Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 458 / 18.1.2002

Tage der Hoffnung und des Zorns

Argentinien zwischen riots und Depression

In der "Kornkammer Südamerikas" musste im Dezember 2001 ein Teil der Bevölkerung hungern. Von 36 Millionen EinwohnerInnen leben 15 Millionen unter dem offiziellen Existenzminimum. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 20%. Sozialer Sprengstoff in einem Land, das sich auf dem Sprung in den Club der Großen wähnte. Soziales Elend und leere Versprechungen und absehbar keine Veränderungen zum Positiven führten zu Massenaufständen in Buenos Aires und im Landesinneren.

Fernando de La Rua, ein konservativer Vertreter der bürgerlichen UCR (Union Civica Radical), hatte große Ziele vor Augen. Überzeugt von der Idee, dass die Probleme Argentiniens nur finanzieller Art waren, erhob er die pünktliche Zahlung der Verbindlichkeiten des argentinischen Staates zum obersten Mantra seines Wirkens. Angetreten war der ehemalige Senator, Bundesabgeordnete und Bürgermeister der Stadt Buenos Aires mit dem Versprechen, "das Fest für Wenige" zu beenden.

Womit er den Konsumrausch einer Minderheit der argentinischen Bevölkerung während der Amtszeit seines Vorgängers Carlos Menem meinte. Denn immerhin profitierten 20% der Bevölkerung in der ersten Hälfte der 90er-Jahre in einem bisher nicht gekannten Ausmaß von der eingedämmten Inflation, der Privatisierung von Staatseigentum und der Korruption.

So sollen bei der Privatisierung der staatlichen Fluggesellschaft "Aerolineas Argentinas" ca. 70 Millionen US-Dollar in die Taschen von Regierungsmitgliedern geflossen sein. Die Erlöse aus dem Ausverkauf staatlichen Eigentums wurden allerdings nicht zur Begleichung der Auslandschulden benutzt. Stattdessen wurden die Mittel für Erziehung, Gesundheitsvorsorge und soziale Dienste gestrichen. Aber in keinem Land der Welt gab es einen so hohen Pro-Kopf-Konsum an "Versace"-Produkten. Der publizistische Apparat des Menemismus überzeugte die ArgentinierInnen davon, nicht mehr in einem "Schwellenland" zu leben, sondern ein Teil der "ersten Welt" zu sein.

Ende des neoliberalen Projektes

Als sich auf Grund der Finanzkrise Mexikos 1995 die Finanzspekulanten aus ganz Lateinamerika zurückzogen, erlebte das neoliberale Modell menemistischer Prägung seine erste Krise. Doch Argentinien wurde von den internationalen Finanzinstitutionen und der Weltbank zum "Musterschüler" auserwählt. Der IWF genehmigte ständig neue Kredite für das südamerikanische Land. Mit der selben Regelmäßigkeit verfehlte die argentinische Regierung die mit dem IWF vereinbarten Wirtschaftsziele. Und jedes Jahr wurden neue Anpassungsprogramme beschlossen, bei denen die Mehrheit der Bevölkerung die Leidtragende war. So wurde z.B. eine privates Rentensystem ins Leben gerufen bei gleichzeitigem Entzug der Finanzierung des staatlichen Rentenapparates. Kündigungsschutz oder Sicherheit am Arbeitsplatz wurden durch gesetzliche Maßnahmen so weit verwässert, dass sie ihre Bedeutung verloren.

Begleitet wurde diese Entwicklung durch ein radikalen Umbau der argentinischen Justiz. Menem erhöhte die Anzahl der Richter beim Obersten Gericht, um sich eine eigene Mehrheit zu verschaffen. Die letztinstanzliche Sicherheit in Sachen Straflosigkeit war absolut notwendig, denn die 90er-Jahre wurden zu einem "Jahrzehnt der Korruption": Beihilfe zur Drogengeldwäsche auf höchster Regierungsebene, illegaler Waffenhandel, Goldschmuggel in die USA und die Etablierung eines "parallelen Zolls" auf nationaler Ebene waren einige der bemerkenswertesten Wirtschaftsverbrechen. Die Bombenattentate gegen die israelische Botschaft (1992) und das jüdische Gemeindezentrum AMIA (1994), die Ermordung des Journalisten Cabezas, die angeblichen Selbstmorde der in Regierungskriminalität verwickelten Alfredo Yabran und Marcelo Cattaneo durften nicht endgültig aufgeklärt werden, denn die Täter oder ihre Helfer saßen nicht weit von den Machtzentren des Landes. Die Polizeikräfte bekamen freie Hand, um die Bevölkerung in Schach zu halten. Die Ermordung von Jugendlichen in den Großstadtvororten oder die Anwendung von Folter kamen wieder verstärkt zur Anwendung.

