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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 458 / 18.1.2002

Eine präzedenzlose Katastrophe

Yehuda Bauer über Singularität und Vergleichbarkeit der Shoah

Yehuda Bauer, 1926 in Prag geboren und 1939 nach Palästina emigriert, ist einer der renommiertesten Historiker der Shoah. In einem neu erschienenen und sogleich ins Deutsche übersetzten Buch hat er nun eine Art Bilanz seines Forscherlebens vorgelegt.

Das englische Original des Buches trägt den Titel "Rethinking the Holocaust"; in der deutschen Ausgabe - "Die dunkle Seite der Geschichte" - verrät immerhin der Untertitel, worum es geht: "Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen". In einer Anmerkung des Übersetzers Christian Wiese wird zudem erklärt, warum in der deutschen Ausgabe durchgehend von Shoah statt von Holocaust die Rede ist: Das im amerikanischen Kontext gebräuchliche, "aus dem Griechischen stammende Wort Holocaust (,Ganzopfer` - ein sakrales Tieropfer, das vollständig verbrannt wird) birgt ... theologische Implikationen, die das Missverständnis einer religiösen Sinngebung der Vernichtung des europäischen Judentums (im Sinne eines gleichsam sakralen Geschehens, in dem jüdische Menschen geopfert wurden) jedenfalls nicht eindeutig ausschließt. Daher wird in der deutschen Fassung mit Yehuda Bauers Zustimmung konsequent der hebräische Begriff ,Shoah` (,Katastrophe`, ,Zerstörung` ) verwendet, der zugleich seiner Sicht vom Völkermord an den Juden als ,präzedenzloser Katastrophe` entspricht."

In dieser Anmerkung sind zwei grundlegende Thesen Yehuda Bauers angedeutet. Die Shoah ist als ein von Menschen begangener Völkermord prinzipiell erklärbar. Und dieser Völkermord ist präzedenzlos, nicht aber unwiederholbar. Dass sein Interesse nicht allein der historischen Forschung, sondern auch der politischen Vorsorge dient, macht Bauer von Anfang an deutlich, wenn er seine "Vorurteile" benennt: "Die Shoah kann ein Präzedenzfall oder eine Warnung sein. Mein Vorurteil ist in gewisser Weise ein politisches: Ich glaube, wir sollten alles tun, um sicherzustellen, dass sie zu einer Warnung statt zu einem Präzedenzfall wird."

Kritik an Baumann, Aly und Goldhagen

Doch um Lehren ziehen zu können, muss man zunächst verstehen. Im zweiten Kapitel, überschrieben "Ist die Shoah erklärbar?", formuliert Yehuda Bauer Themen und Methoden der Forschung, fasst aber auch Ergebnisse der Geschichtsschreibung zusammen, die ihm als gesichert erscheinen. So gibt er einen auch Laien verständlichen Abriss des jahrelang erbittert geführten Streits der "Intentionalisten" und der "Funktionalisten" unter den Historikern. Im Kern geht es dabei um die Frage, wie die Entscheidung für den Völkermord an den europäischen Juden fiel: auf Befehl und mit zentraler Planung von oben, also letztlich durch Hitler, oder als Ergebnis einer Fülle von Einzelinitiativen unterschiedlicher Instanzen, die schließlich in der "Endlösung" kulminierten. Yehuda Bauer hatte schon 1984, auf dem eigens zu diesem Thema durchgeführten Stuttgarter Kongress "Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg - Entschlussbildung und Verwirklichung" (1) - die Frage gestellt, ob der Streit zwischen Intentionalisten und Funktionalisten nicht letztlich gegenstandslos sei. In seinem neuen Buch bekräftigt er diese Position, indem er die produktiven Anstöße beider Strömungen würdigt, ihnen aber abspricht, ein hinreichendes Erklärungsmodell zu liefern.

Bauers Erklärung integriert beide Ansätze, geht aber in einem wesentlichen Punkt über eine bloße Addition hinaus. Entscheidender Träger der Shoah sei eine "enttäuschte, entwurzelte Intelligenzija" gewesen, eine Gruppe von "Lumpenintellektuellen", die nach der deutschen Niederlage 1918 ein "pseudo-messianisches Regime und einen Führer" suchten und fanden. Wie Hitler, der "als radikalisierender Faktor fungierte", sahen sie in den Juden "die Hauptbedrohung der germanischen, nordischen, ,arischen` Menschheit"; diese galt es zu vernichten, um die Nazi-Utopie der reinrassigen Volksgemeinschaft zu verwirklichen. Eine in ihrem Wahn doch schlüssige Weltanschauung, die Saul Friedländer treffend als "Erlösungsantisemitismus" bezeichnet (2) - aus Bauers Sicht ein "Schlüsselbegriff für das Verständnis nicht nur der Nazi-Ideologie selbst, sondern auch der enormen Anziehungskraft, die sie auf die deutschen Eliten und die Bevölkerung insgesamt ausübte."

