"Die Rückseite der Weltbürgergesellschaft"
Hito Steyerl über Zivilisation und Barbarei, Liberalismus und Terror
Westen gegen Islam, Zivilisation gegen Barbarei, antideutsche Linke gegen den Rest der Welt - während Kategorien, Feindbilder und Heldenerzählungen wuchern, wächst gleichermaßen die linke Orientierungslosigkeit. Im Gespräch mit Tom Binger sichtet die Berliner Autorin und Filmemacherin Hito Steyerl den Dschungel kulturalistischer Ressentiments in- und außerhalb der Linken.
Nach den Attentaten vom 11.September erlebten die Huntington-Thesen vom "Kampf der Kulturen" in der bellizistischen Fraktion der deutschen Linken ein überraschendes Revival. Die linken Kriegsbefürworter interpretieren die augenblickliche weltpolitische Lage auf der Folie eines Gegensatzes zwischen westlicher Zivilisation und islamistischer Barbarei. Taugen diese Kategorien zur Aufklärung der aktuellen Konfliktlage?
Hito Steyerl: Kulturalisierung ist ein Ausdruck politischer Hilflosigkeit - die Ablösung der Analyse durch das Ressentiment. Die Kulturalisierung der gegenwärtigen politischen Situation weist jedoch über die bloße Neuauflage kultureller Stereotypen hinaus. Was sich darin artikuliert, ist nicht etwa eine mögliche Analyse bestimmter kultureller Formen, sondern die tiefe Krise der Linken. Deren Niederlage erweist sich in der widerspruchslosen Übernahme hegemonialer ideologischer Kategorien wie "Zivilisation oder Barbarei". Anstatt über kulturelle Identitäten zu spekulieren, sollte die Linke lieber die Frage stellen, wie in der aktuellen Situation emanzipatorische und reaktionäre Kräfte verteilt sind. Bei einer solchen Fragestellung ergäbe sich ein ganz anderes Bild - nämlich das einer Konfrontation zwischen unterschiedlichen reaktionären Formationen: Klerikal-reaktionäre Partikularisten fordern liberal-reaktionäre Universalisten heraus. Dieses Muster war in Abwandlungen auch schon in anderen Kriegen der letzten zehn Jahre wirksam - es kennzeichnet vielleicht generell die Konflikte nach dem Verschwinden der sozialistischen Welt. Die Frage kann daher nicht lauten, welche reaktionäre Formation vorzuziehen ist, sondern welche Alternative dazu formuliert werden kann. Dass selbst diese Frage unterbleibt, beweist die massive Krise der Linken.
Der blinde Fleck der Kulturalisierung dieser politischen Momente als "Westen" und "Islam" liegt darin, dass jenseits dieser Kategorien nichts mehr zu existieren scheint. Dort werden nur Vaterlandsverräter, Gottlose, Sympathisanten und anderer Abschaum verortet. So manifestieren sich derzeit Konflikte am massivsten zwischen den Kategorien "Westen" und "Islam"; denn dieser Zwischenraum wird durch alle reaktionären Formationen bedroht. Ich denke an die linken Exilanten, die vor religiösen Fundamentalismen geflohen sind und jetzt im sogenannten Westen unter rassistischem Generalverdacht stehen. Oder an die linken afghanischen Feministinnen, die von allen Seiten als "Russenhuren" beschimpft werden. In diesem Ausdruck bündelt sich die einmütige Abscheu vor ernsthaft emanzipatorischen Positionen.
Wenn momentan überhaupt eine symbolische Position der Emanzipation auszumachen ist, dann diejenige, die von allen Seiten konsequent ausgeschlossen und bekämpft wird. Das ist die einzige Position, mit der ich mich identifizieren kann. Auf die Frage "bist du Amerikanerin oder Terroristin?" kann ich daher nur eine Antwort geben: Dann lieber eine Russenhure.
Gibt es aber nicht tatsächlich eine Art von Dialektik zwischen Zivilisation und Barbarei, oder präziser zwischen neoliberaler Globalisierung und völkischer Stammespolitik?
Für den deutschen Kontext lässt sich sowas sicherlich präzise beschreiben. Die "Dialektik der Aufklärung" hat ja schon 1944 versucht, genau dies herauszuarbeiten: wie die Logik von Aufklärung und kapitalistischem Liberalismus auf der umgekehrten Seite so etwas wie eine völkische Stammesgesinnung hervorgebracht hat, die sich dann faschistisch artikuliert hat. Ich habe versucht, genau diese Dialektik in Anschlag zu bringen, als es darum ging, rassistische Gewalttaten in Deutschland zu erklären. Allerdings gibt es auch ungeheuer viele Schnellschüsse, die versuchen diese Dialektik auf die aktuelle Weltlage zu übertragen. Da muss ich erst einmal passen. Ich halte diese These nicht für eine Art Weltformel. Wir werden abwarten müssen, dass jemand auf seriöse Weise versucht, dieses Modell auf die gegenwärtige Situation zu übertragen.