Bereits 1997 entschied sich eine Mehrheit der argentinischen WählerInnen für eine Alternative zum Menemismus. Die damals oppositionelle UCR und die neu gegründete FREPASO (eine gemäßigte Mitte-Links-Koalition) bildeten eine erfolgreiche Wahlallianz.

Niemand erwartete grundlegende Reformen, aber der UCR-Kandidat de La Rua selbst hatte Veränderungen angekündigt, die die gröbsten Wunden des Neoliberalismus heilen sollten. Sein fast langweiliger Pragmatismus schien eine willkommene Abwechslung nach einer Dekade menemistischer Selbstdarstellung.

Eine verlorene Chance

Doch schon kurz nach seiner Amtseinführung bewies der konservative Politiker, dass eine Veränderung der Leitlinien des menemistischen Argentiniens nicht in seinen Plänen stand: Die Kürzung der Löhne und Gehälter der Staatsangestellten, ein weiteres Aufweichen der Arbeitsgesetzgebung (das nur mit Hilfe von Schmiergelder die parlamentarischen Hürden überwand) und als letzte Rettung die Ernennung des menemistischen Wirtschaftsministers Domingo Cavallo. Zwischen dem "wilden" Neoliberalismus eines Carlos Menem und dem "gemäßigten" eines Fernando de La Rua war kaum ein Unterschied zu erkennen. Der Kampf gegen die Korruption, eines der stärksten Wahlargumente der antimenemistischen Koalition, wurde nach kurzer Zeit aufgegeben.

Der erste Wirtschaftsminister der Regierung de La Rua, Jose Luis Machinea, hatte zwischen Dezember 1999 und März 2001 noch versucht, die Quadratur der Kreises zu bewerkstelligen. Mit seiner leicht keynesianischen Einstellung erregte er bei den Hütern des neoliberalen Fundamentalismus Verdacht, die deshalb aktiv an seiner Demontage arbeiteten. Mit dem partiellen Rückzug der FREPASO aus der Regierung verlor er wichtige Unterstützer und trat im März 2001 zurück.

Die Ernennung von Domingo Cavallo zum Wirtschaftsminister veränderte die regierende "Allianz". Die fortschrittlichen Vertreter der UCR nahmen ihren Hut und die FREPASO verlor fast jeden Einfluss auf Regierungsentscheidungen. Cavallo war nicht nur der menemistische Wirtschaftsminister, der die Wirtschaft des Landes nach neoliberalen Vorstellungen neu geordnet hatte. In seiner ersten öffentlichen Tätigkeit (noch unter der Militärdiktatur 1982) hatte er als Präsident der argentinischen Zentralbank die Schulden privater Unternehmer durch staatliche Bürgschaften gedeckt.

Seine ersten Äußerungen gaben zwar Grund zur Hoffnung, dass er angesichts der Lage auch staatliche Instrumente zur Belebung der Wirtschaft benutzen wollte, aber letztendlich entschied er sich, die Interessen der Gläubiger Argentiniens zu übernehmen. Mit dem Austausch vom Schuldscheinen des Staates versuchte er, kurzfristige in langfristige Verbindlichkeiten zu verwandeln, erhöhte aber dabei die Gesamtschulden des Staates. Bei diesen Transaktionen verdienten besonders die beteiligten Banken saftige Provisionen.

Die Rezession setzte sich fort und die Staatseinnahmen sanken weiter. Die Neuaufnahme von Krediten wurde immer schwieriger, die Zahlungsunfähigkeit immer wahrscheinlicher. Die argentinischen Anleger befürchteten, dass ihr Festgeld vom Staat beschlagnahmt werden könnte, um die Staatsschulden zu begleichen. Bereits 1991 hatte der damalige Wirtschaftsminister Erman Gonzalez alle Geldanlagen über einem Wert von 10.000 US-Dollar nur noch in Form von Schuldscheinen des Staates auszahlen lassen. Zwischen März und Anfang Dezember 2001 zogen die argentinischen SparerInnen mehr als 17 Milliarden Dollar von ihren Konten ab. Eine weiterer Aderlass hätte für mehrere Finanzinstitute den Kollaps gebracht, und so beschloss Cavallo, ein weiteres Mal den edlen Ritter der Finanzwelt zu spielen. Per Regierungsverordnung schränkte er die Verfügbarkeit der Geldanlagen ein. Darüber hinaus sollten alle finanziellen Transaktionen - in einem Land, in dem die Schattenwirtschaft ca. die Hälfte des Bsp. erwirtschaftet - über das Bankensystem durchgeführt werden.

