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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 458 / 18.1.2002

Zivilgesellschaft, rechtsextrem

Hegemonie-Strategien von Nazis in Mecklenburg-Vorpommern

Im "grünen Land am blauen Meer" findet man außer landschaftlichen Schönheiten noch mehr: eine brisante Melange aus rechtsextremen Einstellungen quer durch alle Alters- und Bevölkerungsschichten, eine in der Jugendkultur gut verankerte Neonazi-Subkultur und eine organisierte rechtsextreme Szene, die diese Bedingungen gut zu nutzen weiß.

Im Jahr 2000 traten und knüppelten Rechtsextreme vier Obdachlose zu Tode. Der Algerier Mohammed Belhadj wurde im Sommer 2001 mit einem Stein erschlagen. Angeblich hatte er versäumt, seinen Mördern das versprochene Haschisch zu beschaffen. Mitglieder der rechten Szene brachten den alkoholkranken Rentner Fred Blanke im selben Jahr durch Tritte und Schläge mit Stuhlbeinen um. Er hatte sich geweigert, ihnen Geld zu geben. Rechtsextreme Gewalt ist in Mecklenburg-Vorpommern nicht nur besonders verbreitet, sie ist auch besonders brutal.

Statistisch ist Mecklenburg-Vorpommern nach Sachsen-Anhalt das Bundesland mit der im Verhältnis zur Bevölkerungszahl höchsten Rate rechtsextremer Straftaten. "In keinem anderen Bundesland geraten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Straftaten so viele Jugendliche ins Visier der Staatsanwaltschaften wie in Mecklenburg-Vorpommern. Besorgnis erregend ist zudem, dass immer mehr Ausländer Opfer rechtsextremer Straftaten werden", berichtet der Generalstaatsanwalt des Landes, Martensen, am 8.8.01 in der lokalen Schweriner Volkszeitung.

Extrem brutale Gewaltverbrechen sind aber bloß die Spitze des Eisberges. Jeder Blick in die Regionalzeitungen des Landes zeigt: Rechtsextreme Aktivitäten gehören zum gesellschaftlichen Alltag. Antisemitisch motivierte Friedhofsschändungen, Prügeleien und Einschüchterungsversuche auf Dorffesten, Neonazi-Aufmärsche und rechtsextreme Flugblatt-Aktionen - die Meldungen wiederholen sich. Die NPD gründete in Greifswald eine Bürgerinitiative "gegen den Zuzug von Ausländern"; in Karlsberg organisierte sie eine Unterschriftenaktion gegen die Unterbringung von AussiedlerInnen aus Russland; im Sommer 2001 wurden mit ihrer Unterstützung zwei rechte Schüler-Initiativen gegründet; eine Schülerzeitung bringt rechtsextreme Propaganda unter Kinder und Jugendliche.

"Gemeinsam was erleben"

Organisierte Neonazis finden in Mecklenburg-Vorpommern ein freundliches Klima. Wichtige Versatzstücke rechtsextremer Ideologien sind Konsens in großen Teilen der Bevölkerung. Problematisch ist aus der Sicht vieler BürgerInnen lediglich die extreme Gewaltbereitschaft der Jugendlichen. Besonders die Verknüpfung von rassistischen "Überfremdungsfantasien" mit dem Thema Arbeitslosigkeit ist eines der Agitationsfelder, auf dem sich Neonazis harmonisch im Einklang mit der Mehrheitsmeinung befinden. Studien zur Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in Mecklenburg-Vorpommern zeichnen ein bedrückendes Bild: 16 Prozent der Gesamtbevölkerung quer durch alle Altersschichten teilen rechtsextreme Weltbilder. Bei den Jugendlichen gehen rund 30 Prozent mit rassistischen und rechtsextremen Weltbildern d'accord, knapp 36 Prozent sind diesbezüglich ambivalent. Nur 34 Prozent artikulieren gegenüber rechtsextremen Aussagen eine eindeutig ablehnende Haltung. PädagogInnen wie VerfassungsschützerInnen stellen übereinstimmend fest, dass die organisierte Skinheadszene immer jünger wird. Neonazis versuchen schon 13- und 14-Jährige zu agitieren und in ihre Cliquen einzubinden.

Rechte Einstellungen jenseits von organisierter Mitgliedschaft in einer Kameradschaft oder Partei sind völlig normal und werden folglich von Jugendlichen nicht als etwas Besonderes wahrgenommen. Sind Jugendliche erst einmal über längere Zeit in eine rechtsextreme Struktur eingebunden, bleiben sie relativ immun gegen Beeinflussung von außen. Einige PädagogInnen in besonders betroffenen Regionen Vorpommerns sprechen von den heutigen Jugendlichen als der verlorenen Generation und äußern ihre Sorge um die Jüngeren, die heute 10-14-Jährigen, für die es wenig alternative Orientierungsmöglichkeiten gibt.