Was wir allerdings jetzt schon beobachten können, ist, dass unter der Perspektive dieser Fragestellung eben jenes politische Moment, das in den Kulturalisierungen so stark verdrängt wird, in seiner banalsten Form wieder auftaucht. Wenngleich wir nicht genau beantworten können, ob und wie die Expansion des westlichen Liberalismus auf kultureller Ebene eine religiöse Reaktion hervorgebracht hat, können wir doch festhalten, dass die USA reaktionäre Islamisten entwickelt, bewaffnet und finanziell unterstützt haben. Ich glaube nicht, dass dies auf eine kulturelle Eigenschaft der Vereinigten Staaten, geschweige denn des "Westens" zurückgeht, sondern auf eine politische Entscheidung. Allgemein verfolge ich mit Erstaunen, mit welcher Windeseile die These von Adorno und Horkheimer in Verruf gerät. Ich denke, die beiden wären sicherlich sehr verblüfft darüber, dass die Kernthese der Dialektik der Aufklärung mittlerweile schon fast als Sympathiebekundung für islamistischen Terror, oder gar für antisemitische Gewalt per se gewertet wird.
Ist dieser Konflikt zwischen demokratischem Liberalismus und religiösem Fundamentalismus nicht auch Ausdruck eines neuartigen globalen Klassenkonfliktes?
Ich werde jetzt mal so eine Art Küchenlogik anwenden: Wenn auf der einen Seite eine Terrororganisation steht, die über extrem viel Geld verfügt und deren maßgebliche Exponenten durchaus der globalen Bourgeoisie zuzurechnen sind und auf der anderen Seite ebenso superreiche Erben stehen, die die internationale "Koalition gegen den Terrorismus" anführen, dann lässt sich das nicht so einfach in eine Klassenkampflogik übersetzen. Es geht hier um eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Eliten. Es wäre verfehlt, die Attentäter mit Kämpfern gegen globale Unterdrückung zu verwechseln. Denn sie wollen offensichtlich nicht die Strukturen der Ausbeutung ersetzen, sondern nur ihr aktuelles Haupt-Subjekt: den Westen.
Einen globalen Klassenkonflikt gibt es derzeit nicht - aber nicht etwa, weil es keine massive Polarisierung und Verelendung gäbe. Es gibt ihn nicht, weil die verschiedenen internen und externen Peripherien so stark räumlich abgeschottet und kulturell fragmentiert sind, dass sie sich kaum jenseits reaktionärer und kulturalisierter Identitätspolitiken formieren können. Das ist leider nur ein weiterer Beweis für die Krise der Linken - und dafür, wie illusionär ihre Vorstellung ist, Emanzipation durch partikularistische Formen nationaler, religiöser oder kultureller Selbstbestimmung zu verwirklichen. Stuart Hall hat das im Bezug auf den algerischen Dekolonialisierungsprozess angemerkt, in dem die FLN sich an patriarchale islamische Kräfte anbiederte. Er sagte: "Die Revolution hat versucht, die Kultur zu benutzen - aber die Kultur hat sich an der Revolution gerächt."
Zahlreiche, nicht nur antideutsche Linke halten es ja in der aktuellen Lage für notwendig, das "Glücksversprechen der Moderne" gegen einen vormodernen, archaischen Islamismus zu verteidigen. Siehst auch du hier ein vordringliches linkes Betätigungsfeld?
Unbedingt. Ich finde die Perspektive der Emanzipation und der Gleichberechtigung so wichtig, dass sie gegen jede Bedrohung verteidigt werden sollte. Auch gegen die westlichen Regierungen, die jene zivilisatorischen Maßstäbe, die sie verteidigen wollen, momentan in Windeseile deregulieren. Das betrifft so fundamentale Elemente wie die Gewaltenteilung, die Genfer Konvention, den Verzicht auf Kriegsverbrechen, maßgebliche Grundsätze der Rechtsprechung, des Völkerrechts und wichtige Bürgerrechte. Diese Minimalansprüche an Zivilisation sollten verteidigt - bzw. müssen de facto erst erkämpft werden. In der Konsequenz heißt das: Wir müssen strikt zwischen der Moderne und ihrem "Glücksversprechen" unterscheiden. Das Charakteristikum der Moderne ist bekanntlich, dass sie geradezu darin bestand, ihr Glücksversprechen nicht umzusetzen - also zwar allgemein die Rechte der Menschen auszurufen, aber immer wieder bestimmte Menschengruppen zu dehumanisieren und somit vom Menschenrecht auszuschließen. Wir haben das etwa während der Belagerung von Kunduz erlebt, die von westlichen Medien ebenso kommentiert wurde, wie die Belagerung von Srebrenica durch serbische Medien: als unvermeidliche Liquidierung islamistischer Extremisten. Diese Haltung wurde Serben damals als finsterste Barbarei ausgelegt.