Diese Entscheidungen entfremdeten definitiv die argentinischen Mittelschichten vom Neoliberalismus. Zum Hunger der ärmsten ArgentinierInnen gesellte sich die Wut und der Zorn der noch Besitzenden. Ab Mitte Dezember 2001 wurden an verschiedenen Orten des Landesinneren Lebensmittelgeschäfte geplündert. In der Vergangenheit wurden diese sozialen Explosionen durch Verteilungsaktionen der Bezirks- und Provinzregierungen besänftigt, aber die Zentralregierung hatte schon seit Monaten die Überweisungen für soziale Zwecke gekürzt oder ganz eingestellt. Am 17.12. fanden im Großraum Buenos Aires die ersten Supermarktüberfälle statt.

Der Ritt in die Katastrophe

Am Abend des 19.12. wandte sich Präsident de La Rua über das Fernsehen an die Bevölkerung. Erwartet waren Ankündigungen über eine Wende in der Wirtschaftspolitik oder der Rausschmiss Cavallos. Aber de La Rua versuchte nur, seine Autorität durch die Ausrufung des Ausnahmezustandes zu festigen. Diese Ankündigung brachte das Fass zum Überlaufen und in der selben Nacht gingen mehrere Tausend ArgentinierInnen auf die Straße, um ihre Wut zu äußern. Der 20.12. wurde zum Tag des Zorns in Argentinien. Während in den Außenbezirken und zum Teil auch in der Innenstadt von Buenos Aires die Ärmsten der Armen ihren gerechten Anteil am Wohlstand gewaltsam an sich rissen, tobte im Zentrum der Bundeshauptstadt der Straßenkampf. Die Regierung hatte befohlen, die Plaza de Mayo frei von Demonstranten zu halten, was zu einer Gewaltorgie der Bundespolizei führte. Acht Tote in unmittelbarer Umgebung des Regierungssitzes waren der blutige Abschied des Fernando de La Rua. Bei den Plünderungen, die von manchen Kommentatoren als "Krieg der Ärmsten gegen die Armen" bezeichnet wurden, starben 23 weitere Menschen.

Der vorzeitige Rücktritt von Fernando de La Rua zeigte, dass die UCR nicht in der Lage ist, Argentinien in Krisenzeiten zu regieren. Die logische Konsequenz aus dieser Tatsache war die Machtübernahme durch die Peronisten (Partido Justicialista). Aber diese populistische Partei befindet sich - teilweise schon seit dem Tod ihres Gründers Juan Peron - in einer Identitätskrise. Als am 21.12. die Macht wie eine reife Frucht in ihren Schoß fiel, war sie heillos zerstritten. Zum Teil hat dies ideologische Gründe, zumeist sind es jedoch reine Machtinteressen der Partei- und Provinzfürsten.

Die Stunde der Peronisten

Zunächst wurde mit Adolfo Rodríguez Saá ein Kandidat zum Präsidenten ernannt, der keine große Hausmacht besaß. Vom ersten Tag an agierte er so, als ob er für längere Zeit die "Casa Rosada" (Regierungssitz) nutzen würde. Die Ernennung dubioser Berater, die unglaubwürdigen Ankündigungen, die Auslandsschulden auszusetzen und dadurch eine Million Arbeitsplätze zu schaffen sowie, eine neue Währung einzuführen, letztendlich aber die mangelnde Unterstützung seiner Partei zwangen ihn schon nach einer Woche zum Rücktritt.

Mit der Wahl des Senators Eduardo Duhalde zum Präsidenten durch das Parlament dürften sich die Erwartungen der Bevölkerung nach Verbesserung ihrer Lebenslage kaum erfüllen. Duhalde verfügt über ein reichhaltiges politisches Vorstrafenregister: Zwischen 1989 und 1995 war er unter Menem Vizepräsident der Republik, zwischen 1995 und 1999 Gouverneur der größten Provinz des Landes, Buenos Aires. Besonders als Gouverneur zeigte er sein politisches Selbstverständnis: Seine Ehefrau baute ein soziales Hilfsnetz auf, um die sozialen Brandherde unter Kontrolle zu halten. Duhalde rüstete gleichzeitig die Polizei der Provinz Buenos Aires zu einem schießwütigen Haufen Verbrecher auf. Drogenhandel, illegales Glücksspiel, Prostitution - fast alles wurde unter Duhalde von der berühmt-berüchtigten Polizei der Provinz Buenos Aires kontrolliert. Die Mischung aus sozialer und polizeilicher Kontrolle war das notwendig Handwerkzeug, um die neoliberale Wende in Argentinien durchzusetzen.

Ob man mit einer solchen politischen Biografie die Wende in Argentinien schaffen kann?

Fest steht, dass die argentinische Bevölkerung bereit ist, für ihre Interessen zu kämpfen. Zwar agieren die Armen und die Mittelschichten bisher noch getrennt voneinander und es fehlen die Katalysatoren, um diese sozialen Akteure politischen Einfluss gewinnen zu lassen. Die Hoffnungen der Bevölkerung Argentiniens und die Vorstellungen der regierenden politische Klasse lassen sich jedoch kaum noch in Einklang bringen.

Roberto Frankenthal