"Der Rechtsextremismus verfügt über ein zivilgesellschaftliches Konzept. Mit der Besetzung des vorpolitischen Raumes, mit der Schaffung von Gegenöffentlichkeit und der Einnahme national befreiter Zonen bedient er sich in Ostdeutschland einer gesellschaftspolitischen Strategie zur Durchsetzung seiner Interessen. Im Gegensatz zu den Akteuren im demokratischen Parteiensystem setzt der Rechtsextremismus in der unmittelbaren Lebenswelt der Bevölkerung an und zielt auf eine langfristige und breite Wirkung." (1) Dieses "zivilgesellschaftliche Konzept" basiert auf einer Strategie, die auf die Durchsetzung einer kulturellen Hegemonie in bestimmten sozialen Räumen setzt und von Vordenkern der Neuen Rechten in Anlehnung an Antonio Gramsci entwickelt wurde. Organisierte Neonazis versuchen auf diese Weise, die sozialen Problemlagen in den neuen Bundesländern in ihrem Sinne zu politisieren, so dass rechtsextreme Deutungsmuster mehr und mehr Eingang finden in das Alltagsbewusstsein der Bevölkerung.

Schon Anfang der 90er hatten Neonazi-Kader in mehreren Strategie-Papieren das Konzept "Schafft befreite Zonen" und das Organisierungsmodell der "Kameradschaften" vorgestellt. Die strategischen Überlegungen der Neonazis stammen zum Teil noch aus dem Umfeld von Michael Kühnen, wurden aber auch in "Nazi-Think-Tanks" wie dem Nationaldemokratischen Hochschulbund oder Zeitschriften wie "Nation Europa" entwickelt.

Nicht erst seit der Diskussion um das NPD-Verbot suchen Neonazis also nach Organisierungsmodellen, die nicht so leicht zu kriminalisieren sind. "Kameradschaften" funktionieren anders als Parteien und Organisationen eher wie Cliquen. Der Zusammenhalt wird über sozialen Kitt hergestellt: gemeinsame Freizeitgestaltung, Abhängen an der gleichen Bushaltestelle, Konzertbesuche, aber auch die Fahrt zu Nazi-Aufmärschen und Besuche von "Kameradschaftsabenden". Diese Organisationsform hat zwei Vorteile: Sie ist von Seiten des Staates wesentlich schwerer zu sanktionieren als Parteien und Vereine. Freundeskreise kann man nicht verbieten. Außerdem ist das Kameradschaftsmodell für Jugendliche wesentlich attraktiver als eine Partei. Gemeinsam losziehen und "was erleben" erleichtert den Einstieg - und endet nicht selten in Gewaltaktionen gegen sogenannte Feinde. Das verbotene Nazi-Musik-Netz "Blood & Honour" organisierte in Mecklenburg-Vorpommern über lange Jahre erfolgreich Konzerte. Rechtsrock ist das Einstiegsmedium für viele Jugendliche in die Nazi-Szene. LehrerInnen berichten, dass es an vielen Schulen völlig normal und "in" ist, indizierte CDs zu hören.

Rechter Rand in der Mitte

In Mecklenburg-Vorpommern gibt es ungefähr 50 Kameradschaften. Davon spielen etwa 15 eine aktivere politische Rolle innerhalb der Nazi-Organisierung. Diese verfügen über gute überregionale Kontakte, eigene Internetseiten und Fanzines und sind bei den bundesweiten Aufmärschen der Neonazis präsent. Viele der 50 bekannten Kameradschaften sind lockere Zusammenschlüsse von rechtsextremen Jugendlichen, die in ihrer Region einen bestimmten Einfluss haben, ansonsten aber wenig in Erscheinung treten. Eigentlich bedrohlich ist dabei vor allem die Wirkung auf die restliche Jugendkultur. Da alternative Angebote oft praktisch gar nicht vorhanden sind, steigt die Attraktivität rechter Cliquen besonders in ländlichen Regionen. Dieses Potenzial wissen auch Nazi-Kader aus dem Westen zu nutzen. Ludwigslust etwa ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus einer rechten Sauf- und Schläger-Naziszene eine gut organisierte Kameradschaft wurde, nachdem der Neonazi Klaus Bärthel dorthin gezogen war und begann, Jugendliche auf Kameradschaftsabenden zu schulen.