Die Erfindung immer neuer Kategorien völlig entrechteter Unmenschen ist ein integraler Bestandteil der Moderne. Wir müssen die Erfüllung jenes Glücksversprechens also gegen die der Moderne eigene politische Dynamik erkämpfen.
Ist die Beschwörung der Figur des Schläfers im aktuellen Sicherheitsdiskurs der Startschuss für einen neuen antiislamischen Rassismus in den westlichen Ländern?
Die Figur des Schläfers ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die extreme Flexibilität rassistischer Vorstellungen. In den letzten Jahren haben sich Rassismen hauptsächlich auf arme Leute konzentriert, auf Leute die keine Bildung hatten oder die man als "unnütz" empfand. Dagegen wurde als positive Projektionsfläche der nützliche, gebildete, finanziell unabhängige, technisch begabte Ausländer aufgebaut. Interessanterweise ist jetzt genau diese Figur zum absoluten Feindbild mutiert: als seelenloser Roboter, der von bärtigen Priestern ferngesteuert wird. Diese Figur dient dazu, das radikal Böse zu symbolisieren - als abstrakte, hochmobile, wohlhabende, identitäts- und wurzellose, intelligente, aber völlig verbissene Verschwörung im globalen Maßstab. Ironischerweise werden hier Elemente antisemitischer Stereotypen aufgegriffen, was wiederum nicht verwunderlich ist, denn gerade antisemititsche Stereotypen transportieren traditionellerweise Ressentiments gegen ethinisierte Besserverdiener.
Was bedeutet eigentlich die momentane Aufhebung der Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit für die zukünftige Entwicklung der westlichen Staaten?
Es gab ja mal eine Utopie der Zivilgesellschaft. In dieser Utopie sollten die Nationalstaaten aufgelöst werden. Es sollte dann eine weltweite Gemeinschaft von Kosmopoliten entstehen, in der die Menschenrechte durchgesetzt werden und in der das "Glücksversprechen" endlich erfüllt wird. Jürgen Habermas nannte das die "Weltbürgergesellschaft", also die globale Integration der Demokratien.
Was wir jetzt haben, ist die Rückseite dieser Weltbürgergesellschaft: nämlich eine globale Integration, aber nicht im Zeichen der Zivilgesellschaft, sondern im Zeichen eines transnationalen Kriegsrechtes. Diese transnationale Sphäre ist jetzt geschaffen worden. Aber keineswegs als eine Sphäre der globalen Demokratie, sondern im Gegenteil als eine Sphäre der globalen Willkür und eines allgegenwärtigen Ausnahmezustandes, in dem es jederzeit möglich ist, das Völkerrecht und nationale Gesetze zu brechen. Dabei entsteht eine internationale Hierarchie: Die mächtigen Staaten bekommen "justice" - die anderen sollen gefälligst Frieden mit inneren oder äußeren Opponenten schließen, wie zum Beispiel die mazedonische Regierung. Dass die ihr "Recht" bzw. ihre bisherige nationale Verfasstheit behalten will, wird ihr jedoch als unzivilisierte Rückständigkeit ausgelegt. Man stelle sich nur vor, jemand würde George W. Bush empfehlen, doch mal gefälligst einen Friedensprozess mit der Al Kaida anzustreben. Nur die Mächtigen haben Anspruch auf "Gerechtigkeit", das heißt die Durchsetzung ihrer Rechtsauffassung - die anderen bekommen eine als "Frieden" bezeichnete Dauerkrise.
Was ist die besondere Rolle Deutschlands in der aktuellen weltpolitischen Konstellation?
Was mich daran interessiert, ist die Ambivalenz dieser Rolle. Einerseits heißt das, dass sich Deutschland mit seiner Beteiligung an diesem Krieg, genauso wie übrigens schon im Kosovo-Krieg, endgültig an die Seite des Westens stellt. Aber dies bedeutet etwas anderes als vor 15 Jahren. Mit der Westbindung wurde bislang automatisch der Verzicht Deutschlands auf eine eigene Großmachtrolle verknüpft. Aber gerade diese Verknüpfung löst sich jetzt auf. Denn im Rahmen der Westbindung kann Deutschland versuchen, einen Schlussstrich unter seine bisherige internationale Zurückhaltung zu ziehen und mehr Einfluss zu erlangen. Ein Sonderweg ist gar nicht mehr erforderlich, denn die nationalsozialistische Vergangenheit stellt keinen Hinderungsgrund mehr dar, sondern im Gegenteil eine besondere Qualifikation für Militäreinsätze. Praktisch gesehen heißt das: Now they can have their cake and eat it, too. Wenn die Deutschen mal wieder irgendwo einen neuen Hitler entdecken, habe ich das Gefühl, sie hoffen damit vor allem zu beweisen, dass ihr eigener gar nicht so schlimm war.