Macht statt Recht?
Milosevic - Präzedenzfall für eine Internationale Strafjustiz
Seit seiner demütigenden Verhaftung und Überstellung in das Gefängnis Scheveningen im Sommer vergangenen Jahres protestiert Slobodan Milosevic gegen seine nach jugoslawischen Gesetzen unrechtmäßige Auslieferung. Dem Internationalen Straftribunal für das frühere Jugoslawien (ICTY) im niederländischen Den Haag spricht er jede Legitimität ab. Aber alle Proteste haben nichts geholfen. Am 12. Februar beginnt der erste Prozess gegen Slobodan Milosevic. Zunächst steht der entmachtete ehemalige jugoslawische Präsident wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen während des Kosovo-Krieges 1999 vor Gericht. Ein zweiter Prozess wegen der Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegovina wird anschließend folgen. Bis beide Prozesse abgeschlossen sind, werden vermutlich mindestens zwei Jahre vergehen.
Die Bedeutung der Prozesse gegen Milosevic geht weit über die Frage nach seiner persönlichen Verantwortung für Verbrechen während der Kriege in Jugoslawien hinaus. Mit den Prozessen wird - das kann ganz unpathetisch behauptet werden - Geschichte geschrieben. Denn mit Milosevic steht zum ersten Mal ein ehemaliger Regierungschef vor einem internationalen Straftribunal der Vereinten Nationen. Seine Verurteilung wäre ein entscheidender Präzedenzfall auf dem Weg zu einer internationalen Strafjustiz, die nach der Einrichtung der Tribunale von Nürnberg und Tokio 1945/46 fast fünfzig Jahre lang durch den Kalten Krieg blockiert war und nun nach der Konstituierung der beiden Ad-hoc Tribunale zu Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) in die Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) münden soll. Dieser soll in Zukunft sicherstellen, dass "kein Machthaber, kein Staat, keine Junta und keine Armee irgendwo die Menschenrechte straflos verletzen kann", wie UN-Generalsekretär Kofi Annan im Juli 1998 verkündete, als bei einer UN-Konferenz in Rom das IStGH-Statut beschlossen wurde.
Doch an den Versprechungen des UN-Generalsekretärs sind erhebliche Zweifel angebracht. Nicht nur, weil angesichts der Unzahl von staatlichen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen weltweit kein denkbares Gericht die Kapazitäten hätte, alle amtierenden PolitikerInnen und Militärs zu verurteilen, die dies verdient hätten. Sondern auch, weil zumindest die bisherige Arbeit des Jugoslawien-Tribunals zeigt, dass es eher als ein Instrument von Machtpolitik dient denn als eine Institution, die tatsächlich Recht und Gerechtigkeit herstellen könnte.
Mit den Prozessen gegen Milosevic wird zuallererst eine politische Hauptverantwortung für die kriegerische Zerstörung Jugoslawiens während der 90er Jahre kodifiziert werden. Die in der westlichen Öffentlichkeit hegemoniale Interpretation des Staatszerfalls Jugoslawiens als ein von einem personifizierten, und nicht selten pathologisierten, "Bösen" aus Belgrad ausgehender Prozess wird noch einmal festgeschrieben werden. Die im Mediendiskurs und der Geschichtskonstruktion - gerade in Deutschland - wirkungsmächtigen Bilder, welche "Slawentum" und "Kommunismus" mit menschenverachtender Brutalität verbinden, werden abgerufen.
Zwar sind vor dem Tribunal nicht nur Militärs aus Serbien/Jugoslawien, sondern auch aus Kroatien und Bosnien angeklagt. Aber mit Milosevic steht bisher der erste und einzige führende Politiker vor dem Tribunal. Und das wird wohl auch so bleiben. Der während der Kriege amtierende kroatische Regierungschef, Franjo Tudjman, ist bereits verstorben. Und gegen Alija Izetbegovic, den damaligen bosnischen Regierungschef, wird von Den Haag nicht ermittelt. Nur gegen die ehemalige politische Führung der bosnischen Serbenrepublik geht Den Haag - folgerichtig in der Zielrichtung - ebenfalls vor.