"National befreite Zonen" - auch hinter dem Unwort des Jahres 2000 stehen Konzepte von Neonazistrategen zur Erlangung der kulturellen Hegemonie in bestimmten Regionen. Die Jungen Nationaldemokraten formulieren es so: "Wir müssen Freiräume schaffen, in denen wir faktisch die Macht ausüben, in denen wir sanktionsfähig sind, d.h. wir bestrafen Abweichler und Feinde, wir unterstützen Kampfgefährten, wir helfen unterdrückten, ausgegrenzten und verfolgten Mitbürgern. (...) man muss so handeln, dass man in einem Meer der Sympathie schwimmt, dass die normalen Bewohner für uns ,die Hand ins Feuer legen`. Dann wird dem Staat jede Form der Unterdrückung nicht nur nichts nutzen, sondern das genaue Gegenteil bewirken: Die Menschen werden noch stärker in unsere Arme getrieben. (...) ist auf diese Weise einmal ein Straßenzug - es kann natürlich auch ein kleines Dorf sein - zur befreiten Zone geworden, haben wir also konkrete Gegenmacht erobert." (2)

Noch steckt die Vision von "national befreiten Zonen" eher ein zu erreichendes Ziel ab, als dass sie in der Realität tatsächlich umgesetzt ist. Aber es gibt in Mecklenburg-Vorpommern durchaus Regionen, die "No-go-Areas" sind für diejenigen, die die Nazis als ihre "Feinde" bezeichnen. Nochmal Beispiel Ludwigslust: Hier berichten linke und alternative Jugendliche, dass sie sich abends kaum auf die Straßen und öffentlichen Plätze trauen. Die Gefahr, bedroht oder verprügelt zu werden, ist einfach zu groß. MigrantInnen, AsylbewerberInnen, erkennbar nicht-rechte Jugendliche und alle anderen, die nicht ins rechte Weltbild passen, gehen ein Risiko ein, wenn sie sich zu bestimmten Zeiten ganz normal im öffentlichen Raum bewegen. Denn Einschüchterung und offensive Besetzung von Räumen, vom Jugendtreff über Kiosk, Disko bis hin zu bestimmten Wohngebieten, sind die wirkungsvollen Strategien rechtsextremer Gruppen und Kameradschaften. Typische NPD-Aktivitäten in Mecklenburg-Vorpommern sind demgegenüber die Arbeit mit SchülerInneninitiativen und Infoständen, Unterschriftenlisten oder auch die Teilnahme an Bündnissen "gegen Rechts", wo man sich bemüht, als normale BürgerInnen mit einer "nationalen Gesinnung" wahrgenommen zu werden. Innerhalb der rechtsextremen Arbeitsteilung ist die Partei eher für die scheindemokratische Öffentlichkeitsarbeit zuständig, während die Kameradschaften dieselben Inhalte gewaltsam auf der Straße, auf Konzerten und auf Schulungen propagieren.

Daneben wird versucht, eigene wirtschaftliche und propagandistische Strukturen aufzubauen. Es gibt in Mecklenburg-Vorpommern mehrere Läden, in denen alles Equipment gekauft werden kann, was man als Rechtsextremer so braucht: die entsprechende Kleidung, Musik und Bücher etc. Auch in diesem Zusammenhang ist der Zuzug von Neonazis aus dem Westen wichtig. So kauften beispielsweise der Hamburger Neonazi Thomas Wulff und der Lüneburger Michael Grewe das sogenannte Herrenhaus in Amholz, das als Schulungszentrum ausgebaut werden soll. Der bekannte Neonazi-Kader Christian Worch begründet den Zuzug von Westnazis nach Mecklenburg-Vorpommern so: "Einerseits sind Grund und Boden billiger, andererseits haben sie in der Bevölkerung eine positivere Grundstimmung in unserem Sinne." (3)

Die hier skizzierten Strategien werden von den Rechtsextremen natürlich nicht bruchlos in die Realität umgesetzt. Und die weite Verbreitung rechtsextremer Einstellungen ist bekanntlich nicht allein auf die politische Arbeit organisierter Neonazis zurückzuführen. Die Politik der "Neuen Mitte" - von Schröder über Schily und, nicht zu vergessen, Herrn Schill (der nach Umfragen übrigens schon jetzt 20 Prozent der Stimmen in Mecklenburg-Vorpommern bekommen würde) - tut ihren Teil dazu. Das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern zeigt aber, dass hinter rechtsextremer Jugendgewalt politische Konzepte stecken. Sie ist eben nicht das Werk alkoholisierter Dumpfbacken, wie man es in der Mitte der Gesellschaft immer wieder gern behauptet. Und die Konzepte sind bedrohlich effektiv.

Mareike Jörns

Anmerkungen:

1) Lorenz Korgel, Zivilgesellschaft und Rechtsextremismus, in: Bulletin Schriftenreihe des Zentrums für demokratische Kultur, Berlin 1/2000

2) Nationaldemokratischer Hochschulbund: Schafft befreite Zonen, in: Vorderste Front Nr.1 o.J.

3) Sendung am 29.5.2001

www.zdf.de/wissenfrontal21