Dass es die an der Spitze der NSDAP organisierten Intellektuellen waren, die zu den "wichtigsten Vermittlern mörderischer Anordnungen" wurden, zeigt Bauer an etlichen Beispielen. Er tut das nicht, um die Masse der Mörder, Mittäter und "Zuschauer" zu entlasten, sondern um die spezifische deutsche Arbeitsteilung zu skizzieren: "...sobald der Führer seinen Willen äußerte und eine enthusiastische Klasse gebildeter Menschen ihn unterstützte, war es nicht schwer, die einfacheren Leute zu finden, die das Erschießen und Totprügeln übernahmen und Kinder ermordeten." Diese "einfacheren Leute" waren aber nicht nur autoritätsgläubig, sondern durch einen in der deutschen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten Antisemitismus vorbereitet. Dieser weit verbreitete Antisemitismus, den Bauer "gemäßigt" nennt, und das "Unbehagen" der meisten übrigen Deutschen gegenüber den Juden hätten jede wirksame Opposition gegen den Judenmord verhindert. Dass Opposition möglich war, zeigt Bauer an zwei Beispielen: dem teilweise erfolgreichen Protest der Kirchen gegen die Ermordung Behinderter ("Euthanasie") und den Demonstrationen in der Berliner Rosenstraße Anfang 1943, durch die deutsche Frauen ihre jüdischen Ehemänner aus Gestapo-Haft frei kämpften.

Intellektuelle als Anstifter der Shoah

Die Shoah als ein präzedenzloses historisches Faktum zu verstehen, erfordert für Bauer den Vergleich mit anderen Völkermorden. Hier schrillen bei Linken die Alarmglocken - werden doch Vergleiche mit "dem Holocaust" allzu gern für niedrige Zwecke eingesetzt: etwa wenn das amtierende deutsche Kriegskabinett Soldaten auf den Balkan schicken will oder Nazis das deutsche Menschheitsverbrechen mit dem Verweis auf die Ermordung der nordamerikanischen Indianer zu relativieren versuchen. Und dennoch gilt, was Micha Brumlik in seiner Rezension von Bauers Buch schrieb: "Von Einzigartigkeit (der Shoah) kann nicht sprechen, wer den Vergleich scheut." (taz, 4.12.01) Die Singularität der Shoah, oder genauer: ihre Präzedenzlosigkeit, wird besonders bei einem Vergleich mit dem Völkermord an den Armeniern deutlich, den Bauer als die "nächstliegende Parallele zur Shoah" ansieht. Diesem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts "lagen politische und chauvinistische Motive zugrunde, das heißt, er hatte eine sachliche Basis." Ziel war die Vertreibung der Armenier aus Anatolien und die Expansion des "jungtürkischen" Regimes. Auch die Genozide der Spanier an den Indios hatten praktische Gründe; es ging um Gold und andere Reichtümer, während die zwangsweise Bekehrung zum Christentum lediglich den ideologischen "Überbau" abgab.

Bauer unternimmt noch weitere Vergleiche und zeigt, dass auch der Völkermord der Nazis an den Sinti und Roma für die Mörder nicht den gleichen Stellenwert hatte wie der Mord an den Juden. Dass daraus keine Hierarchisierung der Opfer abgeleitet werden darf, betont Bauer mehrfach.

Aus Bauers Sicht sind es fünf Merkmale, welche die Shoah von anderen Völkermorden unterscheiden und zum weltweit einzigartigen "Symbol des Bösen" machen. Erstens: "Kein bisher geschehener Völkermord basierte so vollständig auf Mythen und Halluzinationen, auf einer so abstrakten, nichtpragmatischen Ideologie, die dann mit äußerst rationalen, pragmatischen Mitteln in die Tat umgesetzt wurde." Zweitens ist die Shoah wegen ihres "globalen Charakters" präzedenzlos - d.h. wegen des Versuchs der Nazis, die Juden weltweit zu verfolgen und zu ermorden. Drittens war die Vernichtung da, wo die Nazis Juden in ihre Gewalt bekamen, total; hier räumt Bauer ein, dass auch die Vernichtung der Kariben durch die Spanier total war - mit dem bedeutsamen Unterschied, "dass die Vernichtung das faktische Ergebnis, niemals aber ausdrücklich Staatspolitik war". Das vierte "Element der Präzedenzlosigkeit": "Weil Juden in der Hölle der Konzentrationslager die unterste Stufe einnahmen, wurden sie Opfer eines beispiellosen Verbrechens der totalen Demütigung und erlitten Schlimmeres als andere Opfer desselben Verbrechens." Das fünfte Element sieht Bauer in der von den Nazis versuchten "Revolution", mit der weltweit das Prinzip der "Rasse" durchgesetzt werden sollte.