Damit werden die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe der Kriege verdreht. Sicher hat Milosevics nationalistische Politik den Zerfall Jugoslawiens beschleunigt. Aber mit dem Vorgehen des Tribunals wird die Verantwortung der sezessionistisch-nationalistischen Kräfte vor allem in Kroatien und Kosovo weitgehend negiert und die im Fall Kosovo kriegsverschärfende - wenn nicht sogar kriegserzeugende - Interventionspolitik des Westens komplett ausgeklammert. Zu den dokumentierten offensichtlichen Kriegsverbrechen der NATO während des Kosovo-Krieges 1999 eröffnet die Chefanklägerin in Den Haag, Clara del Ponte, noch nicht einmal ein Ermittlungsverfahren. Gegen die politische und militärische Führung der Terrortruppe UCK geht das Tribunal bisher ebenfalls nicht vor. Allenfalls mögliche Ermittlungen hat Del Ponte angekündigt, allerdings zu einem Zeitpunkt, als es der "internationalen Gemeinschaft" während der Mazedonienkrise im vergangenen Jahr darum ging, einer außer Rand und Band geratenen UCK ihre Grenzen aufzuzeigen.
Gerade die Kosovo-Anklage gegen Milosevic, die nun zuerst verhandelt werden soll, macht den Charakter des Tribunals deutlich. Zusammen mit Milan Milutinovic (noch amtierender serbischer Präsident), Nikola Sainovic (ehemaliger Vize-Premier Jugoslawiens), Dragoljub Ojdanic (Ex-Generalstabschef der Jugoslawischen Armee) und Vlajko Stojiljkovic (ehemaliger Innenminister Serbiens) soll Milosevic das Projekt verfolgt haben, "einen erheblichen Teil der kosovo-albanischen Bevölkerung aus dem Territorium der Provinz Kosovo zu vertreiben, um eine fortgesetzte serbische Kontrolle über die Provinz zu ermöglichen". (1) Dabei sei es zu gravierenden Verletzungen des Kriegsrechtes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen.
Unzweifelhaft ist, dass während des Kosovo-Krieges Kriegsverbrechen stattgefunden haben. Aber an der für die Anklage zentralen These, die serbisch/jugoslawische Führung habe in der Kosovo-Krise eine gezielte Vertreibung der kosovo-albanischen Zivilbevölkerung betrieben, sind Zweifel angebracht. Schließlich hat die Massenflucht aus dem Kosovo erst nach dem Beginn der NATO-Luftschläge begonnen, was selbst in der Anklageschrift festgehalten wird. Perfide ist die Anklage aber aus einem anderen Grund. Schaut man sich die derzeitige Situation im Kosovo an, muss konstatiert werden, dass die Provinz tatsächlich "ethnisch gesäubert" ist. Nach dem Einmarsch der NATO-geführten KFOR-Truppe und der UCK wurden systematisch Angehörige aller nicht-albanischen Bevölkerungsgruppen vertrieben. Mindestens 200.000 SerbInnen und 100.000 Roma sowie mehrere tausend slawische Muslime mussten vor dem Ethnoterror, den die UCK ausübt, fliehen. Hunderte wurden ermordet. Bis heute ist die Rückkehr der Flüchtlinge weitgehend ausgeschlossen, weil die gewalttätigen Übergriffe, Bombenattentate und Morde von Seiten albanischer Nationalisten ungebrochen anhalten, wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in einem jüngsten Bericht feststellt. Im Kosovo geschieht unter den Augen der KFOR-Truppen und der UN-Übergangsverwaltung genau das, was der serbisch-jugoslawischen Führung vorgeworfen wird, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Das ICTY - genauso wie die Öffentlichkeit der 1999 gegen Jugoslawien Krieg führenden Staaten - kümmert dies allerdings anscheinend nicht.
Interessant ist nicht nur, was in der Kosovo-Anklageschrift steht, sondern auch, was fehlt. Die Chefanklägerin verzichtet nämlich - im Gegensatz zur Bosnien-Anklage - auf den Vorwurf, Milosevic habe im Kosovo einen "Völkermord" geplant und durchgeführt. Dieses im Völkerrecht gravierendste Verbrechen wird in den Statuten des ICTY definiert als "Akte, die mit der Absicht begangen werden, ganz oder teilweise, eine nationale, ethnische, rassische (racial) oder religiöse Gruppe zu zerstören". (2) Gerade dies wurde der serbisch-jugoslawischen Führung von der NATO und den westlichen Medien aber während des Kosovo-Krieges vorgehalten und diente als zentrale Legitimation für einen Angriffskrieg, der sich über geltendes Völkerrecht hinwegsetzte. Hunderttausende Menschen würden von den serbisch-jugoslawischen Truppen ermordet, lauteten die Vorwürfe. Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping behauptete die Existenz von Konzentrationslagern in Pristina und Bundesaußenminister Josef Fischer brachte das angebliche Vorgehen der serbisch-jugoslawischen Truppen gar mit Auschwitz in Verbindung. In der Anklageschrift ist nun lediglich die Rede davon, dass "Hunderte kosovo-albanische Zivilisten" von den serbisch-jugoslawischen Truppen umgebracht worden seien. (3)
Wenn Krieg als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln zu begreifen ist, wie der preußische Militärtheoretiker von Clausewitz meinte, gilt dies auch für die Art der Justiz, wie sie die Arbeit des ICTY verkörpert. Besonders gravierend ist dies nicht zuletzt für die tatsächlichen Opfer der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Ihr Leiden wird durch das Vorgehen des ICTY entweder instrumentalisiert oder geleugnet. Statt Gerechtigkeit wird so weiteres Unrecht geschaffen und in die Zukunft fortgeschrieben.
