schiene", dürften der realen Lage leider wesentlich näher kommen.
Wohl noch nie war bei einem Castor-Transport nach Gorleben die bundesweite Aufmerksamkeit und das Medieninteresse so gering wie beim diesjährigen Herbst-Castor. Noch im Frühjahr war während der Transporttage der Widerstand gegen den ersten Gorleben-Castor in diesem Jahr das zentrale bundespolitische Ereignis. Die erste Atommüllfuhre nach Aufhebung des zweijährigen Transportstopps und nach Verabschiedung des Atomkonsenses zwischen rot-grüner Bundesregierung und Atomindustrie galt auch als Testfall dafür, ob durch die rot-grüne Atompolitik eine Befriedung des gesellschaftlichen Konfliktes um die Atomenergienutzung gelungen ist. Damals schien das Testergebnis eindeutig: Der rot-grüne Pseudo-Ausstieg hatte den Widerstand eher verstärkt. In diesem Herbst fehlten weitgehend die Ereignisse und spektakulären Aktionen, die dem Castor-Widerstand seinen Eventcharakter verleihen. Dadurch fehlten auch die symbolträchtigen Bilder in den Medien, deren mobilisierende Wirkung nicht unterschätzt werden sollte.
Das von der verschärften Sicherheitslage nach dem 11.09. unbeeindruckte Festhalten von Bundesregierung und niedersächsischer Landesregierung an dem Transporttermin könnte sich auszahlen. Gewisse Abnutzungserscheinungen sind bei den Protesten in Gorleben unübersehbar. Die bundesweite Mobilisierung ins Wendland erlebte beim zweiten Transport in diesem Jahr einen erschreckenden Einbruch. Nur die recht guten regionalen Aktivitäten im Rahmen von WiderSetzen und die Treckerblockaden der Bäuerlichen Notgemeinschaft haben den Gorleben-Widerstand vor einem politischen Desaster bewahrt. Doch auch beim regionalen Protestmilieu ist eine gewisse Überalterung nicht zu übersehen. Das linksradikale Spektrum hat in diesem Herbst das Interesse am Castor-Widerstand nahezu vollständig verloren. Nach den massiven Antiglobalisierungsprotesten in Genua und Göteburg und im Schatten der Terror-Attentate von New York und Washington und des Krieges gegen Afghanistan wurde der Castor-Transport zu einem Nicht-Ereignis. Die Prognose von Polizeieinsatzleiter Hans Reime: "Ich erwarte weniger Masse, aber mehr Militanz", hat sich jedenfalls nur in ihrem ersten Halbsatz bestätigt. Direkt nach dem Transport spekulierten deshalb auch bereits Polizeiführung und niedersächsisches Innenministerium darüber, den Sicherheitsaufwand bei zukünftigen Transporten deutlich reduzieren zu können.
Der Castor-Widerstand im Wendland droht seine Bedeutung als bundesweiter Kristallisationspunkt zu verlieren und zu einem regionalen Ereignis zu werden. Die Proteste dürften dann über eine rein symbolische Ebene nicht mehr hinauskommen. Das mobilisierende politische und materielle Nahziel - die Verhinderung des jeweiligen konkreten Transportes - lässt sich nach den Erfahrungen des Herbstes nicht mehr glaubwürdig aufrechterhalten. Auch der bröckelnde Widerstand gegen die WAA-Transporte nach La Hague und Sellafield spricht für eine erfolgreiche Zermürbungsstrategie der staatlichen Sicherheitsbehörden. Die Fixierung der Anti-Atom-Bewegung auf das Aktionsfeld Castor-Transporte könnte sich also als eine Sackgasse herausstellen.
Für weitergehende politische Ziele, wie die Ablehnung der rot-grünen Atompolitik und die Forderung nach einem sofortigen Atomausstieg, fehlt es scheinbar an geeigneten Angriffspunkten. Die Verabschiedung des Atomkonsenses und die anstehende Novellierung des Atomgesetzes - die einen politischen und rechtlichen Bestandsschutz für die laufenden Atomanlagen garantieren und die Atomindustrie von ihrem ungelösten Entsorgungsproblem befreien - haben sich bisher als wenig mobilisierungsträchtig erwiesen. Die Anti-Atom-Bewegung hat den Widerstand weitgehend an die Umweltverbände delegiert und ist damit gegenüber der rot-grünen Konsensstrategie politisch in die Defensive geraten. Die Bundesregierung konnte einer breiten Öffentlichkeit weitgehend erfolgreich vermitteln, dass es sich bei der Atomenergie um ein Auslaufmodell handelt. Dadurch ist auch die politische Rückendeckung für die Anti-Atom-Bewegung stark geschrumpft. Selbst die aktuelle Debatte über den fehlenden Schutz der Atomanlagen vor Terrorangriffen schafft für Rot-Grün keine grundsätzlichen Akzeptanzprobleme. Das rot-grüne Projekt einer endgültigen Befriedung des gesellschaftlichen Konfliktes um die Atomenergienutzung könnte sich mit einiger Verspätung also doch noch als erfolgreich herausstellen.
Spätestens der im Wahljahr 2002 anstehende nächste Castor-Transport ins Wendland - diesmal mit zölf Behältern - wird zeigen, ob Gorleben endgültig zu einem bloß regionalen Problem geworden ist oder ob eine politische Opposition zur herrschenden Atompolitik sichtbar bleibt. Darüber hinaus ist die Anti-Atom-Bewegung dringend nach neue politische Perspektiven und Aktionsfelder angewiesen. Nur wenn es ihr gelingt, den Konflikt um die Atomenergie an neuen Punkten zuzuspitzen, kann sie wieder politische Attraktivität erlangen und verhindern, selbst zu einem Auslaufmodell zu werden.
Tom Binger