Diese Aussagen sind - insbesondere in der hier referierten extremen Kurzfassung - nicht ohne weiteres einleuchtend, sondern diskussionsbedürftig. Bauer verdeutlicht seine Position in den folgenden beiden Kapiteln noch einmal, indem er sie anderen Gesamtdeutungen der Shoah gegenüberstellt. U.a. kritisiert er den polnischen Soziologen Zygmunt Baumann, der die Shoah aus der "Moderne" ableitet, und den deutschen Historiker Götz Aly, der als extremer Funktionalist die nazistische Bevölkerungspolitik in Osteuropa für das grundlegende Faktum hält, das den Mord an den Juden zwangsläufig nach sich gezogen habe. (3) Aufschlussreich ist auch Bauers Auseinandersetzung mit Daniel Jonah Goldhagen. Wie Bauer betont auch Goldhagen die Bedeutung der Ideologie, seine Behauptung aber, in der deutschen Gesellschaft sei seit Ende des 19. Jahrhunderts ein radikaler, "eliminatorischer" Antisemitismus Konsens gewesen, hält Bauer für falsch. Zur Begründung verweist er u.a. auf die Wahlergebnisse vor 1933. Noch einmal kommt er auf seine These von der Schlüsselstellung der intellektuellen Elite zurück und hält Goldhagen vor: "Wenn Goldhagen von einer weit verbreiteten gesellschaftlichen Mordlust gegenüber Juden ausgeht, so entlastet er letztlich die konkreten Gruppen, die radikale antisemitische Ansichten vertraten - die Akademiker, die Kleriker und am Ende die Nazis selbst."

Yehuda Bauers sehr lesenswertes Buch bietet enorm viele Anregungen. So enthält es auch differenzierte Betrachtungen über die Opferseite und widerlegt die immer noch verbreitete Ansicht, die Juden hätten sich "wie die Lämmer zur Schlachtbank" führen lassen. Aber auch die hier referierten Erklärungsmodelle, die Bauer selbst als keineswegs endgültig begreift, sollten nicht nur in der historischen Fachpresse weiter diskutiert werden.

Ein Mangel seiner Argumentation soll hier schon angesprochen werden: Bauer erklärt nicht, was denn die Nazis für die "gemäßigten" Antisemiten aus den herrschenden Eliten so attraktiv machte, dass sie Hitler 1933 an die Regierung brachten und zur Alleinherrschaft ermächtigten. Der Erlösungsantisemitismus, die Utopie der Rassenherrschaft oder andere wahnhafte Ideologien waren es wohl kaum - sondern vielmehr die Aussicht, unter Hitler innen- wie außenpolitisch den großen Wurf zu machen. Daran zu erinnern ist nicht deshalb falsch, weil Dimitroff und andere minderbegabte "Faschismustheoretiker" diese "rationale" Seite der Nazi-Diktatur verabsolutierten. Insofern bleibt auch die Kritik bestehen, die Kt. in ak 395 an Yehuda Bauers Grundposition formulierte: "Das monokausale Erklärungsmuster, das den Nationalsozialismus fast nur noch als Instrument zur ,Judenvernichtung` begreift, greift sichtlich ebenso zu kurz wie das ökonomistische Modell, das den Holocaust nur noch als Spezialfall imperialistischer Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Raumpolitik interpretiert." (4)

Js.

Anmerkungen:

1) Eberhard Jäckel/ Jürgen Rohwer: Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Entschlussbildung und Verwirklichung; Frankfurt am Main (Fischer) 1987

2) Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939; München (Beck) 1998; vgl. Rezension in ak 423

3) zu Alys Position vgl. "Ökonomie und Politik der ,Endlösung`" in ak 375

4) ak 395, Rezension von Yehuda Bauers Buch "Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945"; Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996

Yehuda Bauer: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen; Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2001; 384 Seiten, 64 DM