Ist mit dem ICTY also das Projekt einer unabhängigen internationalen Strafgerichtsbarkeit insgesamt gescheitert? Unzweifelhaft ist eines: In einer Weltgesellschaft, die von so eklatanten wirtschaftlichen, politischen und militärischen Ungleichgewichten und dermaßen gewaltförmigen Herrschaftsmechanismen strukturiert wird, wie dies am Anfang des 21. Jahrhunderts der Fall ist, kann es keine Gerechtigkeit geben, die durch welches Gericht auch immer hergestellt wird.
Dennoch ist zu differenzieren. Den geplanten IStGH, der auf dem Rom-Statut von 1998 aufbaut, unterscheidet Wesentliches vom Ad-hoc-Tribunal zu Jugoslawien. Im Gegensatz zum ICTY, der durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates geschaffen wurde, wird der IStGH durch einen Vertrag hergestellt, den 139 Staaten unterzeichnet haben. Im Gegensatz zu den beiden Ad-hoc-Tribunalen, die lediglich für einen spezifischen Konflikt verantwortlich sind, wäre der IStGH eine permanente Institution. Nach dem Prinzip der Komplementarität würde er nationale Gerichte nicht ersetzen. Er würde nur dann aktiv, wenn die nationale Gerichtsbarkeit von Staaten nicht willens oder in der Lage ist, Verbrechen wie Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden, die von BürgerInnen dieser Staaten begangen werden. Der Gerichtshof selbst würde bestimmen, wann diese Umstände gegeben sind. Eingeleitet würden Verfahren entweder auf Grund einer Staatenbeschwerde, einer Initiative des UN-Sicherheitsrates oder des Anklägers des IStGH.
Damit ist zumindest die Möglichkeit gegeben, dass Verfahren auch gegen die politischen und militärischen Führungen der weltweiten Hegemonialmächte eingeleitet werden könnten. Menschenrechtsorganisationen und kritische JuristInnen begründen so ihre teilweise enthusiastische Unterstützung für den IStGH. Völlig unklar bleibt allerdings, wie ein zukünftiges Weltgericht Haftbefehle gegen den Widerstand von Hegemonialmächten durchsetzen könnte. Schließlich gibt es keine unabhängige Weltpolizei, die als Exekutive zur Verfügung stünde.
Der IStGH trifft vor allem auf den vehementen Widerstand der USA, die wohl nicht zu Unrecht eine Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen fürchten. "Only over my dead body", kommentierte der einflussreiche republikanische Senator Jesse Helms. Im Juli 1998, als 120 Staaten das Rom-Statut unterzeichneten, stimmten die USA zusammen mit nur sieben anderen Ländern dagegen. Erst am Sylvesterabend 2000, nur wenige Stunden bevor die Beitrittsfrist endgültig ablief, traten die USA doch noch bei. Nicht etwa, weil sie ihre ablehnende Position prinzipiell verändert hätten, sondern um weiter Einfluss auf die mittlerweile wohl unvermeidbare Konstitution des IStGH nehmen zu können. Immerhin haben bereits 46 Staaten das Statut ratifiziert, 60 sind notwendig, damit der IStGH die Arbeit aufnimmt. Das ist noch für dieses Jahr zu erwarten. Die deutsche Bundesregierung unterstützt den IStGH. Wer über die militärischen Möglichkeiten zur Weltpolitik noch nicht verfügt, möchte wenigstens auf diplomatischer Ebene mitspielen.
Boris Kanzleiter
Anmerkungen:
1) ITCY: Milosevic et al. Case (IT-99-37-I). Second amended indictment, 16.10.2001.
www.un.org/icty/
(eigene Übersetzung)
2) Statute of the International Tribunal, Artikel 4 "Genocide", Ziffer 2.
www.un.org/icty/basic/statut/stat2000.htm#4
(eigene Übersetzung)
3) ITCY: Milosevic et al. Case (IT-99-37-I). Second amended indictment, 16.10.2001.
www.un.org/icty/
(eigene Übersetzung)